IASLonline

NetArt: Links (Chronologie)

Thomas Dreher


in English

in alphabetischer Reihenfolge

Plattformen für NetArt:

  • Looped:
    25 dänische Künstler präsentieren seit 16. Oktober 1998 Loops mit wenigen und kurzen Sequenzen (Video, Animation, Text, Ton). Die Loops werden laufend ausgetauscht. Die Plattform, die jemand (Mette Sandbye für "Artnode") machen musste! (3/2003; 10/2009: nicht mehr im Netz)
  • The 5k:
    Der Web Designer Stewart Butterfield installierte im Herbst 1999 "the 5K" (5120 bytes) als Plattform für Einsendungen von Beiträgen aller Art für einen Wettbewerb. Die Einsendungen sollen nicht mehr als 5k Daten betragen und dürfen nicht Server-seitige Generierung einsetzen. Die Jury des seit 2000 jährlich neu ausgetragenen Wettbewerbes wertet "function", "aesthetics", "concept" und "size score"/"entries overall". Das Preisgeld ist mit 5120 US Cents ein symbolischer Betrag: Cent=Bytes. Die archivierten Beiträge konnten auch von UserInnen bewertet und kommentiert werden. Die Plattform "is entirely non-commercial and does not accept sponsorship or advertising" (3/2003; 6/2006: nur noch eine Platzhalter-Homepage ohne Archiv gefunden; 1/2020 nicht mehr im Netz).
  • Singlecell und Doublecell:
    "Doublecell" (2.12.2002) ist die zweite, konzeptuell modifizierte Ausgabe von "Singlecell" (2001): Die beiden Plattformen von Golan Levin stellen Projekte mit Director, Flash und eigener Software (in C++, Java, Lingo und ActionScript) vor. In "Singlecell" sind fast alle Projekte nicht mehrschichtig (ohne Links zu mehreren Seiten) und die Werkfläche sind meist nicht in Frames aufgeteilt: Die beim Öffnen der verschiedenen Beiträge erscheinende Oberfläche bleibt die Grundlage aller abrufbaren Funktionen. Präsentiert werden reaktive Animationen oder Movies, mit und ohne Ton, in "Singlecell" aus amorphen und teils anthropomorphen Formen. Hervorragendes Computational Design von Ed Burton, Danny Brown, Peter Cho, Joshua Davis, Juha Huuskonen, Golan Levin, Lia, Casey Reas, Jared Schiffman, Manny Tan, James Tindall, Martin Wattenberg und anderen (3/2003).
  • Carnivore:
    "Carnivore" wurde am 1.Oktober 2001 von RSG (Radical Software Group) auf der Website von Rhizome als Plattform installiert. Die Plattform enthält Beiträge von Cory Arcangel, Area3, Jonah Brucker-Cohen, Vuk Cosic, Mark Daggett, Joshua Davis, Entropy8EntropyZuper!, Lisa Jevbratt, Golan Levin, Mark Napier, RSG, Scott Sona Snibbe und anderen. Diese "client applications" (Java Applets und Flash-Movies) sind Visualisierungen von (transformierten Teilen der) mit einem Programm von RSG in einem lokalen Netzwerk gesammelten Daten ("packet-sniffing"). Das von Ethernet angeregte Programm "CarnivorePE" (für Windows seit 6.4.2002) wird als Open Source Software zum Download angeboten. So könnten auch Angestellte ihre Vorgesetzten kontrollieren, doch: Die Verarbeitung des Datenverkehrs in einem lokalen Netzwerk orientiert sich in den Beiträgen für "Carnivore" primär an ästhetischen Kriterien, weniger an Dechiffrierbarkeit.
    RSG greift mit "CarnivorePE" den Namen des FBI-Programms "Carnivore" (Bezeichnung für DCS1000) zur Überwachung des internationalen Netzverkehrs (mittels Stichworten) auf. Dies führte bei der Jury des Prix Ars Electronica 2002 (Abteilung "Net Vision", Preis: Goldene Nica) zur Behauptung, "Carnivore PE" sei "based on the FBI's software for monitoring network traffic", was die Jury des Read-Me Festival 1.2 zu einer Gegendarstellung provozierte: "The relationship of Rhizome´s Carnivore to the FBI´s spying tool of the same name seems to be a matter of concept and hipness-value, but it is not very obvious (3/2003. Im Mai 2015 führte die URL-Adresse der Plattform nur noch zum Source Code von Carnivore; 1/2020: "Version 8" mit "Processing Library").
  • Soundtoys:
    Die von Steve Tanza Oktober 2001 gegründete Website stellt audiovisuelle Projekte vor. UserInnen können die Visualisierung oder/und die Klänge durch Cursorbewegungen und/oder Klicks und/oder Eingaben beeinflussen. Neben Spielen (z. B. Steve Tanza, Peter Luining) werden digitale Klanginstrumente (z. B. Ixi/Thor Magnusson und Enrike Hurtado, Chris Yewell) und nicht reaktive Arbeiten (z. B. Tina LaPorta) vorgestellt. Tanza wandte die audiovisuellen Möglichkeiten der Spielzeuge in einem Index an, der die Projekte als verschiebbare Häuser auf einer Karte vorführt und die Cursorbewegung über die Häuser mit Tonbegleitung ausstattet. Dieser Index verschwand mit dem Re-Design der Site Februar 2006. Er wurde unter anderem durch einen Tag Navigator von Neil Jenkins (5/2013: nicht gefunden) und einen Content Navigator von Adam Hoyle und Julian Baker ersetzt. Stanza hat seinen Index in Inner City (5/2013: nicht gefunden) wieder verwendet, jetzt mit Links zu eigenen Werken.
    Das Journal enthält Beiträge über die Geschichte und das Theorie-Umfeld der Soundtoys. Alle KünstlerInnen werden in Interviews vorgestellt, inklusive KünstlerInnen wie Amy Alexander, Jim Andrews, Corby & Baily, Golan Levin oder Adrian Ward, zu deren Arbeiten auf anderen Sites Links führen. Da Konnektivität bei diesen geschlossenen audiovisuellen Systemen keine Rolle spielt, wird in den Interviews die Frage des besseren Mediums zur Verbreitung – CD-ROM oder Internet – thematisiert (3/2003, 6/2006, 5/2013, 5/2015).
  • Kingdom of Piracy <KOP>:
    KOP thematisiert Copyleft/Copyright Probleme, wie sie in Konflikten zwischen VertreterInnen des Netzideals der unbegrenzten Connectivity inklusive freiem Download und den Copyright-Ansprüchen (Downloadsperren gegen Privatkopie etc.) der Software- und Unterhaltungsindustrie ausgetragen werden. Letztere gefährden mit ihren Regulierungsansprüchen die Netzarchitektur: "Data Lords" contra "Digital Commons" (Curatorial Statement). Die drei Writing Projects 2002 verdeutlichen den Ernst der Probleme.
    Zunächst wurde KOP von der ACER Group in Taiwan unterstützt. Im April 2002 änderte sich die Führung von ACER und die taiwanesische Regierung startete eine Anti-Piracy Campagne. Die taiwanesische Pilot-Site (ab Dezember 2001) wurde Mitte Juni 2002 aufgegeben, nachdem die Führung des Acer Digital Arts Center die Kontrolle der Links und eine Änderung des Titels der Plattform forderte. Die Kuratoren Shu Lea Cheang, Armin Medosch und Yukiko Shikata gaben nicht nach. Sie fanden 2002 im Ars Electronica Center einen neuen Server für KOP (nicht mehr im Netz). FACT in Liverpool richtete Februar 2003 eine erweiterte Site ein. Projekte von BEIGE, Shu Lea Cheang, Eastwood, Espenschied/Freude/Milles, Olia Lialina, Graham Harwood/Mongrel, Uebermorgen, Raqs Media Collective, RSG, www.0100101110101101.ORG und anderen verfolgen die Ziele des Projektes mit unterschiedlichen Strategien (3/2003).
    Das Projekt "DIVE" (2003) konzentriert sich auf die konzeptuelle, Software- und prozessorientierte Seite von Netzprojekten. DIVE ist im Netz abrufbar und wurde von FACT auf CD-ROM (mit Buch, Medosch, Armin (Hg.): DIVE. An Introduction into the World of Free Software and Copyleft Culture. FACT, Liverpool/Virtualcentre-Media.net 2003, ISBN 0-9541604-9-5) publiziert. Der Server der Site (für Download) wie die CD-ROM enthalten eine Reihe von Netzprojekten in der "Art"-Rubrik, darunter Browser wie I/O/Ds Webstalker und Nullpointers "Webtracer" oder epidemiCs "Antimafia" für die aktivistische Verwendung von Peer-to-Peer, The Yes Mens Reamweaver für die Erstellung modifizierter Spiegelsites, Double Negatives´ "plaNet Former" u. a. Andere Seiten geben über Copyleft-Lizenzen und Freie Netzwerke Einführungen (mit Links). Texte von Armin Medosch (s.u.), Janko Röttgers, RAQs Media Collective (s.u.), Saul Albert und Lawrence Chua vertiefen die Zusammenhänge, die "Kingdom of Piracy" untersucht. Mit DIVE ist "Kingdom of Piracy" zur umfangreichsten und konzeptuell prägnantesten Plattform für Zusammenhänge zwischen Free Software, Netzaktivismus und NetArt geworden (2/2004; 1/2020: Nur noch die Version des Dutch Electronic Festivals von 2003 (DEAF 03) ist im Web abrufbar).
  • whitneybiennial.com:
    Peter Lunenfeld und Milton Manetas kamen in einem Gespräch auf die Idee, zu prüfen, ob das Whitney Museum of American Art alle URL-Adressen besitzt, die mit der Whitney Biennale in Verbindung gebracht werden können. Da die URL-Adresse www.whitneybiennial.com frei war, konnte die Idee einer Plattform als Erweiterung der (und Alternative zur) Whitney Biennial 2002 mit einem Domain-Namen konkretisiert werden, die die Absicht erkennen lässt und für Hits sorgt.
    Michael Rees schuf mit Turntable ein Tool als Flash Application, für die 12 KünstlerInnen bis zu sechs Flash Movies aus anderen Animationen remixt haben. Die Animationen können in "Turntable" mehrfach abgerufen, modifiziert und verschieden plaziert werden. Manovich hat in Generation Flash 1/3 (s.u.) die Charakteristika von "Turntable" mit den Stichworten "Loop" und "Sample" beschrieben und diese als Teil einer "remix culture" vorgestellt. Außerdem enthält die Erstfassung der Plattform ein bis fünf Flash-Animationen von 122 KünstlerInnen.
    Zur Eröffnung der Whitney Biennial am 7.3.2002 sollten 23 Sattelschlepper mit Monitoren für die Präsentation der Plattform vor dem Whitney Museum of American Art vorfahren. Matthew Mirapaul kündigte diese Alternativveranstaltung zur Eröffnungsgala am 4.3.2002 in der New York Times an. Die Wartenden fanden keine Sattelschlepper, sondern wurden von Whitneybiennial.com zu einer Party in Chelsea geladen.
    Die Plattform ist nach der Whitney Biennial 2002 um eine zweite Netzpräsentation erweitert worden, die in einer simulierten Ausstellung über Hotspots hinter Bildern 22 Animationen und Spiele öffnet. Der Projektcharakter der Plattform und ihre Offenheit für neue Initiativen wird gegen das zeitlich begrenzte Kunstereignis der Biennale-Ausstellung ausgespielt (2/2004).
    Parallel zur Whitney Biennial 2004 hat Mai Ueda eine Linkliste aus 42 Thumbnails mit Screenshots (mit Links zu großen Screenshots, auf denen die URL-Adressen der Homepages von Netzprojekten erkennbar sind) als Werkauswahl im Sinne einer Gruppenausstellung erstellt. Im Vergleich zu der Plattform, die das auf der Whitney Biennial von 2002 Fehlende enthält, ist die Linkliste von 2004 jedoch dürftig, da sie nicht mehr als ein Netz-Feature mit Bildinformationen über eine Gruppe von Netzprojekten ist (3/2004).
  • CODeDOC :
    Die Online-Galerie Artport des Whitney Museum of American Art in New York stellt in "CODeDOC" (seit September 2002, kuratiert von Christiane Paul) kleinere Arbeiten vor. Paul bestimmte, dass die Arbeiten Bewegungen zwischen drei Raumpunkten herstellen und 8 kb nicht überschreiten sollen. HTML und FlashScript entfielen, um die Zahl der KünstlerInnen zu begrenzen. Die Website führt UserInnen zuerst zum Quellcode (C++, Java, Lingo, Perl, Visual Basic) eines Beitrags, dann zur Browserpräsentation. Außerdem kommentierten die beteiligten amerikanischen KünstlerInnen (Sawad Brooks, Mary Flanagan, Alex Galloway, John Klima, Golan Levin, Kevin McCoy, Mark Napier, Brad Paley, Scott Snibbe, Camille Utterback, Martin Wattenberg und Maciej Wisniewski) die Beiträge ihrer KollegInnen (3/2003).
    Für die Ars Electronica 2003 in Linz (Ars Electronica Center und Brucknerhaus, September 2003) organisierte Christiane Paul mit CODeDOC II eine Plattform für europäische KünstlerInnen (Ed Burton, epidemiC, Graham Harwood, Jaromil, Annja Krautgasser & Rainer Mandl, Jean Leandre, Antoine Schmitt und John F. Simon jr.) (2/2004).
  • Banner Art Collective:
    Die Website "Banner Art Collective" wurde von Brandon Barr (Konzept) und Garrett Lynch (Design) im Oktober 2002 eingerichtet. Ihr Archiv enthält über hundert Banner. Rein graphische Banner und solche mit witzigen und/oder aktivistischen Botschaften werden zur Integration in Webseiten angeboten. Die Banner stammen von teilweise bekannten KünstlerInnen (z. B. Agricola de Cologne, Gerhard Mantz, Millie Niss, Jim Punk) und StudentInnen. HTML-Befehle zur Integration in Webseiten werden mitgeliefert. Künstler, die Banner einbringen wollen, werden auf die Interactive Advertising Standards des Interactive Advertising Bureaus verwiesen. Ein Banner Art Collective's Artist Kit erleichtert die Arbeit mit diesen Standards (3/2003. 9/2011: URL-Adresse existiert nicht mehr, siehe die Kopie der Site im Internet Archive, welche die Dateien der Banner nicht enthält).
  • Illegal Art:
    Die Wanderausstellung "Illegal Art: Freedom and Expression in the Corporate Age" (Kuratorin: Carrie McLaren) präsentierte von November 2002 bis 2004 zahlreiche Beispiele für Formen der Wiederverwendung von urheberrechtlich geschütztem Bild- oder Tonmaterial. Für Rechtsschutz sorgte (unter anderen) Chilling Effects Clearinghouse, eine Vereinigung, in der die Electronic Frontier Foundation und die juristischen Fakultäten von fünf amerikanischen Universitäten zusammenarbeiten.
    Die Website der Ausstellung stellt Filmausschnitte, Animationen, Musik und Ausstellungsobjekte – zum Teil mit ihrer Rechtsgeschichte – vor: Einige Prozesse waren während der Ausstellung noch nicht abgeschlossen (3/2003).
    2004 wurden auf der Homepage der ehemaligen Wanderausstellung aktuelle Fälle gemeldet, so zum Beispiel "The Grey Album" von DJ Danger Mouse und eine neue Hörspur zu "Harry Potter and the Sorcerer´s Stone" von Brad Neely (mit Links und Downloads, 6/2004).
    (s. Kapitel (Il)legal Art in Von Radical Software zum Netzaktivismus) (2/2004; 5/2013: Filme archiviert in Internet Archive)
  • The Wartime Project:
    Andrew Forbes reagierte im November 2002 auf die Szenarien eines amerikanischen Angriffs auf den Irak und initiierte "The Wartime Project". Er rief Netzkünstler zu Beiträgen auf, "um an das Grauen und an die Zerstörungskraft eines Krieges zu erinnern." Die Website enthielt 133 Projekte (Dezember 2002 bis Februar 2004). Ein Großteil der Projekte verwendeten Spiel- oder Animationssoftware. Die Werke illustrierten die Kriegswelt Bushs `überaffirmativ´ (z. B. lokiss) oder parodierten sie (entropy8zuper!, Evgenij Vasilev). Andere Beiträge fielen in den kritischen Bereich `Ästhetisierung der Politik´ (microbo und bo130). Die Bewegung der Kriegsgegner wurde in einigen Projekten vorgestellt, um zu weiteren Aktionen zu motivieren (Ruth Catlow). Einige Künstler nutzten die Möglichkeit, ihre Werke auf dem Server des "Wartime Project" zu deponieren, andere setzten Links zu kriegskritischen Projekten auf ihren Sites. Das Projekt war ein wichtiger Teil des Anti-War Web Rings (3/2003, 8/2003, 2/2004, 10/2009: Site "zur Zeit" nicht erreichbar, 5/2015: Server nicht auffindbar, 9/2022: wieder im Web).
  • runme.org:
    Das "software art repository" stellt Netzprojekte mit abladbaren Systemen vor, darunter auch Tools für Eigenkreationen. Die Rubriken werden durch einen Index und ein Hypertext-Schlagwortsystem erschlossen. Rubriken wie bots and agents und political and activist software sind äußerst informativ. Die Plattform enthält auch viele Links zu Projekten auf anderen Sites. Doch wurde runme.org offensichtlich im Januar 2003 als Archiv angelegt, das Websites programmierender Künstler überdauern soll. KünstlerInnen wird die offene, aber moderierte Plattform als Möglichkeit für Netzpräsentationen angeboten. Die besten der bis 1. März 2003 eingereichten, in runme.org abgespeicherten Projekte wurden in Read-me 2.3 in Helsinki (Universität für Kunst und Design, Media Centre Lume, 30.-31.5.2003) vorgestellt (3/2003, 8/2003).
  • Translocations:
    Das Walker Art Center in Minneapolis begleitet die Ausstellung How Latitudes become Forms (9.2.-4.5.2003) mit der Plattform "Translocations" (Kurator Steve Dietz). KünstlerInnen aus Brasilien, China, Kroatien, Indien, Japan, Mexiko, Singapur, Südafrika, Türkei und U.S.A. erhielten Aufträge für neun Netzprojekte.
    Fran Ilichs Webblog Big(b)Other und Re:combos Translocal Mixer ermöglichen Wort- und Tonkooperationen über weite Distanzen. Beide Projekte führen bereits normale Netzpraxis in Varianten vor, die an den Projektrahmen angepasst sind. In Translocal Channel werden ein südafrikanisches Video-Archiv und Vortragsabende zu Globalisierungsfragen sowie eine Diskussion über "Gobal Curating" als Streaming Video vorgeführt und archiviert.
    In diesen Reigen themenorientierter Veranstaltungen mit Netzerweiterungen fügt sich Sawad Brooks´ und Warren Sacks Translation Map nur scheinbar. UserInnen können Beiträge an Sites schicken, von denen sie mit der Bitte um Übersetzung an Netzforen weiter geschickt werden. (Betaversion 0.02). Die Idee, einen "collaborative re-writing process" durch "a multi-protocol message delivery system" zu unterstützen, hat wenig Aussichten auf eine erfolgreiche Realisation: Die Probleme der Überwindung von Sprachbarrieren bleiben auch im Netz erhalten. Raqs Opus (Open Platform for Unlimited Signification) offeriert ein für Downloads offenes Forum und knüpft damit an die Netzutopie der überall und für alle verfügbaren Dateien und Software an (Außerdem in "Translocations": Andreja Kuluncic´s Distributive Justice: America: s. Lektion 13) (3/2003).
  • Processing:
    Die Plattform enthält seit Mai 2003 Beispiele (mit Source Code) von Jonah Brucker-Cohen, Brendan Dawes, Mikkel Crome Koser, Golan Levin, Lia, Mark Napier, Josh On, Schoenerwissen, Jared Tarbell u. a. für die Anwendung der Software "Processing". Viele Beiträge stellen Möglichkeiten "generativer Kunst" vor. Das Java-Programm wurde von Benjamin Fry und Casey Reas entwickelt, ist in der aktuellen Version kostenlos erhältlich. Das am MIT (Media Lab, Aesthetics and Computation Group, außerdem Interaction Design Institute Ivrea) entwickelte "Processing" ist dank LGPL (Library General Public Licence) offen für Anwendungen und Weiterentwicklung. Nach Reas erleichtert "Processing" die künstlerische Praxis, z. B. die Farbprogrammierung, gegenüber C, C++, Java und Open GL. Außerdem eignet sich "Processing" für Werke mit vielen simultan zu generierenden Elementen und grösserem Rechenaufwand.
    In OpenProcessing sind die von TeilnehmerInnen eingestellten Beiträge und ihre Codes zu sehen. Die Codes können im Java Applet bearbeitet, als .pde-Datei gespeichert und die von ihnen auslösbaren Generierungen beobachtet werden.
    Rhizome forderte Mitglieder zu Beiträgen für den Wettbewerb Tiny Sketch (Teil von OpenProcessing) auf. Nach dem Einsendeschluß am 13. September 2009 wählten die Mitglieder von Rhizome bis 30. September eine(n) GewinnerIn (Preisgeld 2000 USD). Der in Processing zu schreibende Code von jedem Beitrag durfte 200 Zeichen nicht übersteigen.
    In Workshops und Tutorials im Netz werden auch TeilnehmerInnen, die keine Programmierkenntnisse haben, in "Processing" eingeführt. Pogrammieranleitungen in Buchform werden ebenfalls angeboten. Daniel Shiffman´s "Beginner´s Guide" ist als Buch und als Website publiziert (6/2004, 10/2006, 9/2009, 9/2022).
  • Abstraction Now:
    Das Künstlerhaus Wien zeigte von August bis September 2003 in der Ausstellung "Abstraction Now" a-mimetische Kunst in ihren multi- und intermedialen Ausprägungen. Abstraktion wird als "hybrider dynamischer Prozess" (Pfaffenbichler) verstanden. Die Kuratoren Norbert Pfaffenbichler und Sandro Droschl präsentierten Beispiele in den Medien Gemälde, Skulptur, Fotografie, Film, Video, CD, Installation und Netz als Teile einer Medienlandschaft digitaler Bildverarbeitung, die eine Trennung in unabhängige medienspezifische Entwicklungslinien nicht sinnvoll erscheinen lässt. "The Online Project" enthält ein bis drei Beiträge von 22 KünstlerInnen und Künstlergruppen. Viele Beiträge sind in die Site integriert (Dextro, Insertsilence, Juerg Lehni, Golan Levin, Lia, Meta, Glen Murphy, [N:JA], Norm, Casey Reas, Return, Soda/Ed Burton & Julian Saunderson, Manny Tan, James Tindall, Marius Watz, Yugop), zu anderen Projekten führen Links (Jodi, Jan Robert Leegte, Peter Luining, Mark Napier, Nullpointer/Tom Betts). Abstraktion als Prozess wird u. a. mit Java sowie häufig mit Shockwave und Flash vorgeführt, ohne den Source Code zugänglich zu machen (Ausnahme: Marius Watz). Einige Projekte sind Soundtoys (s. u.), die audiovisuelle Generierung mit Steuerungsmöglichkeiten durch Mausbewegungen kombinieren (Burton, Insertsilence, Lia, Luining, Return, Tindall). Lev Manovich stellt die Beiträge zum Online Project in Abstraction and Complexity als Beispiele für einen Paradigmenwechsel von Reduktion (abstrakte Kunst und Wissenschaft um 1910/1920) zu Komplexität (& Emergenz) vor: Sie oszillieren "between order and chaos". Manovich widerspricht der Gleichsetzung von a-mimetischer mit non-repräsentativer Kunst der Kuratoren, wenn er vorschlägt, Abstraktion als "symbolische Repräsentation" der "neuen sozialen Komplexität" zu untersuchen (7/2004; 5/2015 und 1/2020: Website im Umbau).
  • The Famous Sound of Absolute Wreaders:
    Das von Johannes Auer konzipierte Projekt besteht aus Schichten von Texten über Texten: manuelle Textbearbeitungen, audielle Kommentare und codierte Transformationen. Fünf AutorInnen – Auer, Reinhard Döhl (gest. 29.5.2004), Sylvia Egger, Oliver Gassner, Martina Kieninger, Beat Suter – haben Beiträge von TeilnehmerInnen bearbeitet. Diese Texte bilden die Basis einer 40 minütigen Radioversion für zwei Sprecher, die der ORF am 7.9.2003 sendete, und einer Netzversion mit sechs Projekten. Aus "Multitasking" (Auer) wird in der Radioversion "multi-talking" u. a. in Lesungen nach manuell collagierten und als "remix generiert[en]" Texten sowie "multi-asking" als Kommentar in normalem und alkoholisiertem Zustand.
    Zwei Netzprojekte brechen Projektebenen besonders eindrucksvoll: Oliver Gassner teilt in "as time goes on: absolute wreaders" Kieningers Text über Gassners tango rgb und Auers "Lob-Buch einer gemeinsamen Reise" in vier Frames mit aktivierbaren Auto-Scroll-Funktionen und fügt einen fünften Frame mit einem Text hinzu, der zur permanenten Reaktivierung der Scroll-Funktionen aller Frames auffordert, und darin die eigene Scroll-Funktion einschließt. Suter und René Bauer verwenden Döhls Bearbeitung von Kieningers "der schrank. die schranke", seine Kommentare über die Beiträge weiterer TeilnehmerInnen und deren Netzprojekte in "Scrabble mit Döhl" als Basis für Text- und Bildtransformationen. Fünf Scripts generieren über den Bildschirm laufende Textfetzen als "multi-layer-scrabble" und erweitern es um Netzfunde.
    Kieningers "Fenster 1 2 3 4 5 6", Gassners "as time goes on" und Suter/Bauers "Scrabble" präsentieren Modelle für simultanes Lesen von bewegten Textteilen. Die Modelle thematisieren im Rekurs auf literarische Avantgarden Zusammenhänge zwischen Präsentationsform und Lesemöglichkeiten (6/2004; 1/2020: Original-Website mit Netzversion meldet "temporarily closed". Ankündigung in kunstradio.at mit Audio-Datei der Radioversion im .m3u-Format erreichbar. Im Internet Archive sind nur einzelne Webpages gespeichert. Beat Suters Bericht The Making of 'The Famous Sound of Absolute Wreader's dokumentiert das Projekt).
  • Netfilmmakers:
    Seit 2004 erscheint alle drei Monate eine neue "Edition" mit meist drei Filmen (einschließlich experimenteller, netzbedingter Filmformate) in der "Netgallery". Themen bisheriger Editionen waren unter Anderem "Territory" (2004), "Docu-Slash" (2006), "Navigation" (2006) und "Real-Un-Real" (2009). Die Leiterin und Kuratorin Annette Finnsdottir stellt in einem Beitrag für Vague Terrain (Journal 11/2008; 1/2020: nicht mehr im Netz) die Plattform vor und hebt drei Filmbeispiele hervor, darunter den "interactive netfilm" (Don´t) Leave Me Alone von Kassandra Wellendorf (2006). Alan Sondheims What Remains (2009) zeigt digitale 3D-Filmproduktion in Zeiten von Second Life.
    Im Vergleich zu für Beiträge offenen Plattformen wie YouTube und Vimeo stellt Netfilmmakers unvermeidbar die Frage, welche Rolle kuratierte Filmplattformen mit abgeschlossenen Einheiten im Netz heute noch spielen können. Netfilmmakers ist mit seinen Editionen themenorientiert, während dvblog als einzige Einschränkung für die Einsendung von Beiträgen das Format Quicktime hat. Von der Zustimmung der Herausgeber (Doron Golon, Brittany Shoot und Michal Szapowski) hängt die Archivierung einer Einsendung in der Database des Servers ab. Kuratorische Tätigkeiten werden in dvblog durch Herausgeber-seitiges Tagging ersetzt (10/2009, 5/2013; 1/2020: Server nicht erreichbar. Auf Vimeo ist die Kuratorentätigkeit von 2008-2010 dokumentiert).
  • page_space project:
    AutorInnen sollten, so stellt Braxton Sodermann die Plattform (2004) in seiner Einleitung vor, zusammenarbeiten, nicht um – wie in Ted Warnells Beitrag zu "The Field Project" (1999) – gemeinsam ein Textfeld in Form von auf einer Seite grafisch verteilten Links zu schaffen, sondern um digitale Umgebungen für Texte anderer AutorInnen bereit zu stellen. Die Projekte wurden mit Flash und Macromedia Director programmiert. Die Bildschirmseite als Präsentationsraum für Text(teil)e hat Vorrang vor dem Code. Der Zusammenhang zwischen Code, Bildschirmpräsentation und Codepoetry, wie ihn Talan Memmotts Lexia to Perplexia (2000) vorführt, spielt in den Beiträgen keine Rolle.
    In Jason Nelsons Beitrag untitled (to reconstruct) entfaltet sich Jody Zellens Text durch Klicks auf Kästchen als Baumstruktur von links oben nach rechts unten. Deena Larsens Cut to Flesh zeigt eine Fläche voller Fragezeichen. Klicks auf die Fragezeichen lassen Teile von Zellens Text diagonal über den Bildschirm laufen. Zu Nelsons hierarchischer Struktur liefert Larsen das nichthierarchische Komplement: Derselbe Text, der bei Nelson entfaltet und als Ganzer lesbar wird, erscheint bei Leeson in Satzfragmenten, die in ihrer graphischen Präsentation keinen Hinweis auf ihren Zusammenhang liefern. In Jim Andrews´ Arteroids werden Worte und Satzteile aus Texten von Christina McPhee und Helen Torrington zu Elementen, mit denen das "script/"-Element des Spielers nicht zusammenstoßen darf und die er `abschießen´ muss. Realistische Spielumgebungen löst ein Textraum ab, in dem die Anforderungen, sich als SpielerIn erfolgreich zu bewegen, von Level zu Level anspruchsvoller werden. Brian Kim Stefans´ Dibagan ermöglicht es LeserInnen, Worte aus einem Text von geniwate auf der Fläche zu verteilen. Erst im Spiel mit den vier via Kursor ausziehbaren Elementen werden Worte erkennbar. Bild und Ton liefern den Kontext, durch den Zusammenhänge zwischen dem Wortmaterial erkennbar werden: Der Irak-Krieg. In Simon Biggs´ non-LOSS´y translator wird der Text von Loss Pequiño Glazier (aus griechischen Buchstaben und arabischen Ziffern) zum grafischen Bestandteil einer dynamischen Präsentation, die Texteingaben von LeserInnen leider nur aufnimmt, statt sich mit jeder weiteren Eingabe zu rekonfigurieren.
    Weitere Beiträge und Kollaborationen von und mit Simon Biggs, geniwate, Loss Pequiño Glazier, Deena Larsen, Brian Kim Stefans, Pedro Valdeolmillos und Jody Zellen (10/2006).
  • copy-art.net
    Die Kuratorin Irini-Mirena Papadimitriou stellte die Plattform im Juni 2004 in IBID Projects (London) zum ersten Mal vor. Die Site enthielt damals Werke von Anna Best, Bigert & Bergström, Colectivo Cambalache, Critical Art Ensemble, AK Dolven, House of O´Dwyer, Per Hüttner, juneau projects, Miltos Manetas, Matthieu Laurette, N55, Szuper Gallery und Thomson & Craighead. Die Plattform erhielt für die Ausstellung im Londoner ICA (Institute of Contemporary Arts, September-Oktober 2004) acht weitere Beiträge. Später folgten sechs weitere Werke (Stand: Oktober 2006). Zu Beiträgen auf anderen Websites vom Critical Art Ensemble oder von Anna Best, Ella Gibbs, Miltos Manetas, Thomson & Craighead und Carey Young führen Links.
    Die Werke unterliegen der Creative Commons License Attribution-NonCommercial 2.0 und können zu nichtkommerziellen Zwecken kopiert und verändert werden. Urheber müssen genannt werden.
    Thomson & Craighead verwenden in attributed-text.net (1997; 9/2022: Blog aktualisiert) einen Standard Copyright-Hinweis ("All rights reserved...") als Link-Basis. Die verlinkten Webseiten mit Texten über Urheberrechtsprobleme u.a. erscheinen darunter und Quellenhinweise darüber. Das Critical Art Ensemble erweitert das Diskussionsfeld über Fragen von Kopie und Modifikation im Kontext des Urheberrechtsrechts auf dieselben Fragen im Kontext der Biotechnologie und thematisiert in Free Range Grain die Import- und Kennzeichnungsbestimmungen der EU für die Trennung von genmanipulierten und nicht genmanipulierten essbaren Agrarprodukten. Mit seinem Formular für eine Ankündigung einer Freigabe zum Download greift Mathieu Laurette Strategien der Kommunikationsguerilla auf: Eine Firma soll in ein über e-Mail zu verbreitendes Formular eingetragen werden, die in Reaktion auf einen ebenfalls einzutragenden Konkurrenten eines ihrer Produkte ebenfalls freistellt ("How to launch a rumour on the Internet?", 2000).
    Die Beiträge realisieren Remix-Strategien (Colectivo Cambalache, Doug Fishbone, Isabel Saij) oder offerieren Material für Kopien und weitere Verwertungen inklusive Transformationen (Carey Young, Gavin Wade) und/oder sie stellen Strategien und Theorien zu den Themen Urheberrecht (Matthieu Laurette, Szuper School, Thomson & Craighead) und (Post-)Autonomie (David Goldenberg) vor (10/2006, 10/2009: URL-Adresse existiert nicht mehr).
  • {Software} Structures:
    Casey Reas zeigt seit Juni 2004 in seinem Projekt "{Software} Structures" auf dem Artport-Portal zur Netzkunst des Whitney Museums of American Art, wie sich Sol LeWitts verbale Konzepte für "Wall Drawings" als Anregungen einsetzen lassen, um visuelle Strukturen für Generative Kunst zu finden. Die mit Processing, Flash MX und C++ geschriebenen Codes ergeben unterschiedlich schnell sich entwickelnde Monitorbilder. Der Quellcode wird separat als Text präsentiert.
    Reas stellt in einem Teil seines Projektes fünf – drei statische und zwei animierte – Processing-Übersetzungen von drei "Wall Drawings" LeWitts aus den siebziger und achtziger Jahren vor. Drei weitere Beispiele (#001, #002, #003) entwickelte Reas aus verbalen Konzepten, zu denen er sich von LeWitts Notationen für "Wall Drawings" anregen liess: Verbale Konzepte arbeitete Reas als erste Entwicklungsstufe aus, in der die Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Programmierung noch keine Rolle spielten. Auf das verbale Konzept folgten Ausführungskonzepte in verschiedenen Programmiersprachen: Das dritte Beispiel (#003) wurde von Reas, Robert Hodgin, William Ngan und Jared Tarbell mit Processing modifiziert. Die Processing-"Implementation" wurde mit C++ (Casey Reas) und Flash MX (Jared Tarbell) rekonstruiert.
    Da in Flash Programmcode mit hundert und mehr Elementen sehr langsam läuft, wurden Varianten mit weniger Elementen entwickelt. Die Versionen in C++ sind nur als abladbare und zu installierende Dateien verfügbar. Die mit großem Aufwand in C++ programmierten Elemente entfalten sich schneller als die Processing-Varianten (10/2006).
  • Extrapolation:
    Auf der Website von "Wigged Productions" (Leitung: Seth Thompson) wird zwischen 1. Juli 2006 und 15. Juni 2007 die Online-Ausstellung "Extrapolations" vorgestellt. Als Resource für die Hälfte der acht Werke dient der Server des Kurators Huberto Ramirez, andere Links führen zu Werken auf externen Sites. Die Projekte setzen die Medien Foto und Film in digitalen Animationsformen zur Vermittlung politischer Aussagen ein.
    Ramirez suchte Belege für ein politisches Engagement, das Veränderungen nicht von der Peripherie aus, sondern in den Machtzentren zu erzeugen versucht. Diese Zentren sind nicht mehr an einen Ort oder eine Nation gebunden. Das Modell der Taktischen Autonomen Zone lösen nach Ramirez Strategien für Aktionen in den Machtzentren ab. Situativ bedingte strategische Konfigurationen sind ephemer und werden bei Gelegenheit neu gebildet. Ellipse und Metapher seien strategische Mittel, um etablierte Interpretationsweisen aufzubrechen. Ramirez bezieht sich in seinem Kuratorenstatement auf Craig Owens "The Allegorical Impulse" (October, Nr. 12, Spring 1980, Teil I, S.67-86; October Nr.13, Summer 1980, Teil II, S.58-80).
    Einen Beleg für diesen "Impuls" liefert Deva Evelands Mouthpiece #2. Er steckt sich in einer schmerzlichen Prozedur Zahnstocher mit angeklebten Fähnchen, die mit Stars and Stripes bedruckt sind, zwischen die Zähne und verletzt dabei sein Zahnfleisch. Die Fähnchen behindern das Sprechen: Sie und der von ihnen symbolisierte Nationalismus machen `mundtot´.
    In allen Beispielen stehen Bildwelten nicht nur für das Vorgeführte. Die Werke führen die Folgen der Globalisierung in überspitzter Form direkt (The Yes Men durch einen Vorschlag, der das Gefälle zwischen Reichen und Armen bei der Nahrungsversorgung verschärft – vgl. Vortrag März 2002 in Plattsburgh) oder indirekt zum Beispiel über die Präsentationsformen der Massenmedien (Jody Zellen) oder über das lateinische Alphabet vor, das heute in keiner anderen Sprache als auf Englisch vorgestellt zu werden braucht (Peiyun Lee). Dass Globalisierung in den Sprachen aufbewahrte kulturelle Differenzen (noch?) nicht egalisieren kann, zeigt Lana Lin in No Power To Push Up The Sky am Beispiel der Versuche von 15 ÜbersetzerInnen, ein Interview mit Chai Ling, der Anführerin des Studentenprotestes, das einige Tage vor dem Massaker 1989 am Tiananmen Platz in Beijing stattfand, auf Englisch wiederzugeben. Wie sich unter Bedingungen der Globalisierung in U.S.A. soziale Indifferenz und Angst vor Terror zueinander verhalten, führt Arzu Özkal Telhan in The Unattended Body vor: Wer sich zu lange in Durchgangsräumen ohne erkennbaren Grund aufhält, provoziert das Sicherheitsempfinden des Videovoyeurs (also von uns, den BeobachterInnen), während PassantInnen und AutofahrerInnen die AbweichlerInnen ignorieren (10/2006; 4/2013: Die URL-Adresse existiert nicht mehr, neu in: Internet Archive).
  • Electronic Literature Collection Volume One:
    In: Electronic Literature Organization. October 2006. Die Plattform enthält 60 Beispiele für elektronische Literatur, die zwischen 1994 und 2006 entstanden. Sie wurden von N. Katherine Hayles, Nick Montfort, Scott Rettberg und Stephanie Strickland für die "Preservation, Archiving and Dissemination Initiative (PAD)" der Electronic Organization ausgewählt. Die Plattform erleichtert durch einführende Erläuterungen und technische Hinweise ("instructions") den Umgang mit den Werken.
    Das digitale Archiv ist auch als CD-ROM erhältlich. Dies zeigt, dass die Sammlung abgeschlossene Werke enthält, die nicht von Netzbedingungen (wie Daten aus Verbindungen zu extern archivierten Dateien, Eingaben von NetzteilnehmerInnen und deren Archivierung) abhängig sind. Nicht die zwischen Kooperation und Kollaboration (Christiane Heibach: Oszillationen//Netzkunst/Netzliteratur, s.u. unter Beiträge zur Geschichte der NetArt) unterscheidbare Interaktion der Co-AutorInnen als TeilnehmerInnen eines Work-in-Progress, sondern der/die Progammierentscheidungen der AutorInnen explorierende LeserIn ist das Leitbild dieser Auswahl. Die in der Monitorpräsentation von LeserInnen eruierbaren Funktionen und ihre Programmierung (Squeak, Hypertext, Processing, Flash, Director, VRML, Quicktime u.a.) bleiben zentrale Bezugspunkte, sofern RezipientInnen nicht passive ZuschauerInnen bleiben. Diese elektronische Literatur geht nicht in Netzkultur auf wie der Assoziationsblaster (Dragan Espenschied/Alvar H.C. Freude, seit 1999), sondern versucht, ihre Einbettung als Rahmen (Kunst)-im-Rahmen (Kultur) zu kontrollieren: Netzliteratur versus elektronische Literatur. Die Entwicklung der technischen Möglichkeiten von Hard- und Software steht im Vordergrund, während die Entwicklung des Netzes durch TeilnehmerInnen weitgehend ausgeblendet bleibt (Spuren der Netzkultur lassen sich nur in der Wiederverwendung von gespeichertem extern gefundenem Material und in der Verwendung üblicher Hard- und Software finden).
    N. Katherine Hayles gibt in "Electronic Literature: What is it?" (s.u. unter Beiträge zur Geschichte der NetArt) eine Einführung, die in leicht modifizerter Fassung das erste Kapitel des Buchs "Electronic Literature: New Horizons for the Literary" bildet. Das Buch enthält die Database der Netzplattform auf CD-ROM (Hayles, N. Katherine: Electronic Literature. New Horizons for the Literary. Notre Dame/Ithaca 2008. CD-ROM ohne Buch frei erhältlich von: Electronic Literature Organization. Maryland Institute for Technology in the Humanities (MITH). B0131 McKeldin Library. University of Maryland. College Park, MD 20742).
    Im Februar 2011 wurde die Website Electronic Literature Collection Volume Two installiert und im Februar 2016 folgte Volume Three.
    Florian Cramer kritisierte 2012 in "Post Digital Writing" die Auswahlkriterien der Electronic Literature Organization (s.u. unter Texte über aktuelle Aspekte der NetArt; 10/2009, 4/2015, 1/2020).
  • NETescopio:
    Das Museo Extremeño e Iberoamericano de Arte Contemporáneo (Badajoz/Extremadura in Spanien) legt seit 2008 eine Database mit Beispielen der Netzkunst an. Die Auswahl der auf dem Server des Museums gespeicherten Werke integriert wichtige internationale Beispiele in eine Dokumentation spanischer und iberoamerikanischer Netzprojekte. Die Werke werden in kurzen Beschreibungen vorgestellt. Einige Werke bedürften der Rekonstruktion, um ihre Funktionen auch mit aktuellen Browsern und Plugins/Apps nachvollziehen zu können (s. Dekker, Annet: Assembling Traces, 2014, s.u. in Texte über aktuelle Aspekte der NetArt).
    Das Archiv ist offen für weitere Werke. Vorschläge sind erwünscht. Bei positiver Bewertung wird das vorgeschlagene Werk in das Archiv integriert (4/2015).
  • or-bits.com:
    Marialaura Ghidini kuratierte von 2009 bis 2012 acht `Ausstellungen´ zu Themen wie "Acceleration", "On-Looking" oder "Simplicity". Auch wenn die Beiträge der KünstlerInnen häufig nicht netzspezifisch sind, so müssen sie doch aus Dateien bestehen, die auf dem Server der Plattform speicherbar sind und die BeobachterInnen über das World Wide Web abrufen können.
    Die via Internet veränderten Weisen der Weltbeobachtung reflektiert Ghidini in projektbegleitenden Texten. So reflektiert sie in Acceleration, wie sich die Wahrnehmung von Filmen durch ihre Abrufbarkeit via Internet verändert. Auch wenn Filme kein netzspezifisches Medium sind, so werden sie doch durch die mit der Internetdistribution gebotenen Möglichkeiten, zwischen Phasen vor und zurück zu springen, anders betrachtet als früher.
    Andrew Venell wiederum thematisiert in seinem Beitrag für On-Looking Google Algorithmen für Ad-Sense, indem er Ghidini diese Werbung in ihren Kuratorinnenbeitrag integrieren lässt. In seinem Statement stellt Venell das Problem als ungelöst vor, mit diesen Algorithmen kontextadäquate Inserate zu auszuwählen. Er plant, mit der auf eigenen Seiten erscheinenden Fremdwerbung die eigene Werbung auf anderen Webseiten zu finanzieren.
    Ghidinis Plattform wird zum Beleg, wie wenig die netzspezifischen und netzexternen Beobachtungsformen in einer primär netzgeleiteten Weltbeobachtung noch zu unterscheiden sind: Sie verschmelzen zu einer Weltsicht. Nachdem seit der "Post-Medium Condition" (Krauss, Rosalind: Two Moments of the Post-Medium Condition. In: October, Nr.116/Spring 2006, S.55-62) die Thematisierung von medienspezifischen Beobachtungsformen kein zentrales künstlerisches Anliegen mehr ist, thematisieren sie in verschiedenen Medienkombinationen und -konstellationen die Auswirkungen der zeitgenössischen Medienlandschaft für die Weltbeobachtung. Dass dabei zeitgenössische KünstlerInnen an Verfahren der siebziger Jahre anknüpfen, das können vor allem die Filmbeiträge in or-bits.com nicht leugnen (4/2015).
  • The Widget Art Gallery:
    Chiara Passa stellt seit 2009 monatlich neue Beiträge von KünstlerInnen für einen virtuellen Galerieraum vor. Die Beiträge der web-based App cross platform sind auf einem Blog, als Widget im Dashboard von Mac OS sowie als App für iPhones und iPods abrufbar. Viele KünstlerInnen plazierten ein sich drehendes Objekt im Zentrum des "mini single art gallery room". Beiträge lieferten bisher Anthony Antonellis, Andrew Benson, Marco Cadioli, Jon Cates, Jennifer Chan, Flavio Doricchi, Alberto Gulminetti, Rea McNamara, Bill Miller, Prosthetic Knowledge, Daniele Puppi, Yoshi Sodeoka, Caterina Stratti, Chris Timms, Rodell Warner u.a. (12/2014. 1/2020: Neue Beiträge folgen meist in 2 bis 3 Monaten).
  • Remixthebook:
    Mark Amerika´s Buch "Remixthebook" (Minneapolis/Minnesota 2011) wird von einer Website begleitet. Sie enthält 25 Beiträge von KünstlerInnen und KritikerInnen, die sie mit Remix-Strategien ausführten und darüber schrieben. Was sich aus dem Angebot, das Buch als Remix-Material zu verwenden, machen ließ, zeigt der Cokurator der Site Rick Silva in seinem Video Isarithm. Michelle Elsworth lässt sich darauf nicht ein und erörtert in Food Remix die Remixmöglichkeiten, die ein Supermarkt bietet. In zwei Videoaufnahmen dokumentiert und kommentiert sie simultan `vor Ort´ ausgeführte Remixes des Warenangebots.
    Viele Beiträge wurden auf den Plattformen Vimeo, Issuu und Soundcloud gespeichert und einige auf dem Server der Site "Remixthebook". So auch The Art of Walking von Maria Miranda und Norie Neumark. Die Künstlerinnen remixten eigenes Bild- und Textmaterial in drei Filmen und passten mit ihrer (nicht in einem Film zusammengefassten) Simultanpräsentation der drei Remixvarianten in kein Downloadschema der genannten Plattformen. MTAA (Michael Sarff und Tim Whidden) dagegen zogen es vor, mit auf Flickr von anderen AutorInnen gespeicherten Fotos im Kontext von Flickr zu arbeiten und auf der Site "Remixthebook" eine Beschreibung ihrer Vorgehensweise zu publizieren. MTAA blendet einen Still des Trailers, der für Mark Amerikas Buch wirbt, in auf Flickr gefundene Innenraumaufnahmen ein und archiviert diese wiederum in Flickr. Die Beiträge zur Site "Remixthebook" führen mit ihren Remix-Strategien zugleich auch Formen des Arbeitens mit (verteilten) Plattformen vor.
    Mark Amerika weist auf der About-Seite auf Möglichkeiten, mit Remixpraktiken auch die Grenzen zwischen künstlerischen Vorgehensweisen und Argumentation zu überschreiten. Diesen Vorschlag nimmt Curt Cloninger in seiner Textbearbeitungsperformance Twixt The Cup And The Lip #3 (mit Microsoft Word Screen) auf und variiert Amerikas Ausdruck "letting the language speak itself". Teilweise schreibt und zeichnet er mit einer Notizzettelsoftware. Janneke Adema wiederum bearbeitet in Creativity (Capital C) has been hijacked by the artists einige Seiten von Amerikas Text, indem sie Begriffe austauscht und dies im Artist´s Statement als "scholarly critical method" ausweist.
    Yoshi Sodeoka vervierfacht sich in seinem Filmbeitrag An Artist Yupping About Some Art Stuff X4. Er verfremdet das Tondokument eines Vortrags von Mark Amerika durch Beschleunigung und Vervielfachung der Stimmen: Sodeoka nimmt den Auftrag von Amerika an, ein Tondokument mit einem Vortrag über Remix-Strategien zu remixen, um die gestellte Aufgabe zugleich zurückzuweisen, indem er die Vorlage so stark verfremdet, dass sie zum austauschbaren Material für künstlerische Verfahren wird. Zugleich zeigt er mit seiner digitalen Variante der Lautpoesie, dass Remix-Verfahren üblicherweise eine Umdeutung des Remixten vorführen, nicht aber (neo-)avantgardistische Dekonstruktionen der Semantik aufgreifen. Sodeoka unterläuft den Werbeeffekt der Plattform, zum Kauf des Buches "Remixthebook" anzuregen, um dann in der Lage zu sein, Remixtes vom Remix unterscheiden zu können, da sein Beitrag diesen Unterschied verwischt (4/2015).

Beiträge zur Geschichte der NetArt:

  • Couey, Anna: Cyber Art: The Art of Communication Systems.
    In: Matrix News. Vol.1/Nr.4, July 1991. Cyberspace definiert Couey als den "von Computern generierten Raum", in dem Menschen interagieren können. Cyber Art setzt Netzwerke zwischen Rechnern als "operational cyberspace" voraus. Cyber Art hat keinen materiellen Träger und experimentiert mit Kommunikationsformen. Das "hierarchische Kommunikationsmodell" der Westlichen Kunst und Massenmedien wird in Projekten für und mit Telekommunikationssystemen von "öffentlicher Teilnahme an kulturellen Aktivitäten" abgelöst. "Interaktivität" beziehungsweise "reziproke und kollaborative Kommunikation" wird als "wesentliches Merkmal" "telematischer Aktivität" ausgewiesen.
    Die ersten "Kommunikationsskulpturen" Ende der Siebziger Jahre setzten Netzwerke mit Satelliten und "Slow Scan Television" (SSTV) ein. Das bekannteste Projekt früher "Telekommunikationskunst" ist "Hole in Space", das Kit Galloway und Sherrie Rabinowitz 1980 ausführten. ARTEX (ab 1980/81) wird als "erstes internationales Computer Netzwerk von Künstlern" vorgestellt. 1986 folgte Art Com Electronic Network (ACEN) als Mailbox im 1985 gegründeten Bulletin Board System (BBS) WELL (Whole Earth Lectronic Link) (10/2006).
  • Adrian X, Robert: Art and Telecommunication 1979-1986: The Pioneer Years.
    In: Dietz. Steve (Hg.): Telematic Connections: The Virtual Embrace. Walker Art Center. Minneapolis/Minnesota, February 2001. Deutsche Druckfassung: Springer. Bd.I/Heft 1. April 1995, S.10f. Adrian X schildert Projekte von 1979 bis 1986 für und mit Telekommunikation, die in Österreich initiiert wurden oder an denen Österreicher beteiligt waren. Die Wiener Filiale von I.P. Sharp Associates Pty.Ltd. (IPSA, Zentrale in Toronto) lieferte 1980/81 mit ihrem Computer Timesharing Network die technische Infrastruktur. Das Mailbox-Programm ARTBOX wurde von Gottfried Bach, dem Leiter der Wiener IPSA-Filiale, für ARTEX entwickelt. ARTEX war eine "User-Group" im IPSA-Netz. Ab 1983 wurde das weiter entwickelte Programm als ARTEX (The Artists´ Electronic Exchange Program) bezeichnet. Bachs Programm und die es anwendende "User-Group" mit ca. 30 Mitgliedern trugen dieselbe Bezeichnung. ARTEX wurde zur Organisation und als Medium von Projekten eingesetzt, darunter auch einige für Slow Scan TV (SSTV), Telefaksimile (FAX) und Telefon. Adrian X stellt Bill Bartlett als "wahre[n] Pionier der Low-Tech Künstler-Telekommunikation" vor. Mit der "Vernetzung von PCs in BBSs [Bulletin Board Systems] und dem Siegeszug des Fax und anderer Telefonperipherien in Büros und Wohnzimmern" endeten die "Pionierzeiten" von Low-Tech Telekommunikationsprojekten. ARTEX wurde nicht fortgesetzt, als IPSA 1991 von Reuters aufgekauft wurde (10/2006).
  • Dreher, Thomas: Vernetzungskünst(l)e(r).
    In: Gerbel, Karl/Weibel, Peter (Hg.): Mythos Information. Welcome to the Wired World. @rs electronica 1995 (Brucknerhaus Linz, Juni 1995). Wien 1995, S.54-67. Geschichte der künstlerischen Medienkombinationen: von der Vernetzung der Medien (Telephon, Radio, TV) in Netz-Werken zu Netzwerken und ihren Folgen für etablierte Kunstdefinitionen (Supplement: Literaturliste des Kataloges AEF 95) (3/2003).
  • Fauconnier, Sandra: Web-specific art: het World Wide Web als artistiek medium.
    Proefschrift kunstwetenschappen, Universiteit Gent 1997. Materialreiche Einführung, wobei das dritte Kapitel mit einer relativ ausführlichen Schilderung der Frühgeschichte der Netzkunst und das vierte Kapitel mit seinem Versuch, die Probleme der frühen Netzkunst zu skizzieren (Aktivismus, virtuelle Gemeinschaften, Interaktivität), es erleichtern, den Stand der Geschichte der NetArt von 1997 zu erschliessen (auf holländisch) (3/2003).
  • Baumgärtel, Tilman: Immaterialien. Aus der Vor- und Frühgeschichte der Netzkunst.
    In: Telepolis, 26.6.1997. Baumgärtel skizziert die Geschichte der Telekommunikationskunst von László Moholy-Nagy bis zum Beginn der Netzkunst (3/2003).
  • Baumgärtel, Tilman: Das Internet als imaginäres Museum.
    Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Projektgruppe "Kulturraum Internet", Berlin 1998. Baumgärtel stellt die frühe Geschichte der Netzkunst vor. Wichtigste Stichpunkte: "Kunst als Materialprüfungsamt", "Kontextsysteme", "virtual communities" (3/2003).
  • Möller, Klaus: Kunst im Internet - Netzkunst, Untersuchungen zur ästhetischen Bildung.
    Diplomarbeit, Fakultät Erziehungswissenschaften. Universität Bielefeld 1999. Möller entwickelt Aspekte der Netzkunst (Interaktivität, Prozessualität) vor dem Horizont ihrer Vorläufer: Aus der Geschichte der Intermedia Art mit Aktionen, Konzepten und Telekommunikationsmedien entwickelt er eine Vorgeschichte zur Rolle des Betrachters in NetArt. Seinen rezeptionsästhetischen Ansatz (Basis: John Dewey) erläutert er am Beispiel von Jodi (3/2003).
  • Albert, Saul: Artware.
    In: The Mute Issue 14/September 1999. Albert weist Linux als Idee aus, die zur Maschine wurde, welche das Kunstwerk erstellt. Sol LeWitts "Paragraph" "The idea becomes a machine that makes the art" (Artforum, Summer 1967, S.80) verliert in der neuen Medienlandschaft die autoritäre Anweiserfunktion einer unantastbaren Künstleridee, da das Konzept des kollaborativen, für Weiterentwicklung offenen Open Source Projektes als neue Idee eingesetzt wird: Linux gewann 1999 die Goldene Nica in der .Net-Abteilung des Prix Ars Electronica (2/2004).
  • Albert, Saul: Open Source and Collective Art Practice.
    (9/1999). Die Community Arts Bewegung der sechziger und siebziger Jahre hatte nur regionale Reichweite. Die Community Radio Bewegung der achtziger Jahre konnte die hierarchische Struktur der Ausstrahlung von Radiosendern nicht ändern. Das Internet dagegen ermöglicht weltweite Kollaboration und die weltweite Koordination von an vielen Orten auszuführenden Aktionen.
    Die Kollaboration an Open Source Software dient Albert als Modell für Netzkollaborationen aller Art. Die Gemeinde der Software-EntwicklerInnen besteht aus Interessierten, die keine Pressearbeit benötigen. Dagegen bestand und besteht im Kunstbetrieb die "gift economy" aus der Arbeit an der eigenen Verbreitung bzw. Bekanntheit (mittels Ausnutzung des Medienechos von Galerie- und Museumsausstellungen), die Ausgaben an Geld und Arbeitszeit erfordert.
    Die Open Source Software-Gemeinde schafft durch die Angaben, welche/r KoautorIn sich wie an einem Projekt beteiligt hat, eine Struktur der Reputation: Nicht der "Tod des Autors" (Roland Barthes), sondern dessen Evaluierung sind für die Gemeinde der Interessierten entscheidend (2/2004; 5/2013: URL nicht gefunden: 8/2013: Internet Archive).
  • Bosma, Josephine: Between Moderation and Extremes. The Tension between Net Art Theory and Popular Art Discourse.
    Vortrag, "MachineMachy: pro or against the machines?", Pro @ Contra Conference, Russian State Humanitarian University, Media Institute, Moskau, Mai 2000. In: Switch. Vol.6/No.1. CADRE Laboratory for New Media. The School of Art and Design. San Jose State University. San Jose 2000. Ursprüngliche URL: http://switch.sjsu.edu/web/v6n1/articleb3.htm. Josephine Bosma siedelt Netzkunst in einem dichten Geflecht aus Medienaspekten an, die zusammen eine Medienlandschaft ergeben, mit der KünstlerInnen arbeiten und in der sie sich situieren.
    Bosma will zum Einen Netzkunst als Teil eines Umfeldes verstanden wissen, in dem die sozialen Veränderungen durch neue Medien diskutiert werden, und zum Anderen nicht Diskussionen um zeitgenössische Kunstauffassungen ausklammern. Statt lediglich auf bereits erworbene Medienerfahrungen zu setzen, plädiert Bosma für eine wilde, unvorhersehbare und experimentelle Netzkunst. Diese bleibt mit dem Erkunden ihrer Möglichkeiten nicht ausschließlich Internet-bezogen, sondern lotet auch die Möglichkeiten aus, sich im weiteren Umfeld technischer und sozialer Veränderungen zu situieren.
    Bosma weist mit dem Unterschied zwischen "net art" und "web art" auf die Vorgeschichte des Web und damit auf künstlerische Experimente mit dem Internet vor der Einführung des ersten Internet-Browsers und des World Wide Web. Die Entwicklung der Netzkunst vor dem Web und die Vorläufer der Netzkunst führen Bosma dazu, das "unstable, intangible value of the art object in the age of new media" als Resultat von "a manipulation, a theoretical construction" aufzufassen.
    Eine "re-evaluation" der Kunst benötigt nach Bosma dank des Internet weder Museen noch Kunsthandel in ihrer bisherigen Form. Anders als für Tilman Baumgärtel ist für Bosma Netzkunst "never depending on representation in institutions". Vielmehr können Kunstmuseen sich eine neue Rolle als "art spaces" geben, die der "presentation, selection and exchange of ideas and norms" dienen. Dieser Austausch von Ideen konnte im Web 1.0 bereits in Mailing Lists wie Nettime (ab 1995) stattfinden. Mit der Einführung der Moderation 1997 hat Nettime nach Bosma die KünstlerInnen, die seit der Gründung dabei waren, marginalisiert: Experimentelle Beiträge von KünstlerInnen sind seither nicht mehr möglich.
    Die "by now near total internalization of the Internet" führe zu einer Situation des "post-network" und "post-network art" reagiere nicht nur auf diese mediale Situation, sondern agiere als Teil von ihr und damit als Teil einer "era of instability" (1/2020).
  • Hirschsteiner, Guido: Netzkunst als Avantgarde.
    Magisterarbeit, Institut für Deutsche Philologie, Ludwig-Maximilians-Universität, München 2000. Eine Geschichte der Netzkunst, die Kriterien der Webness (Kontextlosigkeit, Immaterialität, Interaktivität, Selbstreferentialität) vorstellt. Hirschsteiner erörtert mit einem systemtheoretischen Ansatz ("Subsystem Avantgarde") sowohl medien- als auch kunst- wie literaturhistorisch relevante Aspekte (3/2003).
  • Idensen, Heiko: Intertext-Interaktion-Internet. Kollaborative Schreibweisen – virtuelle Text- und Theorie-Arbeit: Schnittstellen für Interaktionen mit Texten im Netzwerk.
    In: Auer, Johannes/Heibach, Christiane/Suter, Beat (Hg.): netzliteratur.net_Netzliteratur//Internetliteratur//Netzkunst 2000. Druckfassung: Gendolla, Peter/Schmitz, Norbert M./Schneider, Irmela/Spangenberg, Peter M. (Hg.): Formen interaktiver Medienkunst. Frankfurt am Main 2001, S.218-264. Idensen schreibt mit der Geschichte der "Lesemaschinen" eine Geschichte der Projekte für Cross-Reading in Verweisungssystemen (Raymond Roussel, Vannevar Bush, Ted Nelson). Die Beispiele für Cross-Readings konstituieren die Vorgeschichte zu Mitschreibe-Projekten wie The World´s First Collaborative Sentence (Douglas Davis, ab Dezember 1994), Assoziationsblaster (Dragan Espenschied/Alvar C. H. Freude, seit 1999) und nic-las (Joachim Maier/René Bauer, seit 1999) (2/2004).
  • Arns, Inke: Die Geburt der Netzkunst aus dem Geiste des Unfalls.
    Anmerkungen zur Netzkunst in Europa 1993-2000. Vortrag, Ifa Galerie, Berlin, 7.12.2000. Druckfassung: Kunstforum. Bd.155/Juni-Juli 2001, S.236-242. Die Slavistin stellt frühe Netzkunst "als erstes gesamteuropäisches Phänomen nach dem Mauerfall" vor und betont die Integration osteuropäischer KünstlerInnen (Cosic, Frelih, Lialina, Peljhan, Shulgin, Stromajer) (3/2003).
  • Hillgärtner, Harald: Netzaktivismus im Spannungsfeld von Kunst und Technik.
    Magisterarbeit, Institut für Theater-, Film und Medienwissenschaft, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt a. M. 2001. Aus Problemen der Geschichte des Internet entwickelt Hillgärtner Fragestellungen des Netzaktivismus und analysiert vor diesem Hintergrund Jodi, etoy und RTMark (mit Toywar) (3/2003).
  • Manovich, Lev: The Language of New Media.
    Druckfassung: Cambridge/Massachusetts 2001. Manovich resystematisiert die Medienentwicklung von der Fotografie über den Film bis zum Internet. Er erörtert die Aufteilung filmischer Medien in Brechungen der digitalen Animation wie reaktive Installationen, Computerspiele, Videoanimation, WebCam, Quicktime-Dateien etc. Manovich stellt Charakteristika dieser Entwicklung mit Begriffen wie "Cultural Interfaces", "Database", "Navigable Space" und "Cinegratography" vor. Die Geschichte der Medien Malerei, Fotografie, Film etc. wird von der Programmierung für digitale Rechenprozesse abgelöst, die eine "Language of New Media" konstituieren. Deren fünf Prinzipien sind: "numerical representation", "modularity", "automation", "variability" und "transcoding". "Transcoding" führt zu "cultural transcoding", zur "Computerisierung der Kultur", und ändert deren "Kategorien und Themen": "...the computer layer will affect the cultural layer."
    Einerseits löst Software die Mediengeschichte ab, andererseits entwickelt Manovich diesen Prozess an Hand seines Leitmediums Film. "The cultural layer of new media" wird rekonzeptualisiert: Die Angleichung des "computer layer" an die Schnittstellen der Geräte älterer Medien wird von "Hypermedia" abgelöst, in denen "Algorithmus und Datenstruktur" getrennt sind.
    Rezensionen: Arns, Inke: Metonymical Mov(i)es. In: Dichtung-Digital, 27.7.2002. URL: https://mediarep.org/handle/doc/18501 (13.1.2020; 26.9.2022); Hüser, Rembert: Der Vorspann zum Buch zum Film (2002). In: IASLonline Rezensionen. URL: http://iasl.uni-muenchen.de/ rezensio/ liste/ hueser1.html (30.9.2006); Idensen, Heiko: Die Sprache der neuen Medien lesen und schreiben? (2002) In: dichtung-digital, 22/2002. URL: https://mediarep.org/bitstream/handle/doc/18469/Dichtung-Digital_22_1-14_Idensen_Sprache_der_neuen_Medien_.pdf?sequence=4&isAllowed=y (13.1.2020; 9/2022) netzliteratur.net. URL: http://www.netzliteratur.net/ idensen/ idensen_manovich.htm (30.9.2006); Truscello, Michael: The Birth of Software Studies. Lev Manovich and Digital Materialism. In: Film-Philosophy. Vol.7/No.55. December 2003. URL: https://www.euppublishing.com/doi/abs/10.3366/film.2003.0055 (5/6/2013; 9/2022); Warner, William B.: Lev Manovich macht sich auf zur Überwindung des Medienparadigmas. In: Telepolis, 22.12.2001. URL: http://www.heise.de/ tp/ r4/ artikel/11/ 11378/1.html (30.9.2006) (10/2006; 1/2020).
  • Schally, Sabine: Netzkunst reflektiert ihr Medium.
    Diplomarbeit Publizistik. Universität Wien 2001 (Nur noch ohne Abbildungen in The Internet Archive Building). Schally skizziert kurz einen systemtheoretischen Ansatz und stellt dann mit relativ ausführlichen Beschreibungen künstlerische Projekte vor, die ihrer Ansicht nach medienreflexive Ansätze erkennen lassen (3/2003).
  • Daskalova, Rossitza: The Ground for Net.Art in the Former Eastern Block (Central and Eastern Europe).
    In: Le magazine électronique du CIAC/The CIAC´s Electronique Art Magazine. Centre international d´art contemporain du Montréal, Montréal, No.12/janvier-January 2001. Ein enzyklopädischer Überblick über den Kontext (Institutionen, Stiftungen, Kontextsysteme, Veranstaltungen) der Netzkunst in den Ländern des ehemaligen Ostblocks: Informationen über die Aktivitäten des Soros Foundations Network liefern Einsichten in die postkommunistischen Bedingungen von NetArt (3/2003; 1/2020).
  • Berry, Josephine: The Re-Dematerialisation of the Object and the Artist in Biopower.
    (Kapitel 4 der Dissertation "The Thematics of Site-Specific Art on the Net", Faculty of Arts, University of Manchester 2001). In: Nettime, 5.2.2001. Berry entwirft die Geschichte der Netzkunst als Weiterführung der Kritik an der Vermarktung von Kunst, die Lucy Lippard 1972 im "Postface" zu ihrem Buch "Six Years: The dematerialisation of the art object from 1966 to 1972" vorstellte. Berry skizziert die frühe Netzkunst als Fortsetzung der konzeptuellen Kritik des Warenstatus von Kunst und entnimmt dem Buch Empire von Michael Hardt und Antonio Negri Begriffe zur Beschreibung der heutigen sozialen und ökonomischen Systeme. Berrys Thesen führten zu einer regen Diskussion in der Mailing List Nettime, an der sich auch Josephine Bosma (mehrfach) und Tilman Baumgärtel beteiligten (3/2003).
  • Simanowski, Roberto: The Reader as Author as Figure as Text.
    Vortrag, "p0es1s. Poetologie digitaler Texte", Symposium, Universität Erfurt, Erfurt 27.9.2001. Modifizierte deutsch/englische Druckfassung mit neuem Titel: "Tod des Autors? Tod des Lesers!/Death of the Author? Death of the Reader!" In: Block, Friedrich W./Heibach, Christiane/Wenz, Karin (Hg.): p0es1s. Ästhetik digitaler Poesie/The Aesthetics of Digital Poetry. Ostfildern-Ruit 2004, S.79-91. Simanowski lässt – im Unterschied zu Robert Coover und George P. Landow – nicht den Autor, sondern den Leser <sterben>. Als Resultat seiner prägnanten Bestimmungen der Rolle der KoautorInnen in drei kollaborativen Mitschreibe-Projekten (Carola Heine: Beim Bäcker, 1996; Guido Grigat: 23:40, 1997; Dragan Espenschied/Alvar C. H. Freude: Assoziationsblaster, 1999) resümiert Simanowski, dass der/die RezipientIn als LeserIn in Mitschreibe-Projekten tot sei, aber als (Ko-)AutorIn lebendig, da er/sie als am Schreibprozess Beteiligte(r) den Beiträgen eine erhöhte Aufmerksamkeit widmen: Während die Beiträge von KoautorInnen bei Nur-LeserInnen die Aufmerksamkeit wegen unterschiedlicher Qualität strapazieren, ist der/die MitspielerIn als Beteiligte(r) in ein anregendes, weil durch Aktion und Reaktion modifizierbares Spannungsfeld integriert (2/2004).
  • Kahnwald, Nina: Kunstbrowser. Neue Strategien der Inszenierung von Informationsstrukturen.
    Magisterarbeit, Theaterwissenschaft am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin 2002. Druckfassung: Kahnwald, Nina: Netzkunst als Medienkritik. Neue Strategien der Inszenierung von Informationsstrukturen. München 2006. Die in Browsern wie Internet Explorer und Netscape Communicator über die "Seitenmetapher" nach dem Vorbild des Buchdrucks konventionalisierten Relationen zwischen Performativität und Semiotik werden von Kunstbrowsern dis- und rekoordiniert. Statische Präsentationen werden entweder durch alternative, Lesbarkeit auflösende statische Präsentationen (Mark Napier: Shredder, 1998, und Riot, 1999; Rolux: Internet Implorer, 1999) oder durch dynamische, transitorische Präsentationen (I/O/D: Web Stalker, 1997, Maciej Wisniewski: Netomat, 1999, exonemo: FragMental Storm, 2000/2002, Jodi: Wrongbrowser, 2001) ersetzt.
    Die dynamischen Visualisierungen lösen die "Seitenmetapher" durch eine Inszenierung des Internetdatenstroms ab, die nach Kahnwald mit Begriffen der Theatralität beschrieben werden kann. Die Relationen zwischen Daten im Quellcode und ihren Visualisierungen sind technisch arbiträr und eine Frage des "In-Szene-Setzen[s]".
    Der Strom der Daten in Fernübertragung ist einerseits als technischer Prozess und somit als etwas Anderes, als das im Browser Präsentierte, rekonstruierbar. Andererseits sind technische Prozesse erst mittels der Browser-Präsentation (und der Quellcode-Ansichten der Browser) erkennbar.
    Weil die den Datenablauf regelnden Funktionen nicht in Browsern repräsentier- bzw. nicht in einem Abbildungsverhältnis darstellbar sind, ohne – wie in der konventionalisierten "Seitenmetapher" – den prozessualen Charakter aufzuheben, werden Datenströme in Kunstbrowsern mit nicht-darstellenden Mitteln vorgeführt (2/2004).
  • Ziegler, Henning: The Digital Outlaws. Hackers as Imagined Communities.
    In: nmediac. The Journal of New Media Culture. Vol.1/Nr.2, Summer 2002. Ziegler konfrontiert Hacker-Mythen (Beispiele: Film "Die Hard 2", 1990; Presseberichte zum "I love you"-Virus, 2000) mit dem Selbstverständnis der Hacker und Cracker. Er rekonstruiert die öffentliche Vorstellung von Hackern (mit Benedict Anderson) als eine "imagined community". Die von Crackers verursachten Schäden (und die Angst vor ihnen) werden (mit Julia Kristeva) als "the `abject of dataspace´" und "the `abject´ of hacker culture" interpretiert. Aus ihrem eigenen "Hacker/Cracker-Antagonismus" soll der Hackerkultur "der Begriff des `ethischen Hackens´" einen Ausweg bieten.
    Hacktivism wird von Hackern nicht als Hacking aufgefasst, obwohl einige Hackerstrategien verwendet werden. Kapitel V bietet eine kurze Geschichte des Hacktivism (Electrohippies, Electronic Disturbance Theater, Billboard Liberation Front) (2/2004).
  • Magnusson, Thor: Processor Art – Currents in the Process Oriented Works of Generative and Software Art.
    Diss. Department of Comparative Literature and Modern Culture. University of Copenhagen. August 2002. Der Autor rekonstruiert die Vorgeschichte der "Processor Art". Die Geschichte der Software als geschriebene Anweisung zur Generierung von Ausführungen beginnt vor der Entwicklung computergestützter Kunst und begleitet sie: Marcel Duchamp, John Cage, La Monte Young, Sol LeWitt u. a. Die Schwerpunkte seiner Untersuchung von Projekten, die mit dem Mikroprozessor des Computers arbeiten, liegen bei "Generative Art" und "Software Art". Magnusson beschränkt sich auf Software "as a meta-artwork", die Kunstwerke zu entwickeln erlaubt. Kap. 4.3.4 stellt die "Browser Artists" I/O/D, Jodi, Mark Napier und Nullpointer vor (3/2003).
  • Heibach, Christiane: Oszillationen//Netzkunst/Netzliteratur.
    Vortrag, Stadtbücherei Stuttgart, 10.10.2002. In: Auer, Johannes/Heibach, Christiane/Suter, Beat (Hg.): netzliteratur.net_Netzliteratur // Internetliteratur // Netzkunst 2002. Heibach skizziert die Rolle von Netzkunst in "Oszillationsprozessen" der "Netzwerkgesellschaft". Netzprojekte gliedert sie nach Kriterien der Produktions- (kooperativ, kollaborativ, dialogisch), Darstellungs- und Medienästhetik (2/2004).
  • Arns, Inke: Soziale Technologien. Formen des Widerstands in der elektronischen Öffentlichkeit.
    Beitrag für die Abteilung "Soziale Technologien" des Jahresprojektes "Die Offene Stadt: Anwendungsmodelle", Kokerei Zollverein, Essen 2003. Hervorragende Einführung in Klassiker des Netzaktivismus. Sites und Kommunikationssysteme von NetzaktivistInnen werden zum Teil mit ihren wichtigsten Merkmalen (Heath Bunting, Critical Art Ensemble, Electronic Disturbance Theater, etoy/Toywar, Institute for Applied Autonomy, www.0100101110101101.org, Ubermorgen.com, Surveillance Camera Players), zum Teil ausführlicher (RTMark, Makrolab, Textz.com) vorgestellt (2/2004).
  • Fritz, Darko: A Brief Overview of Media Art in Croatia (since 1960s).
    In: culturenet.hr. web protal to croatian culture. panorama: media art 2003. Die Geschichte kroatischer Medienkunst beginnt mit der Ausstellungsreihe "Neue Tendenzen", die 1961 bis 1973 fünf Mal in der Galerie Zeitgenössischer Kunst in Zagreb realisiert wurde. Von abstrakter Malerei und mechanischer kinetischer Kunst verschoben sich bei den "Neuen Tendenzen" die Schwerpunkte zu Computer- und Konzeptueller Kunst. Fritz skizziert die weitere Entwicklung der Medienkunst mit Video, Computer und Internet. Er charakterisiert die Projekte kurz und führt so die Reichhaltigkeit kroatischer Medienkunst vor (2/2004; 9/2022 nicht mehr in culturnet.hr).
  • Morse, Margaret: The Poetics of Interactivity.
    In: Switch Journal. Issue 18/2003 (gekürzt). Druckfassung: Malloy, Judy (Hg.): Women, Art, and Technology. Cambridge/Massachusetts 2003, S.16-33. Morse rekonstruiert Überschneidungen zwischen Partizipation als Strategie gegen soziale Ungleichheit, Interface als technischer Schnittstelle und "Intersubjektivität". Die Möglichkeiten der Interaktion als Dialog mit einem abgeschlossenen Werk, einem technischen System und Menschen werden an Hand verschiedener, sie provozierender (inter-)medialer Präsentationsformen – Performance, CD-ROM, Internet – aufgefächert. Die Webfassung enthält Morses allgemeine Überlegungen zur Interaktion und verzichtet auf die Erörterung von Beispielen, welche die wesentlich längere Druckfassung im Abschnitt "Artists, Gender, and Metainteractive Art" (Women, Art, and Technology, S.23-31) enthält (7/2009; 1/2020: Druckfassung auch im Netz).
  • Ziegler, Henning: When Hypertext became uncool. Notes on Power, Politics, and the Interface.
    In: Dichtung-Digital, Nr.1/2003. Hypertext wurde in der ersten Hälfte der neunziger Jahre "cool" und in der zweiten Hälfte "uncool". Die Rhetorik des Abstiegs war dieselbe, die auch zum Aufstieg verhalf. Das "graphical user interface" (GUI) von Mac und PC sowie die Webbrowser Netscape Communicator und Internet Explorer simulieren eine stabile Datenumgebung (an Stelle der real instabilen Umgebung) und vereinfachen die Funktionsabrufe durch Icons für Klicks an Stelle der schriftlichen Befehlseingabe. Das "Antimac-Interface" (Don Gentner/Jakob Nielsen, 1995) ist als Gegenstück zu den Standard-Interfaces noch Teil einer "imaginären Form", die "eine abwesende sozialpolitische Wirklichkeit" (Louis Althusser) erkennen lässt: Die Absicht der AnbieterInnen war, eine Masse der AnwenderInnen befriedigen zu können, deren Vorstellungen vom Personal Computer mit den anwenderfreundlichen pseudostabilen Interfaces erst geprägt werden sollten. Auch die Möglichkeiten der Interface-Wahl wurden von AnwenderInnen durch das begrenzte Angebot als Teil eines stabilen Zustands wahrgenommen.
    Instabilität bietet ein Arbeitsfeld für Hypertext-KünstlerInnen und -AnwenderInnen. Wenn jedoch ein(e) AutorIn Urheberschaft für ein Projekt reklamiert, dann stellt er/sie es als (ab)geschlossen und von Instabilität sowie KoautorInnen nicht mehr veränderbar vor.
    Die Links von Hypertext-Werken öffnen nicht zur Partizipation, sondern führen begrenzte Wahlmöglichkeiten vor (Zieglers Beispiele: Mark Amerika, Heath Bunting, Stuart Moulthorp). Vielleicht lässt sich, meint Ziegler, mit Peer-to-Peer die Geschlossenheit und Zentralisierung von Interface-Hypertext-Strukturen durch Dezentralisierung (bzw. zur Peripherie verschobener Zentralisierung) auflösen (2/2004).
  • Stallabrass, Julian: The Aesthetics of Net Art.
    Vortrag, 61st Annual Meeting, American Society for Aesthetics, Westin Saint Francis Hotel, San Francisco, 1.-4.10.2003. Druckfassung: Qui Parle. Vol.14/No.1. Fall/Winter 2003-2004, S.49-72. Julian Stallabrass skizziert den kunstkritischen Diskurs über Ästhetik und seine Rolle im Kunstbetrieb des 20. Jahrhunderts. Er zeigt dann, wie Netzkunst aus Bindungen an den Kunstkontext ausbricht: Netzkunst ersetzt das nicht verlustfrei reproduzierbare Sammlerobjekt und seine Ausstellbarkeit im Kunstkontext durch Webprojekte aus reproduzierbaren Elementen, die sich häufig nicht selbst `als Kunst´ ausweisen. Normative Kunstkritik wird durch einen Dialog über das, was Netzkunst sein kann, in Netforen (Mailing Lists) wie Nettime ersetzt. An diesem Dialog beteiligen sich vor allem KünstlerInnen.
    Stallabrass erörtert zwei Werke von Alexei Shulgin (WWW Art Medal, 1995-97; Form Art, 1997) sowie Projekte der Künstlergruppe etoy und die Plattform RTMark für Netzaktivismus. Antoni Muntadas´ The File Room (1994) sieht er als Fortsetzung des Index 01 (1972) von Art & Language. Während Letzterer den ehemaligen Gruppendialog rekonstruierbar machen könnte, wenn die Karteikarten in Ausstellungen zugänglich wären, ist die Database zensierter Werke des "File Room" im Web nicht nur seit Mai 1994 zugänglich, sondern offen für weitere Einträge. Im Unterschied zu "physical databases" (pdf S.9) wie die Index-Systeme von Art & Language trennt digitale Kunst zwischen Interface und Database: "In the new media, the content of the work and the interface are separated; a work in new media can be understood as the construction of an interface to a database" (pdf S.9 mit Bezug auf Lev Manovich: The Language of New Media, Cambridge/Mass. 2001, S.226f.).
    Die Teilnehmer von "non-commercial collaboration" (pdf S.14) an Netzprojekten setzen nicht nur diese Trennung digitaler Medien voraus, sondern entwickeln auch ihre technischen Voraussetzungen in "the free software movement" weiter. Aus "the aesthetic as an ideal of self-realisation" des bürgerlichen Subjekts wird "the networked subject more interested in exchanging – bits and bytes – than pieces." (pdf S.14) Stallabrass erkennt darin mit Michael Hardt und Antoni Negri "the potential for a kind of spontaneous and elementary communism." (pdf S.14, Zitat Dies.: Empire, Cambridge/Massachusetts 2000, S.294) (3/2013; 1/2020).
  • Andrews, Jim: Interactive Audio on the Web.
    In: trAce Online Writing Centre: Review, The Nottingham Trent University, Clifton/Nottingham, 22.9.2003. In diesem Überblick über interaktive Audio-Projekte ist "Electrica" von 1999 (Gundula Markeffsky, Peter Huehlfriedel, Leonard Schaumann) das früheste, noch für den Beatnik Player geschaffene Beispiel. Andrews erläutert außerdem Online Synthesizer. Die Linkliste enthält interaktive Audio-Netzprojekte und Online-Sequenzer (sowie nicht interaktive und Offline-Audio-Projekte). Einige Projekte verbinden die audielle mit einer visuellen Ebene, die nicht nur audiellen Funktionen dient, sondern dem Projekt auch weitere Elemente hinzufügt (2/2004; 1/2020).
  • Arns, Inke: Soziale Technologien. Dekonstruktion, Subversion und die Utopie einer demokratischen Kommunikation.
    In: Daniels, Dieter/Frieling, Rudolf (Hg.): Medienkunstnetz. Medienkunst im Überblick: Gesellschaft. Goethe-Institut, München/ZKM Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe/Hochschule für Graphik und Buchkunst, Leipzig 2004 (Website; Buch: Daniels, Dieter/Frieling, Rudolf (Hg.): Medien Kunst Netz 1: Medienkunst im Überblick, Wien 2004). Arns skizziert, wie KünstlerInnen aus alternativem Mediengebrauch Grundlagen für die Bildung von Gegenöffentlichkeit und aktivistische Strategien entwickelt haben. Die historischen Ausgangspunkte sind die Cut-Up-Technik von Brion Gysin (mit William Burroughs, 1.10.1959) sowie der alternative TV-Gebrauch von Nam June Paik und Wolf Vostell Anfang der sechziger Jahre. Die Auseinandersetzung mit Möglichkeiten der Zwei-Weg-Kommunikation, in der jeder Beobachter/Empfänger zum Teilnehmer/Sender werden kann, führt in den sechziger und siebziger Jahren zu (re- und) interaktiven Projekten für Aktionen (mit Closed-Circuits), Installationen mit Closed-Circuits, Cable-TV und Internet. Strategien des Video- und Medienaktivismus werden in den neunziger Jahren im Netzaktivismus fortgeführt, modifiziert und um neue Möglichkeiten erweitert. Arns skizziert in ihrer "Zusammenfassung" eine Dialektik von post-utopischen und utopischen Ansätzen (2/2004).
  • Bosma, Josephine: Die Konstruktion von Medienräumen. Zugang und Engagement: das eigentlich Neue an der Netz(werk)kunst.
    In: Daniels, Dieter/Frieling, Rudolf (Hg.): Medienkunstnetz. Medienkunst im Überblick: Gesellschaft. Goethe-Institut, München/ZKM Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe/Hochschule für Graphik und Buchkunst, Leipzig 2004 (Website; Buch: Daniels, Dieter/Frieling, Rudolf (Hg.): Medien Kunst Netz 2/Media Art Net 2: Thematische Schwerpunkte/Key Topics, Wien/New York 2005, S.264-308). Unter Public Domain werden frei zugängliche, von keiner Zugangsbeschränkung durch Urheberrechte oder Anderes blockierte Bereiche verstanden. "Public Domain 2.0" bezeichnet freien Zugang zu technischen Medien. Public Domain 2.0 wird auch in Netzkulturen fassbar, die Konnektivität (Verbindungen) zu Menschen, Medienkanälen, technischen Mitteln und Wissen restriktionsfrei bündeln.
    KünstlerInnen schufen Projekte für eine Public Domain 2.0 durch neuartige Internetzugänge unter Anderem via Environments und Performances. Außerdem initiierten sie Plattformen und Treffpunkte im Internet: Bosma stellt die Geschichte von Plattformen wie The Thing, Public Netbase, nettime und Rhizome vor, denen eine "neue Vielfalt" in weiteren Plattformen wie Sarai, Furtherfield, Netartreview und Empyre folgte.
    Das primäre Ziel war, das neue Kommunikationsmedium des Internet experimentell zu erkunden und gleichzeitig zu praktizieren. KünstlerInnen verstanden selbst initiierte Plattformen zeitweilig als Kunstwerk, distanzierten sich aber von ihrer Zuschreibung des Status Kunst angesichts der über Kunstfragen hinausreichenden Konsequenzen des Dialogs um Erreichtes und Geplantes auch wieder.
    Der Avantgardeanspruch, der sich aus der Suche nach neuen Kommunikationsweisen durch neue technische Möglichkeiten ergab, wurde nicht einzelkämpferisch, sondern im Dialog mit MitstreiterInnen vertreten: Inklusionen statt Exklusionen. Mal standen künstlerische Projekte im Vordergrund, mal technische, soziale, juristische Probleme und ihre Bedeutung für die Zukunft des Internet.
    Die Plattform Runme (ab 2000) enthielt Links zu Künstlersoftware, die als Open Source verfügbar war und in den Festivals Readme 100 (2002-2005) diskutiert wurde. Die Software lieferte Algorithmen für weitere Kunstprojekte, Open Source war ihre juristische Basis und die sozialen Veränderungen, die durch die nichtproprietäre Software, ihre Anwendungen und Weiterentwicklungen möglich waren, lieferten zu Beginn des 21. Jahrhunderts den über Netzkunst hinausreichenden Horizont: "...I would argue that most software art is part of the public domain 2.0..."
    Bosma stellt das Wechselverhältnis von Kunst und Kommunikation in den Plattformen, besonders in nettime, ausführlich vor. Dabei wurden die Rollenstandards von KünstlerInnen, KritikerInnen, KuratorInnen und RezpientInnen durch Partizipationen auf allen Ebenen unterlaufen: "This means we have to look for new professional relationships with the arts...The new arts are about engagement. This engagement asks for a more conscious approach of the mediated environment artists, audience, but also critics and art institutions now work in...Art in the Public Domain 2.0 is therefore first and foremost a site of media awareness and power struggles."
    Das Engagement an einer gemeinsam gestalteten Kommunikationspraxis, in der noch zu schaffende Netzbedingungen mindestens so wichtig waren wie Kunstprojekte, ist von Filterblasen abgelöst worden. Bosmas Beitrag erinnert uns wieder daran (1/2020).
  • Daniels, Dieter: Interaktion versus Konsum. Massenmedien und Kunst von 1920 bis heute.
    In: Stocker, Gerfried/Schöpf, Christine (Hg.): Ars Electronica 2004. Timeshift – The World in Twenty-Five Years. Die Welt in 25 Jahren. Kat. Ausst. Ars Electronica Center Linz/Ostfildern 2004, S.153-159. Dieter Daniels skizziert "die Entstehung des Radios aus dem Funk." Als Funkgeräte selbst bauende AmateurInnen mit der im Ersten Weltkrieg forcierten technischen Entwicklung in der Lage waren, Sprache und Musik auszustrahlen, richteten diese "kleine, regelmässige `Sendungen´" ein. Während in Amerika der Rundfunk privat gefördert wurde, um AbnehmerInnen für die ab circa 1921 begonnene Radioproduktion zu finden, finanzierten europäische Staaten Rundfunksender. Radio, rein technisch für Projekte mit Teilnahme der ZuhörerInnen einsetzbar, wurde in den Zwanziger Jahren zum Sendemedium: Ein- statt Zwei-Weg-Kommunikation. Bertolt Brecht hat in seiner Radiotheorie diese Nutzung als Ein-Weg-Medium kritisiert und 1929 in seinem Hörspiel Der Lindberghflug seinen Zuhörern/Zuhörerinnen eine Anleitung zum "singen, sprechen, summen" "vor den Radioapparaten" gegeben. Als die "Auftragskomposition für den deutschen Rundfunk" nicht ausgeführt wurde, realisierte ihr Autor eine "szenische Aufführung" und "placiert" den Rundfunk auf der Seite der Bühne und "auf der anderen Seite den Hörer" (Brecht).
    An Hand des Bulletin Board Systems "The Thing" (ab 1991) und der Internationalen Stadt Berlin (1994 bis 1997) zeigt Daniels, wie KünstlerInnen im Internet und Web partizipative Projekte realisierten, bevor die New Economy Offenheit für Kollaboration in eine "Aktivierung des Publikums durch...Mainstream-Medien" umwandelt, deren Entwicklung von Investoren- und Werbeinteressen geleitet wird. Die vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) entwickelte HyperSoap (ab 1998) dient Daniels als Beispiel für Product Placement, das ZuschauerInnenbeteiligung auf eine "direkte Bestelloption" reduziert. Als künstlerische Reaktion auf die "Kommerzialisierung des Netzes" stellt Daniels das Projekt "Public White Cube" vor: Joachim Blank und Karl-Heinz Jeron, Mitbegründer der Internationalen Stadt Berlin, versteigerten 2001 über e-Bay "das Recht zur Veränderung" der [zum Projekt gehörenden] Ausstellung und der Kunstwerke" und erzielten Angebote bis zu 200 DM. Diese Vermarktung der Partizipation sei ein "post-utopisches Zeichen", das an die Utopien zu Beginn des Internet erinnere (und aufzeigt, warum diese nicht eingelöst wurden).
    Daniels stellt in seinem Beitrag zum Katalog der Ars Electronica 2004 Forschungsergebnisse seines Buches "Kunst als Sendung. Von der Telegrafie zum Internet" (München 2002) vor (3/2013).
  • Cramer, Florian: Words Made Flesh. Code, Culture, Imagination.
    In: Media Design Research, Piet Zwart Institute. Willem de Kooning Academy Hogeschool Rotterdam. Rotterdam 2005. Cramer schreibt eine Geschichte der Computation. Computation umfasst Kalkulation und Algorithmen in der Sprache und im Einsatz von Technologie. Außerdem stellt Cramer Wissen systematisierende Icons im Medium Buch als Vorläufer des Graphical User Interface vor.
    Religiöse und spekulative Systeme gliedern ihre Daten durch Bildsprachen (Campanella, Johann Valentin Andreae, Jan Amos Comenius). Mystik, Weltwissen oder die Beschaffenheit der Welt werden von Jüdischer und Christlicher Kabbala, Raimundus Llullus und Llullismus (17. Jhdt.) als aus wenigen Regeln generierbar vorgestellt. Formen der Permutation werden entwickelt, die Formallogik antizipieren. Die Kalkulationssysteme und Hilfsmittel zur Generierung von Algorithmen werden entweder mit analytischen Kriterien von Semantik gereinigt (formale Syntax), oder sie bilden den Kern religiöser, religiös inspirierter und spekulativer Denkweisen. Im Kapitel "Computation as a Figure of Thought" werden die Charakteristika einer Geistesgeschichte der Computation systematisiert.
    In Permutationen der sechziger Jahre werden schon in der Wahl des Wortmaterials unterschiedliche Absichten angezeigt: Brion Gysin erinnert mit "In the Beginning Was The Word" an das bekannte Bibelzitat (Johannesevangelium 1,1) und provoziert durch ungewohnte Wortfolgen `Erleuchtung´ bzw. Möglichkeiten, Bedeutungspotentiale zu entdecken. Eugen Gomringer dagegen führt seriell von Zeile zu Zeile in dem wiederholten Satz kein fehler im system eine Buchstabenverschiebung (das "f" in "fehler") so vor, dass die Regel sich in der Ausführung selbst ausweist und den scheinbaren Fehler wiederlegt. Mit dem Vergleich von Gysin und Gomringer exemplifziert Cramer die Unterschiede zwischen "semantischer" und "formalistischer" Programmierung in der literarischen Neoavantgarde.
    Die Hauptvertreter der Informationsästhetik, Max Bense und Abraham Moles, wurden von der Situationisten angegriffen. An die situationistische Aufwertung von Phänomenen und Quellen moderner Kunst, die in Benses Informationsästhetik nicht integrierbar sind, knüpft die "generative Psychogeographie" von Socialfiction.org an: Der romantische Flaneur, nach Cramer der Vorläufer situationistischen Umherschweifens, wird in ".walk", einem Algorithmus zur Wegfindung, wieder belebt.
    Social Fictions Begriff des "Spekulativen Programmierens" liefert Cramer das Motto zu seiner Kulturgeschichte der Computation. Einer rational-konstruktiv ausgerichteten Programmierung von Literatur im Sinne der Informationsästhetik (Theo Lutz, Reinhard Döhl) hält Cramer die `poetischen´ Verfahren der Gruppe Oulipo (Raymond Queneau, Georges Perec, Italo Calvino) entgegen und stellt sie als Beispiele für Spekulatives Programmieren vor. Wie sich algorithmische Zwänge kompensieren lassen, wird an Beispielen von Mitgliedern der Gruppe Oulipo gezeigt. Cramer skizziert ihre literarischen Verfahren, die den rationalen Rahmen durch die Art verlassen, wie sie die Imagination des Lesers provozieren. Oulipo öffnet Spekulatives Programmieren für Software Art, Netzkunst und Codepoetry: Mary-Anne Breeze (MEZ), I/O/D, Netochka Nezvanova, Alan Sondheim und Adrian Ward liefern Beispiele für dystopische Strategien, die Illusionen über die Berechenbarkeit von Welt und ihre vollständige Rekonstruierbarkeit durch Algorithmen zerstören.
    Anders als in technisch ausgerichteten Medientheorien werden von Cramer Spekulation und Imagination nicht als Nebeneffekte, sondern als Kern der Computation vorgestellt (6/2006).
  • Medosch, Armin: Technological Determinism in Media Art.
    Sussex University, Interactive Digital Media, MA thesis paper, Oktober 2005. Ein "technologischer Determinismus" bestimmte die Medienkunst bis 1995. Das Leitthema der Simulationswelten führte nicht zur kritischen Thematisierung der technischen Voraussetzungen. Ein Diskurs des Virtuellen und Digitalen wurde etabliert, der in Institutionen wie der Ars Electronica in Linz oder dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe (ZKM) einflußreich wurde. Dieser Diskurs wurde mit postmodernen Theorien untermauert, wobei Medosch in seiner Darstellung nicht zwischen medienorientierten Ansätzen von Paul Virilio sowie Vilém Flusser und philosophisch ausgerichteter Dekonstruktion der Moderne von Jacques Derrida, Gilles Deleuze und Jean-François Lyotard unterscheidet. Die kritische Haltung von Jean Baudrillard gegenüber Simulationswelten bleibt ausgeklammert.
    Medosch äußert, ohne auf die Rezeption von Diskursen über Moderne und Postmoderne im Kunstkontext einzugehen, dass im Diskurs über Medienkunst die Kritik postmoderner Theorien an "ideologies of dominance" nicht aufgenommen wurde: Hier hätte zum Beispiel rekonstruiert werden können, wie Peter Weibel die Repräsentations- und Herrschaftskritik postmoderner Theorien (Baudrillard, Flusser, Virilio) in seine künstlerische Praxis (mit Videos und Computer), Theorien und Publikationen integriert.
    Mit Forschungsprojekten wie Artificial Intelligence (AI) und Artificial Life (AL) steckte "Technoscience" die Erwartungen ab und konstituierte ein "Techno-Imaginäres". Medosch markiert den Umschlag ins ontologisch Digitale bei Roy Ascott, Paul Virilio und Peter Weibel: Das Digitale wurde zur Grundlage alles Analogen und digital organisierte Simulationswelten wurden zum Modell, Wirklichkeit zu erforschen. "Parallel prozessierende Netzwerk Computer" (Weibel 1996) wurden als Modelle menschlichen Denkens vorgeführt – und Digitale Kunst führte dieses Modell als Weltbild vor. Leider thematisiert Medosch nicht, wie sehr sich der in das Zentrum seiner Kritik gerückte Peter Weibel mit seinem an technischen Möglichkeiten ausgerichteten Mediendiskurs (Die Beschleunigung der Bilder, Bern 1987) und mit seinen Ausstellungsprojekten der Achtziger und frühen Neunziger Jahre von einem Kunstbetrieb abzusetzen verstand, der auf das klassische statische Sammelobjekt fixiert war. Weibel favorisierte und favorisiert den Projektstatus von die Zeitdimension integrierenden reaktiven Systemen. Allerdings versteht Weibel unter Projekt die Frage, wie weit sich ein Werk als Modell in einem wissenschaftlich ausgerichteten Diskurs ausweisen lässt.
    Die Medienpraxis in den neunziger Jahren führte zu einer Veränderung der Bedeutung des Begriffs `Projekt´. Software-Entwicklungen als und für Kunstprojekte wurden Bestandteile von Datenbanken für Free Software und damit offen für weitere Entwicklungen: der technologische Determinismus wird aufgelöst. Doch Medosch stellt die Ablösung des technologischen Determinismus nicht auf diese Weise vor.
    Dass noch die Durchsetzung des Internet mit dem Schlagwort "Datenhighway" an technologischen Determinismus anschließt, erwähnt Medosch, und setzt die Praxis von NetzkünstlerInnen und -aktivistInnen davon ab. Wissen über und Umgang mit Technik ist nicht mehr elitär und dienen nicht mehr der Gründung von Institutionen für Medienkunst (Ars Electronica Center in Linz, Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe, NTT InterCommunication Center in Tokio), die mit ihrem Programm und ihrer Praxis Kunst und Wissenschaft sponsorengerecht und an Drittmittelwerbung angepasst verbinden. Medosch setzt hier die Free Software Entwicklung zur Markierung der Überschreitung des technologischen Determinismus ein.
    Medosch kritisiert die Schlüsselrolle, die Lev Manovich in seiner Fortschrittsgeschichte von russischen und deutschen experimentellen Filmen der Zwanziger Jahre über Computerspiele zu Projekten für Internet-Databases dem Hyperrealismus von digitalen Simulationswelten gibt. Montage, Zentralperspektive und Multilinearität werden von Manovich als im russischen Avantgardefilm antizipierte Eigenschaften ausgewiesen, die in späteren, neue Technologie aufgreifenden Projekten nur noch konsequent ausgebaut werden mussten. Der an Manovich exemplifizierte Topos der Legitimation des Neuen durch das Alte und Etablierte wird von Medosch im Rekurs auf Siegfried Zielinski (Archäologie der Medien..., Hamburg 2002, S.11) kritisiert. Allerdings hatte Bazon Brock die Sicht auf das Alte mit an neuer Kunst gewonnenen Beobachtungsweisen bereits in den Achtziger Jahren gefordert. Brocks Konzept des "Kommunikationsdesign" antizipiert Aspekte des Interactive Design und seiner Auslotung der Medienmöglichkeiten im Hinblick auf neue Weisen der Verständigung (Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Köln 1986, S.102-108, 350-355, 365ff. u.a.).
    Bei der Ausrichtung von Studiengängen für "Interactive Design" geht es auch wieder um Fragen der (Selbst-)Institutionalisierung alternativer Theorien, Technologien und Strategien: So viel zum Kontext, in dem Medoschs Text entstand (6/2006).
  • Cramer, Florian: Exe.cut[up]able Statements. Poetische Kalküle und Phantasmen des selbstausführenden Texts.
    Dissertation Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Freie Universität Berlin 2006/München 2011. Florian Cramer konfrontiert in seiner Dissertation über "Poetische Kalküle" zwei Entwicklungen miteinander:
    1. Ableitungen von Worten aus Kombinationen weniger Grundeinheiten werden im Kabbalismus des 16. und 17. Jahrhunderts als Ableitungen aus universalen Gegebenheiten verstanden und theologisch begründet. Cramer stellt Quirinus Kuhlmanns "XLI. Libes-kuß" (Erstpublikation 1671 in "Himmlische Libes-küsse") als "Summe der Proteusdichtung des 17. Jahrhunderts" (pdf S.89/Buch S.87) vor und interpretiert das Gedicht auf mehr als 60 Seiten. Cramer zeigt, welche Vorläufer Kuhlmann in seine "Himmlichen Libes-küsse" integriert und interpretiert dessen "Wechselrad" als "Proteus-Versifikationsmaschine" (pdf S.130/Buch S.129), aus deren "Permutationsalgorithmus" (pdf S.132/Buch S.131) sich die Elementkombinationen des Weltalls (Kosmologie) ableiten lassen: Die von Julius Caesar Scaliger 1561 nach dem sein Äußeres wandelnden Gott Proteus genannte Dichtung (pdf S.69/Buch S.69) ist theologisch geleitete "Wortpermutations-Poetik" (pdf S.82/Buch S. 81).
    2. Aus den kosmologischen Ableitungen der Weltzusammenhänge in der Proteusdichtung des 16. und 17. Jahrhunderts (s. 1.) werden im 20. Jahrhundert Spekulationen über weltimmenente Zusammenhänge, so zum Beispiel in der Pataphysik (pdf S.204f./Buch S.202f.). Cramer zeigt, wo und wie sich in der Literatur des 20. Jahrhunderts Permutationen und Rekursionen mit Spekulationen über Zusammenhänge in der Welt treffen. Aus der kabbalistischen Ableitung des Mikrokosmos aus dem Makrokosmos wird ein "Mikrokosmos des viralen Zeichens [, der] in den Makrokosmos hinein wirkt..." (pdf S.285/Buch S.280). An Mary-Anne Breezes Codepoetry "_Vivo.Logic Condition][ing]]1.1_" (2001, pdf S.271f./Buch S.267f.) führt Cramer die Zusammenhänge von Codierung, Sprache und Viren vor, die in William S. Burroughs spekulativer Poetik der "Electronic Revolution" (pdf S.277/Buch S.272) antizipiert wurden. Die Parallelen von biologischen Viren und Computerviren führen zu einer "Poetik der Ansteckung", "...der ansteckenden Wirkung sowie der Ansteckung bereits in der Struktur der Sprache" (pdf S.285/Buch S.280).
    Am Programm "POE" (1990) von Ferdinand Schmatz und Franz-Josef Czernin zeigt Cramer, weshalb er computergenerierte Poesie als gescheitert betrachtet. Den Rechenprozessen entspringt keine künstliche Intelligenz, wie raffiniert auch immer sie programmiert sein mögen (pdf S.298ff./Buch S.296): "Die Enttäuschung dieser Verheißungen führt historisch zum wiederholten Zusammenbruch technozentrischer Kunstprogramme." (pdf S.302/Buch S.298) Entweder wird Programmierung mit fantastischen Erwartungen aufgeladen, oder Programme werden zu Elementen fantastischer Vorstellungen: "Von Zaubersprüchen bis zu Computerprogrammcode ist Schrift, die sich selbst vollzieht, sowohl Technik als auch Phantasma." (pdf S.7/Buch S.9) (2/2013).
  • Manovich, Lev: Deep Remixability.
    Media Design Research. Piet Zwart Institute. Willem de Kooning Academy Hogeschool Rotterdam. Rotterdam, Herbst 2005-Frühjahr 2006. Manovich beschreibt am Beispiel der Animationssoftware "After Effects" (1993) den Wandel, der sich aus der Verfügbarkeit von Dateien verschiedener Herkunft (Fotografie, Film, Video, Live Action, Typographie, Design) in einem Frame ergibt. Die Möglichkeit, beliebig viele Elemente in transparenten Schichten zu bearbeiten, ersetzt das Paradigma `reiner Medien´ durch "ein neues Metamedium", das "nur Hybrids erzeugt" und löst die Montage nebeneinander plazierter Elemente ab: "remixability of previously separate media languages." Der zweidimensionale Frame wird nach 2000 von dreidimensionalen Arbeitsgrundlagen abgelöst (Beispiel: Flame). Ebenen werden dreidimensional in einem Cartesianischen Raum angeordnet und können separat bearbeitet werden. In "deep remixability" und in der "Figur der Inversion" sieht Manovich den Kern eines Paradigmenwechsels von der Gutenberg-Galaxis zum bewegten Bild (Motion Graphics). Die "modulare Medienkomposition" erlaubt es, Elemente einzeln zu bearbeiten und ist objektorientiert: "Die Raumdimension wurde so wichtig wie die Zeitdimension." (10/2006)
  • Hayles, N. Katherine: Electronic Literature: What Is It?
    In: Electronic Literature Organization. Vol. 1.0. 2007. Leicht modifizierte Druckfassung: Hayles, N. Katherine: Electronic Literature. New Horizons for the Literary. Notre Dame/Indiana 2008. Chapter 1, S.1-42. Ihre Einleitung in elektronische Literatur schrieb N. Katherine Hayles für die Plattform Electronic Literature Collection (s.o.). Sie stellt "Formen elektronischer Literatur" wie "hypertext fiction, network fiction, interactive fiction, locative narratives, installation pieces, `codework´, generative art and Flash poem" an Beispielen vor, von denen viele in der Electronic Literature Collection enthalten sind.
    Hayles skizziert dann Thesen wichtiger Interpreten elektronischer Literatur. Den teilweise "extravagant claims" von George Landow und Jay David Bolter stellt sie Espen J. Aarseths Einwände gegen die angebliche Freiheit der LeserInnen beim Eruieren von Hypertext-Pfaden entgegen. Behauptungen über Verbindungen zwischen "deconstruction and electronic literature" haben Bolter und Landow in neueren Publikationen überarbeitet.
    Über Lev Manovichs Begriff des "transcoding" – der Übertragung von "ideas, artifacts, and presuppositions from the `cultural layer´ to the computer layer´" – (Language of New Media, s.u.) leitet Hayles zu der von Florian Cramer hervorgehobenen Bedeutung von Notation, Algorithmus und Code (Words Made Flesh, s.o.). Die Problematik der Zusammenhänge von Software und Hardware erweitert sie zu kulturellen Fragestellungen der Mediengeschichte mit Friedrich A. Kittlers technisch ausgerichtetem Ansatz, dem sie Mark Hansens "powerful arguments for the role of the embodied perceiver" gegenüber stellt. An diesem Gegensatz zeigt Hayles die Notwendigkeit auf, die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen des Mediengebrauchs in Interpretationen von Computerkunst zu integrieren. Hintergrundwissen und Thesen dazu liefern von Hayles empfohlene Bücher von Alan Liu, Alexander Galloway (mit Eugene Thacker), Rita Raley und Adrian Mackenzie. In ihrem Buch über "Electronic Literature" schreibt Hayles in der im Kapitel "Contexts for Electronic Literature: The Body and the Machine" weiter geführten Diskussion der Schriften von Kittler und Hansen: "...media and cultural formations interact" (S.119) in historischen Prozessen, und sie erwähnt einige Konsequenzen für die "computational practice" der LeserInnen. Von diesen Konsequenzen leitet Hayles in ihrem Buch zum Thema über, "How Electronic Literature Revalues Computational Practice" (10/2009).
  • Fourmentraux, Jean-Paul: Les dispositifs du Net art. Entre configuration technique et cadrage social de l´interaction.
    In: Techniques & Culture. Revue semestrielle d´anthropologie des techniques. No. 48-49. Janvier – décembre 2007, S.269-302 (leicht modifizierte Version des «Chapitre 3» in Fourmentrauxs «Art et Internet. Les nouvelles figures de la création», Paris 2005, S.77-107). Fourmentraux stellt eine Typologie der Netzkunst aus "Dispositiva" vor, in denen technische Konfigurationen und soziale Handlungsfelder sich wechselseitig konstituieren. An Hand überwiegend französischer Beispiele (Valéry Grancher, Reynald Drouhin, Antoine Moreau, Grégory Chatonsky u.a.) beschreibt Fourmentraux, für welche «dispositifs à exploration» die Kunstwerke im Internet installiert wurden: Er erkennt fünf Arten, nicht-partizipative Werke zu konfigurieren. Während Fourmentraux sich hier mit einer Systematisierung der technischen Möglichkeiten begnügt, gelingt ihm bei re- und interaktiven Werken eine weiter reichende Kategorisierung. Er findet folgende drei Typen, Handlungen von RezipientInnen zu integrieren:
    1. die Aktivierung («une activation») einer programmierten Funktion,
    2. die «altération» als Beitrag in einer Folge von Beiträgen und
    3. die auf Beiträge anderer TeilnehmerInnen reagierende «alteraction».
    (4/2015).
  • Types d´oeuvres interactives

    «Types d´oeuvres interactives»

  • Seifert, Uwe: The Co-Evolution of Humans and Machines. A Paradox of Interactivity.
    In: Seifert, Uwe/Kim, Jin Hyun/Moore, Anthony (Hg.): Paradoxes of Interactivity. Perspectives for Media Theory, Human-Computer Interaction and Artistic Investigations. Bielefeld 2008, S.8-23. Seifert bietet eine Einführung in Theorien der Interaktivität und hebt die Rolle der New Media Art bei der Erforschung neuer Möglichkeiten für Human-Computer Interaction (HCI) und Human-Roboter Interaction (HRI) hervor.
    Gegenüber dem Menschen als Handelnden emanzipiert sich der Computer vom passiven zum aktiven Gegenspieler: In "x acts upon y" (Mario Bunge) werden Mensch und Computer in den Positionen x und y reversibel. Computer sind nicht nur "patients", sondern auch "agents". Der Computer reagiert auf Menschen und übernimmt als Reagierend-Agierender die "agency", die auf Menschen einwirkt. Es entstehen "soziotechnische Systeme". Hans Lenk und Jürgen Ropohl konzipieren die Mensch-Computer Relation asymmetrisch, da Intentionalität und Zielsetzung keine Eigenschaften von Rechnern sind. Die Actor-Network Theory konzipiert die Relation in "socionics" jedoch symmetrisch (Bruno Latour).
    In "intelligence augmentation" verschmelzen Mensch und Maschine "that neither can do in its own" (David Harel). Zum "internal model", das sich Menschen von ihren eigenen Fähigkeiten schaffen, gehören nicht nur Raumwahrnehmung und Körperkoordination, sondern auch die symbolische Interaktion in sozial vorcodiertem Umfeld. Daraus ergibt sich eine "affordance" (James J. Gibson, Donald Norman) aus von Medien provozierten Aktionsweisen (Angebotscharakter von Objekten, Umgebungen und Computern), die Kognition und Körperkoordination ermöglichen. Das zur "affordance" komplementäre Konzept liefert "efficiency". Aus dem wirkungsvollen Einsatz der Aktionsmöglichkeiten ergeben sich wiederum Perspektiven über deren Erweiterbarkeit. Hier liefert New Media Art "test beds" für neue Entwicklungen, wofür sie auch WissenschaftlerInnen einsetzen.
    "Mediality" steht für die medienbedingte Entwicklung von Kultur: In Prozessen mit "interactants" wird das soziale Umfeld mit seiner Prägung durch Vermittlungsformen, Vermittlungen und Vermitteltem erzeugt, erhalten und verändert.
    Nach Sherry Turkle erscheinen Menschen und Computer in diesem Prozess in symmetrischen Relationen, "as partners". Edwin Hutchins´ Konzept der "cognitive artifacts" betont die Funktion der Prozesse gegenüber Objekten beim Erzeugen kognitiver Wirkungen und dem Erwerb neuer Fähigkeiten. Die Frage, wie "cognitive artifacts" die sozialen Interaktionen von Menschen mit Maschinen beeinflussen, wird zur entscheidenden Forschungsfrage, die auch zu Aufschlüssen darüber führen kann, wie sich Menschen als "decentered self" (Turkle) konzipieren – in Reaktion auf und mit ihrem medialen und sozialen Umfeld (8/2009).
  • Weiß, Matthias: Netzkunst. Ihre Systematisierung und Auslegung anhand von Einzelbeispielen.
    Dissertation Philosophische Fakultät, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau 2008/Weimar 2009. Matthias Weiß (heute: Matthias Kampmann) will Netzkunst in das "System Kunst" integrieren. Dieses System ist für Weiß offenbar ein Ideal der Kunstgeschichte, während der Kunstbetrieb (Kunstkritik, Kunsthandel, Kunstmuseen wenig Versuche unternahm, Netzkunst zu integrieren: Kunst, die gehandelt und in Museen ausgestellt wird, und Netzkunst bleiben getrennte Bereiche. Weiß folgt Niklas Luhmanns Versuchen, zwischen Kunst und Nicht-Kunst eine Grenze zu bestimmen (pdf S.57,64ff.,212f./Buch S.102f.,116ff.,358f.) – nicht ohne Bemühungen, diese Grenze wiederum durch Erweiterungen des Kunstbegriffs als verschiebbar auszuweisen. Auch Überschreitungen und Grenzverwischungen zwischen Kunst und Nichtkunst wie der "Toywar" zwischen der Künstlergruppe etoy und dem Spielwarenhersteller eToys schlägt Weiß dem "System Kunst" zu.
    Den Versuch des Spielwarenversenders eToys Inc., der Künstlergruppe den Domainnamen etoy.com mit juristischen Mitteln streitig zu machen, hat die Künstlergruppe erfolgreich abgewehrt. Sie hat sich den Domainnamen auch nicht abkaufen lassen. Die medienaktionistischen Mittel gegen eToys Inc. waren für etoy die Voraussetzung für die Fortsetzung der künstlerischen Arbeit an ihrer unter dem strittigen Domainnamen bekannten Website, auf der dann auch der "Toywar" inszeniert wurde. Doch muss die aktionistische Gesamtstrategie des "Toywar" von etoy und ihren Unterstützern gegen eToys mit Weiß als Kunst verstanden werden? Sein Versuch, dem "Toywar" den Status Kunst zuzusprechen, überzeugt nicht.
    An Henry Flynt´s Argumentation in Concept Art (1963), dass Entwicklungen ursprünglich künstlerischer Ansätze auch zu etwas führen können, was nicht mehr Kunst genannt werden muss, schließt Weiß nicht an. Er rückt die technischen Voraussetzungen – Rechenprozesse, Codierung und Telekommunikation – in seinen Interpretationen einzelner Netzprojekte ins Zentrum seiner Argumentation, womit er auch die Möglichkeit gehabt hätte, Fragen zum Status Kunst so offen wie Henry Flynt zu lassen. Weiß hätte den Browser Web Stalker (1997) von I/O/D (Matthew Fuller, Colin Green, Simon Pope) auch mit Matthew Fuller (1998 in "Means of Mutation") als "not-just art" einordnen können. In seiner Zuordnung des "Webstalkers" zum Kanon der Netzkunst erkennt Weiß zwar den Doppelcharakter zwischen "Werkzeug-" und "Kunsthaftem" (pdf S.140/Buch S.241), doch will er das "Werkzeughafte" über das Performative ("Mittel der Inszenierung", pdf S.140/Buch S.241) an das "System Kunst" anschließen. Dass dieses Performative ein Problem des Designs aller Browser und nicht nur von "Kunstbrowsern" ist, erwähnt Weiß nicht: Er entkommt dem Problem der Rezipierbarkeit des "Web Stalker" sowohl als alternativer Browser wie auch als "Kunstbrowser" nicht.
    Weiß integriert die erwähnten Projekte in seine Einteilung von Netzkunst in "Oberbegriffe". Mit dieser Einteilung stellt Weiß Netzkunst als gegliedertes System vor, um es als Subsystem in das "System Kunst" integrieren zu können (pdf S.64ff.,89,212f./Buch S.116ff.,156,357ff.). Browserkunst, Generative Netzkunst, Aktivismus, Mutuale Netzkunst, Konzeptuelle Netzkunst, Netzkunst-Installation und Performative Netzkunst stellt er sowohl in Bestimmungen ihrer Charakteristika als auch in Einzelinterpretationen vor.
    Weiß geht in seiner Interpretation von Alexej Shulgins Form Art (1997, als Beispiel für Browserkunst) ausführlich auf den Quellcode ein. Weiß stellt die technischen Netzbedingungen als Grundlage von Netzprojekten vor und setzt sie als Ausgangspunkt zur Frage der Abgrenzung der Netzkunst von Nicht-Kunst ein.
    Mit Richard Kriesches Telematischer Skulptur 4 (1995) und Stelarcs Ping Body (1996) wählt Weiß Beispiele, die vor ihm kein(e) AutorIn zur Vorführung der Eigenschaften von Netzkunst heranzog. Die genannten Werke von Kriesche und Stelarc wählt Weiß als Beispiele für seine "Oberbegriffe" "Netzkunst-Installationen" und "Performative Netzkunst". Die "Lücke" (pdf S.213/Buch S.359) zwischen `als Kunst´ anerkannten Medienformen und Netzkunst will Weiß unter Anderem mit Anschlüssen von Kriesches Projekt an Expansionen der Skulptur und von Stelarcs Vorführung an Performance Art schließen.
    Weiß gibt seinem Kategoriensystem den Status vorläufig, für Evolution offen. Weiß berücksichtigt zwar, dass der Wandel der Netzkunst auch zu Netzbedingungen führen kann, an die sich sein System nicht mehr anpassen lässt. Er zieht aber nicht die Konsequenz, Netzkünste zuzulassen, die sich nicht notwendig zu einem "System" zusammenschließen – als ob Begriffe wie "Hybrid Art" oder die Öffnung der Kunstgeschichte zur Bild- und Medienwissenschaft nicht schon zeigen, dass in Untersuchungsmethoden der Kunstgeschichte mit der Abgrenzung des eigenen Bereichs in der institutionalisierten Auffächerung der Wissensfelder und Fakultäten relativ sorglos umgegangen und eine Vielheit von Medienpraktiken untersucht wird, die nicht notwendig ein Arbeitsfeld bilden müssen, das als (Teil des) "System(s) Kunst" rekonstruierbar ist.
    Übernahmen von Methoden aus anderen Bereichen führen zu Neueinschätzungen des Investigationswürdigen, wobei Überschneidungen von Themen mit Forschungsbereichen anderer Fächer (siehe Performance Art, Fotografie und Film) das interdisziplinäre Wechselspiel nur fördern.
    Das Projekt einer interdisziplinären Weiterentwicklung der Methoden zur Auseinandersetzung mit jüngeren Entwicklungen ersetzt die Abwehr jeder Gefährdung von Fachgrenzen. Mit der Entwicklung von Methoden kann auf die Medien- und Fachgrenzen ständig auflösenden technischen Entwicklungen und Verknüpfungen von Übertragungssystemen reagiert werden. Dabei störende Fachgrenzen lassen sich überwinden. (3/2013; 1/2020)
  • Manovich, Lev: Software Takes Command. Version 11/20/2008.
    Fassung ohne Endredaktion, mit Anmerkungen in Word, ohne Illustrationen. Publikation der Software Studies Initiative. University of California, San Diego (UCSD). La Jolla 2008 (Druck: London 2013). Manovich vertieft sich in den ersten vier Kapiteln (Part 1-2/Chapter 1-4) erneut in Fragen der "remixability" und der "modularity", die er als Aspekte einer aus Kultur entstandenen und sie zunehmend mehr durchdringenden sowie verändernden Digitalisierung (Computer als "metamedium") vorstellt. Von den Konzepten Alan Curtis Kays und einer Forschergruppe im Palo Alto Research Center (Xerox) für Interfaces von Computern (Graphical User Interfaces/GUI mit Windows), die auch Kinder bedienen können und die mehr als nur Remediatisierungen sind, zur Software "After Effects" (1993) für die Animation von Filmen auf erschwinglichen Rechnern (Macs und ab 1997 PCs) differenziert Manovich ein Thema früherer Beiträge aus: die Verbindung von Hardware für Jedermann (mit PARC´s "Dynabook" als Vorläufer) und (Interfaces für) Software, die vorher Unvorstellbares denk- und planbar macht.
    In den letzten Kapiteln (Part 3/Chapter 5-6) thematisiert er die aktuelle Neuordnung der Zusammenhänge zwischen "deep remixability" und "modularity": Die Verfügbarkeit derselben Module auf verschiedenen Geräten ("media mobility") führt dazu, auf ASCII (American Standard Code for Information Interchange) als geräteübergreifenden Standard zurückzugreifen. Im Gegensatz zu dieser Rückkehr des Code werden Module zur Anpassung von Websites (und in sie integrierten Elementen anderer Sites (Mashups)) an individuelle Wünsche der Leser- und TeilnehmerInnen weiter entwickelt und miteinander kombiniert: Das führt zu Funktionsangeboten, die LeserInnen zunehmend leichter mittels Interfaces über komplexere Abläufe (und damit Quellcodes) verfügen lassen – und sie damit vom Code entfernt.
    LeserInnen finden sich im stark gewachsenen und wachsenden Informationsangebot des Internet durch modulare Hilfsmittel leichter zurecht. Manovich erkennt in der "Demokratisierung" der Verfügbarkeit von Geräten (Mobiltelefone, PDAs, Kameras etc.) und Software auch die Folgen der Zusammenhänge zwischen Konsum und Kultur: Das Internet wird zum Massenmedium und der/die VerbraucherIn mit eigenen Beiträgen zum/r TeilnehmerIn an einer Kulturindustrie, die den "neuen Herausforderungen" der "social media" folgt.
    Diese Herausforderungen leiten professionelles Informationsdesign ebenso wie die Beiträge von AmateurInnen. Manovich greift Michel de Certeaus 1980 in «L´invention du quotidien» (dt: "Kunst des Handelns", Berlin 1988) getroffene Unterscheidung zwischen "Strategien" und "Taktiken" auf, um den aktuellen Mediengebrauch skizzieren zu können. De Certeau unterscheidet Strategien der Stadtplanung von Taktiken der BewohnerInnen, sich in gebauter Umwelt zu bewegen. Im aktuellen Informationsdesign, in der "modularity" für den "remix" der TeilnehmerInnen, werden aus Strategien Taktiken. PlattformbetreiberInnen und -designerInnen wandeln Strategien in Taktiken, mit "modularity" den sich ständig verändernden Strategien des "remix" der LeserInnen und TeilnehmerInnen entgegen zu kommen. Die LeserInnen und ihre Strategien, Angebote miteinander zu verbinden und Beiträge zu liefern, werden zum Maßstab des Informationsdesign von Plattformen: "...the logic of tactics has now become the logic of strategies." (S.268)
    Diese Darstellung setzt voraus, dass in die Entwicklung von kombinierbaren Soft- und Hardwaremodulen bereits Rekursionen zwischen Strategien und Taktiken, Reaktionen von AnwenderInnen auf DesignerInnen/ProgrammiererInnen und umgekehrt, eingegangen sind – was Manovich exemplarisch in den ersten vier Kapiteln aufzeigt: Nachdem ProgrammiererInnen mit als Software realisierten Strategien, in deren Entwicklung Vorstellungen möglicher Taktiken der AnwenderInnen eingeflossen sind, neue Funktionen bereitstellten, können die Software-EntwicklerInnen und PlattformbetreiberInnen Taktiken zur Anpassung an AnwenderInnen entwickeln. AnwenderInnen entwickeln aus Taktiken der Anpassung an angebotene Funktionen Strategien, sich im Informationsangebot zu bewegen und die angebotenen Funktionen zu verknüpfen.
    Spannungen zwischen professionellen DesignerInnen/KünstlerInnen und AmateurInnen, zwischen Strategien und Taktiken, tragen zu "the dynamics of web culture" bei, in der "the world of professional art has no license on creativity and innovation." (S.285) (2/2009).
  • Daniels, Dieter: Reverse Engineering Modernism with the Last Avant-Garde.
    In: Daniels, Dieter/Reisinger, Gunther (Hg.): Netpioneers 1.0 – Contextualising Early Net-based Art. Berlin und New York 2010, S.15-63. Daniels unterscheidet zwischen Netzpionieren, die Internet-Plattformen für verschiedenartige Projekte und Foren einrichteten, und Net Art aus Projekten mit Werkcharakter, deren Urheber mit den Möglichkeiten des Internet experimentierten. Die Internet-Plattformen offerierten einen Internet-Zugang und Speicherplatz auf Servern. Außerdem banden sie zwischen Teilnehmern an Projekten ein soziales Netzwerk. Die von KünstlerInnen eingerichtete Plattform als Kommunikationsort (The Thing, ab 1991; Public Netbase, ab 1994; Internationale Stadt Berlin, ab 1994) wurde von der Kommerzialisierung des Web nach 1995 in Frage gestellt: Von Beteiligten betriebene Plattformen verloren ihre Funktion als virtuelle Kommunikationsebene und als Anbieter für billige oder kostenfreie Internetzugänge und Serverkapazitäten.
    Mit der Etablierung von Providern, die kostenpflichtige Zugänge und Serverkapazitäten immer billiger anbieten, verlagert sich ab Mitte der neunziger Jahre die künstlerische Aktivität im Internet von "Frameworks" (wie Daniels von KünstlerInnen eingerichtete Internetplattformen nennt) zur "Net-based Art", die meist selbstbezüglich die Möglichkeiten des Web (HTML für Browser) auslotet. Die frühe Net Art ist nach Daniels in ihrer experimentellen Ausrichtung zwar avantgardistisch, aber nicht mehr modern im Sinn einer Autonomie des Ästhetischen und des "modern cult of the genius" (S.52). Sie experimentiert mit Medienmöglichkeiten ("this avant-garde principle of anticipation", S.32), hat aber nicht mehr das Ziel der Internetplattformen, Kommunikationssysteme als "Temporary Autonomous Zone" (S.29f.,55) und Alternative zu Massenmedien zu etablieren: "The consequence...was a partial return to the notion of an `artwork´." (S.30) Die Wiederaufnahme der selbstbezüglichen Formanalyse der Moderne in "Net-based Art" bezeichnet Daniels als "re-modernist" (S.56), während die Plattformen, die von KünstlerInnen und an Projekten Beteiligten betrieben wurden, bereits in der Alltagspraxis der Service Provider (S.30) des Web aufgingen, bevor sie sich als modern hätten etablieren können (S.54f.).
    Fragen der Netzbedingungen wurden und werden auf den Mailing Lists Rhizome und Nettime erörtert (S.42). Dort werden von Künstlern auch neue Projekte angekündigt, die meist auf eigenen Webseiten gespeichert sind.
    Daniels problematisiert die Ausrichtungen der mit und im Internet arbeitenden KünstlerInnen zwischen Gene Youngbloods Begriff des "Metadesign" (S.17f.) und Joseph Beuys´ Begriff der "sozialen Plastik" (S.18). Youngblood zielt auf Entwurf und technische Realisation neuer, Telekommunikation integrierender Kommunikationsmedien, während Beuys mit der Überschneidung von der Expansion der Skulptur in Prozesse aller Art mit dem Begriff der "Plastik" als Bezeichnung für soziale Gebilde spielt: Konsequente künstlerische Praxis stiftet zu sozialen Veränderungen an. Die Konzepte von Youngblood und Beuys "are prototypical of the American and European concepts of the relationship between technology and society...that constitute Net-based art´s parental lineage." (S.18)
    Neben The Thing als von KünstlerInnen eingerichtetes Bulletin Board System liefert auch die von den KünstlerInnen Rena Tangens und padeluun mitinstallierte "Bionic MailBox" (ab 1987, S.23f.) ein Beispiel für "Metadesign", in dem durch die Praxis mit neuen Techniken neue Kommunikationsmöglichkeiten geschaffen werden.
    Die Künstlergruppe etoy dagegen formiert sich als Gruppe, die Partizipation von Nichtmitgliedern auf ihrer Website und in ihren Auftritten ausschließt (S.37, dennoch war sie im "Toywar" auf einen Zusammenschluß externer Teilnehmer angewiesen). Etoy und das Partizipation ausschließende Künstlerduo Jodi liefern Daniels Beispiele für eine Netzkunst, die Beuys´ soziale Praxis wieder an etablierte Vorstellungen von künstlerischer Tätigkeit rückbindet (3/2013).
  • Ries, Marc: Rendezvous. The Discovery of Pure Sociality in Early Net Art.
    In: Daniels, Dieter/Reisinger, Gunther (Hg.): Netpioneers 1.0 – Contextualising Early Net-based Art. Berlin und New York 2010, S.65-79. Marc Ries stellt das Postprinzip der Übertragung an Empfänger ins Zentrum seiner Überlegungen über das Internet: Die Beziehung zum Raum ist eine relationale zwischen Übertragungsarten sowie eine der "permanent, distributive production of social structures", weniger eine in "a closed box" (S.66).
    Die Relation Schreibmaschine – Postkarte führt Ries am Beispiel von Marcel Duchamps «Rendez-vous du Dimanche 6 Février 1916 à 1h 3/4 heures après midi» ein und betont, dass in der französischen Bedeutung von «rendezvous» (S.67) "the act of moving, and of being moved" (S.67) Vorrang hat, während die deutsche Bedeutung eine Verabredung meint: "place and time are communicated" (S.67).
    Der exterritoriale und öffentliche "postal non-place" (S.67) findet mittels Telekommunikation und Satelliten seine Übertragungsform. Kit Galloways und Sherrie Rabinowitzs "Hole-in-Space" und die Konferenz "Artists Use of Telecommunications" stellen 1980 den Aspekt der Übertragung ins Zentrum künstlerischen Handelns: "Telecommunication art involves the creation of relationships without the production of concrete artworks." (S.72) Ries reflektiert das Oszillieren dieser Medienexperimente zwischen konzeptueller, aktionistischer und interventionistischer Kunst (S.72).
    Ein gemeinsames Projekt entsteht: "...a political will to create the conditions for a social space embracing the equality, participation, and accessibility of and for potentially everyone via technology that genuinely incorporated this communitary ideal." (S.72f.) Die "Foren, Newsgroups und Mailing Lists" (S.74) von künstlerischen Netzprojekten der achtziger und neunziger Jahre schaffen zwischen Beteiligten, die sich kennen, "pure sociality" (S.74) im Sinne einer "self-referential, self-reinforcing perception of others": "the social for its own sake, unembedded in goals and actions." (S.74)
    Im Laufe der neunziger Jahre, mit dem Ende der Bulletin Board Services und dem Anfang des schnellen Wachsens der Webzugänge, werden daraus Beziehungen, die das Plurale als "self-opening, as a movement `from oneself to everyone else´" (S.76) praktizieren. Ries sieht darin "a new concept of community" (S.76) (4/2013).
  • Stallabrass, Julian: Can Art History Digest Net Art?
    In: Daniels, Dieter/Reisinger, Gunther (Hg.): Netpioneers 1.0 – Contextualising Early Net-based Art. Berlin und New York 2010, S.165-179. Julian Stallabrass zeigt sowohl, welche Barrieren zwischen Kunstgeschichte und Netzkunst bestehen, als auch die Möglichkeiten, sie zu überwinden. Stallabrass sieht eine Kunstkritik, die Grenzen der Kunst zu bestimmen versucht, und die bis 2008 im Kunsthandel boomende Mainstream Art eng miteinander verbunden, während Netzkunst sich solchen Abgrenzungen entzieht und dabei auch die bei engagierter Kunst immer noch üblichen Grenzziehungen in einem nicht mehr nur symbolisch agierenden Aktivismus überschreitet. Dem Verkauf seltener Objekte an "the mega-rich" (pdf S.172) stehen Werke aus beliebig vervielfältigbaren digitalen Daten gegenüber, die frei zur Verfügung gestellt werden und in ihrer Verbreitung nicht mehr kontrollierbar sind: "...online art...appears not merely dissociated from the mainstream market for contemporary art, but also dangerous to it." (pdf S.173)
    Zu den Veränderungen, die Kunsthistoriker durch Neuorientierungen und Methodenvielfalt in Interpretationen von Fotografien und Videos bereits vollzogen und sich dabei Einflüssen von Interpreten aus anderen Disziplinen stellten, kommen weitere Veränderungen, die zu "a much more thorough demystification of the processes of the making and viewing of art" (pdf S.178) führen können (3/2013; 1/2020).
  • Drucker, Johanna: Humanities Approaches to Interface Theory.
    In: Culture Machine. Generating Research in Culture and Theory. Vol.12/2011. Erving Goffmans Rahmenanalyse (Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience. London 1974) dient Drucker zur Vorstellung des menschlichen Interface zur Welt entweder als eine Aktion des Wechsels der Positionen in einer Umgebung (zu ihrer Beobachtung aus verschiedenen Blickwinkeln) oder um Rechenprozesse an einem technischen Interface zu steuern. Kognitive Prozesse widersprechen Verfahren, die Interfaces zur Welt(beobachtung) und technische Interfaces (zu Maschinen wie z.B. Computern) als `Objekte´ rekonstruieren: Drucker ersetzt Reduktionen von Subjekten auf User durch einen Diskurs über die Zusammenhänge zwischen Körper und Kognition.
    "Verkörperung" ("embodiment", S.8) stellt Drucker als zweifache Konkretisation vor: als eine des Menschen als handelndes Subjekt und als eine der Ausführung von Programmierung in maschinellen Prozessen. "Web environments" (S.13f.) werden nicht nur für vorprogrammierte Aufgaben eingesetzt, sondern "structuring principles" (S.16) der über technische Interfaces manipulierbaren Programme erleichtern "processes of frame jumping – moving from one cognitive frame to another" (S.9). Das wiederum ermöglicht "repositioning ourselves as reader/viewers in the multimedia environment" (S.9). Computerspiele, die dem Spieler die Wahl zwischen Ansichten der Spielwelten aus verschiedenen Perspektiven lassen (Point of View/Point of Action), liefern Drucker Anregungen, wie der "electronic space (e-space)" gegliedert sein kann, um "interpretative activity" (S.16) zu erleichtern: "We can borrow from the conventions of electronic games and offer multiple views simultaneously." (S.17) (3/2013; 1/2020).
  • Quaranta, Domenico: From Context to Content. On the Preservation of Net-based Art.
    In: Sgamellotti, Antonio/Brunetti, Brunetto Giovanni/Miliani, Costanza (Hg.): Science and Art. The Contemporary Painted Surface. London 2020, S.452-476. Quaranta thematisiert an Beispielen die Bedeutung des medialen Kontextes für Projekte der Netzkunst. Unter medialem Kontext sind die technischen Bedingungen des Internet – die Serverkapazitäten, Übertragungsgeschwindigkeiten und Browser – sowie die sozialen Bedingungen zu verstehen. Die technischen Bedingungen des Web 1.0 wie der langsame Bildaufbau und die damaligen Browser sind nicht mehr rekonstruierbar. HTML Art wie Alexei Shulgin‘s Form Art (1997) ist zwar auch heute in aktuellen Browsern aufrufbar, aber die Bildschirmdarstellung hat sich geändert (S.452-455). Die Möglichkeiten von HTML zu eruieren hatte 1997 für Web Art eine Bedeutung, die heute nur noch schwer nachvollziehbar ist: Quaranta sieht “Form Art“ als Fortsetzung der selbstreflexiven Moderne, die unter Bedingungen der “post-media...completely outdatet“ sei (S.454). Als Beispiel für KünstlerInnen, die ihre zeitlich befristeten Interventionen in Ausstellungen rekonstruieren, wählt Quaranta Vote Auction (2000) von James Baumgartner und Übermorgen: Nach Ablauf der Wahl dokumentieren Letztere die ehemalige Website in Ausstellungen durch Ausdrucke der UserInnenreaktionen (S.458ff.). Constant Dullaarts “YouTube as Subject“ (2008) thematisiert Eigenschaften, welche YouTube nicht mehr hat, und setzt einen Stellenwert von Amateurvideos voraus, den sie nicht mehr haben (S.462). Ältere Netzprojekte wieder zu beleben erfordert auf unterschiedlichen Ebenen die Rekonstruktion der Netzbedingungen, unter denen sie entstanden und zuerst wahrnehmbar waren. Als weitreichendste Projekte der Rekonstruktion der technischen Bedingungen stellt Quaranta zwei Projekte von “Rhizome“ vor: Webrecorder, einer Art erweitertem Internet Archive, und die Net Art Anthology, die Webprojekte über Emulationen wieder zugänglich macht und Informationen über die Rezeptionsbedingungen im Web 1.0 liefert (9/2022).
  • Lialina, Olia: From My To Me.
    In: Interfacecritique, 2021. PDF in: Dies.: Turing Complete User. Resisting Alienation in Human Computer Interaction. Heidelberg 2021, S.126-193. An Websites des Providers GeoCities (1994-2009, in Japan bis 2019), die 2009 archiviert wurden, zeigt Olia Lialina den Wechsel von Themenorientierung (“My“ Subject) zur Selbstdarstellung (“Me“): Der “About Me“-Link auf der Homepage erscheint immer häufiger an erster Stelle (S.181-191). Außerdem weist Lialina auf die tragende Funktion, die Links zu Beginn des Web hatten, und wie diese zurückgedrängt wurde (S.156ff.). Effekte, wie zum Beispiel sich mit Webseiten ladende Tondateien (MIDI), animated GIFs, laufende Texte und 3D-Logos wurden auf Websites zwar häufig eingesetzt, sie wurden aber von Webdesignern abgelehnt: Amateure wurden von Letzteren zur Gestaltung eigener Websites ermutigt, zugleich aber wurden ihre Präferenzen verpönt (S.137ff.) (9/2022).

Texte über aktuelle Aspekte der NetArt:

  • Cox, Geoff/McLean, Alex/Ward, Adrian: The Aesthetics of Generative Code.
    Vortrag, "Generative Art 2000: 3rd International Conference on Generative Art", Politecnico di Milano, Mailand, 14.-16.12.2000. Verwendungen von Perl in nicht maschinenlesbarem Text (Perl Poetry) lehnen Cox/McLean/Ward ab. McLean und Ward führen Beispiele für einen Code vor, der je nach Computer verschiedene Ausführungen verursacht. Dies erschwert den ästhetischen Diskurs über Relationen zwischen Programm/Konzept/Text und Ausführung in einer Weise, welche die Autoren mit Beziehungen zwischen Gedichttext und Gedichtvortrag vergleichen.
    Die Beispiele von McLean und Ward liefern in der Ausführung "Wasserzeichen" des verwendeten Prozessors und Rechensystems. Die je nach Prozessor variierenden Bezüge von Programm und Ausführung sollen die Qualitäten des Codes aufzeigen – und umgekehrt: Codes sollen als Modellfälle verwendbar sein, um Charakteristika der Monitorpräsentationen generierenden Rechenprozesse eruieren zu können (2/2004).
  • Cramer, Florian: Digital Code and Literary Text.
    Vortrag, "p0es1s. Poetologie digitaler Texte", Symposium, Universität Erfurt, Erfurt, 27.9.2001. Modifizierte deutsch/englische Druckfassung in: Block, Friedrich W./Heibach, Christiane/Wenz, Karin (Hg.): p0es1s. Ästhetik digitaler Poesie/The Aesthetics of Digital Poetry. Ostfildern-Ruit 2004, S.263-276. In explizitem Gegensatz zu John Cayley (s.o.) interessiert sich Cramer für Software als Text, also für nicht maschinenlesbare Anwendungen von Programmiersprachen. Net Poetry von Jodi, antiorp/Netochka Nezvanova, MEZ/Mary Anne Breeze, Ted Warnell, Alan Sondheim und Kenji Siratori amalgamieren Methoden der Struktur- oder Sprechakt-orientierten Forschung (Strukturalismus und Philosophy of Ordinary Language).
    Codeworks schreibende AutorInnen entwickeln konzeptuelle, an Open Source ausgerichtete NetArt mit Übernahmen aus Hackerkulturen weiter, während in Hyperfiction und Multimedia Poetry Programmvorgaben industrieller Software (mit geschlossenem Quellcode), darunter Browser und PlugIns (QuickTime, ShockWave, Flash), als Arbeitmittel integriert werden (2/2004).
  • Cayley, John: The Code is not the Text (unless it is the Text).
    Vortrag, "p0es1s. Poetologie digitaler Texte", Symposium, Universität Erfurt, Erfurt, 28.9.2001. In: Electronic Book Review. Vol.3, 10.9.2002/25.5.2003. Modifizierte, kürzere deutsch/englische Druckfassung in: Block, Friedrich W./Heibach, Christiane/Wenz, Karin (Hg.): p0es1s. Ästhetik digitaler Poesie/The Aesthetics of Digital Poetry. Ostfildern-Ruit 2004, S.287-306. Der Code sollte maschinenlesbar sein, andernfalls dienen Codeformen als Anregungen für experimentelle Texte, wie in "Codeworks" von MEZ/Mary Anne Breeze und Talan Memmott: "The code has ceased to function as code." Leider entwickeln MEZ und Memmott beim Schreiben von Codeworks kein "Code Pidgin English".
    Die Künstlergruppe Jodi arbeitet mit Code, in den nicht maschinenlesbarer Text integriert ist: "code-as-text". Cayley präsentiert sein Codework "Pressing the `Reveal Code´ Key" als Beispiel für einen maschinenlesbaren Code (in HyperTalk), der zugleich als lesbarer Text seine "ludischen" Qualitäten hat: "...this code is the text." Auch als lesbarer Text führt das Werk zugleich seine Mschinenlesbarkeit vor: "logic-as-literature in new media".
    Dass Texte bereits "compiled, decompiled, recompiled" sind, kann eine "literature constituted by flickering signification" umsetzen. "Flickering signifiers" (N. Katherine Hayles) springen zwischen unterschiedlichen digitalen Umgebungen und Ebenen. Grundlage dieser Strategie ist, dass Code und Text zwei Ebenen bilden: "The code is not the text." (vgl. dagegen Cramer, Florian: Digital Code and Literary Text, s. u.) Für Cayleys eigenes Beispiel gilt die im Titel der Netzfassung angegebene Erweiterung: "The code is not the text (unless it is the text)" (2/2004).
  • Arns, Inke: Texte, die (sich) bewegen. Zur Performativität von Programmiercodes in der Netzkunst.
    Vortrag, "Kinetographien", Konferenz, Europäische Akademie, Berlin, 25.10.2001. In: Arns, Inke/Goller, Mirjam/Strätling, Susanne/Witte, Georg (Hg.): Kinetographien. Bielefeld S. 57-78. Text, der in Netzpräsentationen in Bewegung (kinetisch) erscheint, führt Arns zu der Frage, was die Oberflächen bzw. "Phänotexte" bewegt: der Quelltext bzw. der "Genotext". Wer nur den Phänotext als performativ betrachtet, missachtet den illokutionären Charakter des Genotextes. Als Lesetext erlaubt der Quelltext, sich Funktionen, die er bewirken kann, vorzustellen. Wie in einer Kommunikationsumgebung Gesprochenes nicht vom Sprechakt, also Sagen nicht vom Tun des Sagens getrennt werden kann, so kann der maschinenlesbare Code nicht von dem Rechenprozess getrennt werden, den er im Computer auslöst: Was Quellcode besagt und "ohne zeitlichen Aufschub" bewirkt, ist mit Sprechakten vergleichbar.
    Software Art und "Codeworks" (Alan Sondheim) liefern nach Arns Einsichten in die in Programmiercodes angelegte Performativität.
    Wenn funktionale, im Quellcode angelegte Grenzen Einschränkungen reproduzieren, die das Gesetz bzw. der juristische Code schafft, dann liegt "codierte Performativität" vor (2/2004).
  • Manovich, Lev: The Anti-Sublime Ideal in Data Art.
    Ursprünglich mit dem Titel "The Anti-Sublime Ideal in New Media" in: Chair et metal/Metal and Flesh. Vol.7. 2002. Deutsche Druckfassung mit dem Titel "Das nicht-erhabene Ideal in der Datenkunst" in: Manovich, Lev: Black Box – White Cube. Berlin 2005, S.81-104. Manovich beschreibt die Simulation alter Medien durch Software in "neuen Strukturen" als ein frühes "Paradigma" der Computer-Entwicklung (Alan Curtis Kay seit 1970 für Xerox, Palo Alto Research Center). Der Computer als "Simulationsmaschine" wird zum "meta-media object", das "die ursprüngliche Medienstruktur" und die Software-Mittel enthält, die diese Struktur neu kartieren ("to re-map") und Modifikationen ermöglichen. "Meta-media" liefern nicht nur Mittel zum Remix verschiedener Datenstrukturen, darunter die "verschiedenen Kulturformen" mit "neuer Software Technik", sondern sind teilweise selbst Resultat eines Remix, wie Manovich am Beispiel des Adobe Acrobat Reader aufzeigt. "Mapping one data set into another, or one media into another" stellt er als eines der häufigsten Verfahren im Alltag der Computeranwendung und in der "Neuen Medienkunst" vor. An Hand von Lisa Jevbratts 1:1 (1999/2001-2002, siehe Kurztipps) und der Carnivore-Plattform der Radical Software Group (2001, s.o., Plattformen) für "clients" anderer KünstlerInnen zeigt Manovich, dass große und endlose Datenmengen in einem Browserfenster dargestellt und damit für die Beobachtung handhabbar gemacht werden: "manageable visual objects".
    Im Gegensatz zum Nicht-Darstellbaren und Sublimen in der Romantischen Kunst ist, so Manovich, "data art" "anti-sublim" (Manovich weist leider nicht auf den Klassiker Rosenblum, Robert: Modern Painting and the Northern Romantic Tradition: Friedrich to Rothko. New York 1975. Mit Rosenblum wird erkennbar, dass Manovich mit der Romantischen Kunst auch die abstrakte Kunst und das Sublime meint.). Manovich konstatiert, dass es eine Lösung des Problems der Beliebigkeit vieler Übertragungen von Datenkonfigurationen in "neue Strukturen" wäre, das Willkürliche als "method of irrationality" zu betonen, und damit an den Umgang Konzeptueller KünstlerInnen mit vorgefundenen "quantitative data" anzuschliessen. Dies könne dazu führen, Wege aufzuzeigen, wie "die persönliche Erfahrung in einer Informationsgesellschaft" dargestellt werden kann: "...art has the unique license to portray human subjectivity..." (4/2007; 1/2020: nur in der leicht modifizierten Fassung mit dem Titel Data Visualization as New Abstraction and the Anti-Sublime gefunden).
  • Fuller, Matthew: Behind the Blip. Software as Culture.
    In: Nettime, 7.1.2002. Druckfassung in: Fuller, Matthew: Behind the Blip. Essays on the Culture of Software. Brooklyn 2003, S.11-37. Nachdem Computer, Software und Interfaces für Anforderungen ihrer AnwenderInnen geschaffen wurden, orientieren sich die Erwartungshorizonte an den digitalen Angeboten. Das muss so nicht bleiben. "Software Culture" umfasst die Entwicklung neuer Konzepte nicht nur im technischen, sondern auch im philosophischen Sinn, und sie konstituiert eine "digitale Subjektivität" mit einem eigenen Sensorium.
    Fuller differenziert zwischen "Critical", "Social" und "Speculative Software", wobei letztere seinen Kriterien der Konzeptualität und digitalen Subjektivität entspricht: "Software...as mutant epistemology." (2/2004)
  • Manovich, Lev: Generation Flash.
    In: Nettime, 9.4.2002, 17.4.2002, 25.4.2002, 2.5.2002. Deutsche Druckfassung mit identischem Titel: Manovich, Lev: Black Box – White Cube. Berlin 2005, S.53-80. Turntable (Michael Rees) lieferte im Februar 2002 den digitalen Kontext für Künstlerbeiträge (Flash Animationen) in Milton Manetas´ Plattform whitneybiennial.com (s. o., Plattformen). "Turntable" dient Manovich als Beispiel für eine visuelle Kultur der "Generation Flash", die ihre Charakteristika mit der zeitgenössischen digitalen Audiokultur teilt: Loop, Sample & Remix.
    Die Projekte der MedienkünstlerInnen der sechziger Jahre reduziert Manovich auf die Wiederverwendung von vorhandenen Technologien und massenmedial vorcodierten Inhalten. Davon unterscheidet er Software-KünstlerInnen, die die Abstraktion und das romantische Kunstideal eines Produzenten/einer Produzentin aufnehmen, der/die von Beginn des Entwurfsprozesses an auf seine/ihre Imagination angewiesen ist.
    Projekte der Futurefarmers (Beispiel: Utopia) sollen eine Ausrichtung von Netzprojekten belegen, die – anders als MedienkünstlerInnen von Nam June Paik bis Barbara Kruger – nicht in Konkurrenz zu kommerziellen Medien treten (eine Verkürzung der Rezeptionsangebote von Paik und Kruger), sondern unsere Intelligenz mit "small and economical systems" herausfordern. Die Projekte von Korporationen der zeitgenössischen Unterhaltungsindustrie sind einerseits für die Generation Flash so maßgebend wie es Spielfilme für Andy Warhol waren, andererseits eröffnet die mediale Distanz des Internet zu Kino und TV neue kulturelle Möglichkeiten (Manovich stellt seine Vorstellung vom romantisch "from scratch" arbeitenden Software Artist in Frage, da er Relationen zu Produkten der Unterhaltungsindustrie aufzeigt. Warum sollten Produkte der Unterhaltungsindustrie nicht KünstlerInnen seit dem Beginn der Planung eines Projektes beeinflussen?).
    Flash schließt KünstlerInnen in Ländern aus, in denen schnelle Netzverbindungen fehlen. NetArt mit maßgebenden osteuropäischen und russischen Beiträgen gab es, so lange HTML der maßgebende Quellcode war. Flash erzeugt für diese KünstlerInnen eine digitale Grenze, die sie zwingt, in den Ländern zu arbeiten, welche die Entwicklung von IT dominieren: "The Utopia is over; welcome to the Empire." Dennoch hofft Manovich im "Postscript", dass die Generation Flash ein "global cultural laboratory" aufzubauen in der Lage ist. Dieses "laboratory" soll eine "remix culture" etablieren können. Diese "remix culture" könnte eine Alternative zu "`top-down´ cultural composites" von international agierenden Korporationen der Unterhaltungsindustrie entwickeln.
    Manovichs Argumentation lässt in dem Artikel "Generation Flash" (seine) Brüche zwischen realistisch-kritischer Beobachtung und Visionen von einer (russischen Konstruktivismus zum Vorbild nehmenden) Zukunft der Netzkultur auf mehreren Ebenen erkennen (2/2004; 1/2020).
  • Cramer, Florian: Zehn Thesen zur Softwarekunst.
    In: Auer, Johannes/Heibach, Christiane/Suter, Beat (Hg.): netzliteratur.net_Netzliteratur//Internetliteratur//Netzkunst 2003. Druckfassung, deutsch/englisch ("Ten Theses about Software Art") in: Gohlke, Gerrit (Hg.): Software Art – Eine Reportage über den Code/A Reportage about Source Code. Media Arts Lab des Künstlerhauses Bethanien. Berlin 2003, S.6-13. Software Art problematisiert nach Cramer ihre Mittel ebenso mit diesen Mitteln wie mittels anderer Medien. Die Relation von Anweisung und Ausführung wird in Event Cards von George Brecht (Beispiel "Lamp Event", Teil der Event Card Three Lamp Events, Summer 1961: "on. off") und in .walk von Social Fiction computerextern thematisiert. Im Unterschied zur konzeptuellen, nach Lucy Lippard und Cramer dematerialisierenden Anweisung setzen KünstlerInnen Software ein, nicht nur um deren Funktionen anzuwenden, modellhaft vorzuführen oder zu erweitern, sondern auch um sie als Material (durch Eingriffe und Modifikationen) zu bearbeiten. Social Fiction liest einerseits in ".walk" den "Konzeptaktionismus der 1960er Jahre" als "Computersoftware" neu, andererseits wird in Spiele- und HTML-Modifikationen (Beispiel Jodi) wie auch in "Codeworks" die Software als Material behandelt.
    Der Begriff "Software Art" wurde von Kritikern für Werke gebildet, die zwar aus dem Rahmen des Kunstbetriebs fallen, aber erklärungsbedürftig sind und damit einen Diskursrahmen erfordern, den bislang der Kunstbetrieb bereit gestellt hat. Unter dem Begriff "Kunst" wird auch Kunstfertigkeit im Umgang mit Software subsumiert. So wird das Verständnis der "ars", die Kunst und Kunsthandwerk umfasst, wieder aufgegriffen. Konzeptualisierung, Medienvielfalt, Software-Kenntnis und Prozessualisierung finden in Software Art auf sehr unterschiedliche Weise zusammen. Wenn "Kritiker[...], Kuratoren und Jurys" Reduktionen auf wenige, häufiger vorkommende Medienformen ("experimentelle Web-Browser, Daten-Visualisierungen, modifizierte Computerspiele und Cracker-Code") vornehmen, dann klammern sie diese Kunstdefinitionen erschwerende Vielfalt aus (6/2004).
  • Medosch, Armin: Piratology.
    In: Kingdom of Piracy <KOP>. DIVE 0.1. Druckfassung in: Medosch, Armin (Hg.): DIVE. An Introduction into the World of Free Software and Copyleft Culture. CD ROM und Buch. FACT, Liverpool/Virtualcentre-Media.net 2003, S.8-19. Medosch vergleicht die Piraterie in Malaysia gegen das British Empire (1750-1850) mit dem aktuellen Gebrauch des Begriffs "piracy" durch die Rechteindustrie. In beiden Fällen wird Piraterie erst durch hegemoniale Strukturen erzeugt. Heute maßt sich die Rechteindustrie eine Hoheit bei der Verwendung des Begriffs "piracy" an. Nach Medosch versprechen Versuche wenig Erfolg, die den von der Rechteindustrie etablierten Begriffsgebrauch korrigieren wollen. Vielmehr nutzt ihn "Kingdom of Piracy" für eine semantische Umwertung.
    Medosch sieht in "Open Source software (OS)" und "free software (FS)" sowie in der Entwicklung Freier Netzwerke eine alternative Praxis, die dank Eigeninitiativen Ansprüche der Rechteindustrie zu umgehen in der Lage ist. Als Teil dieser Bewegung weist Medosch NetArt-Projekte wie Last.fm (Michael Breidenbruecker, Felix Miller, Martin Stiksel, Thomas Willomitzer), Frequency Clock (radioqualia) und Nine (Graham Harwood/Mongrel) wegen ihrer serverseitigen Software-Anwendung und ihren Bezügen zur Free Software-Bewegung aus (2/2004).
  • Pias, Claus: Das digitale Bild gibt es nicht. Über das (Nicht-)Wissen der Bilder und die informatorische Illusion.
    In: Zeitenblicke, Nr.1/2003. Die sozialhistorische Bedeutung von Informationssystemen zeigt Pias an der Geschichte der Kybernetik auf. Vor diesem Hintergrund weist er das digitale Bild als Resultat informationsgebender Verfahren aus, das nur in Präsentationsmedien als Bild erscheint. Dieser "transzendentale Schein" (Kant) der Resultate bildgebender Verfahren sollte aber nicht zu Verwechslungen mit analogen Bildern führen. Deren Einmaligkeit und Statik (Irreversibilität) führten in der Kunstgeschichte zu Formen der Archivierung, die sich nicht direkt auf dynamische, prozessierbare (reversible) Datensysteme übertragen lassen.
    Wie Kybernetik nicht nach Sachverhalten, sondern nach Möglichkeiten von Systemen bzw. Medien fragt, so fordert Pias als Medienwissenschaftler die KunsthistorikerInnen auf, nicht alte Anforderungen in neue Medien zu übertragen, sondern die mit der Digitalisierung und Vernetzung veränderten Grenzen des technisch Möglichen als Anlaß zur Selbstbefragung und Erneuerung zu nutzen: von einer digitalisierten zu einer digitalen Kunstgeschichte (2/2004).
  • Raqs Media Collective: Value and its other in electronic culture: slave ships and pirate galleons.
    In: Kingdom of Piracy <KOP>. DIVE 0.1. Druckfassung in: Medosch, Armin (Hg.): DIVE. An Introduction into the World of Free Software and Copyleft Culture. CD ROM und Buch. FACT, Liverpool/Virtualcentre-Media.net 2003, S.30-36. Die Piraterie als Folge einer bestimmten Stufe der Entwicklung des Kapitalismus wird von dem AutorInnenkollektiv (Shuddhabrata Sen Gupta, Jeebesh Bagchi, Monica Narula) aus Neu Delhi detaillierter erörtert. Die Piratenschiffe und die Insel-Pseudo-Republiken von Piraten liefern die Stichworte, um die aktuelle Auseinandersetzung um geistiges Eigentum (als neue Ware) und Peer-to-Peer Netzwerke zu beschreiben: Der Begriff "Piraterie", den die Rechteindustrie gegen ihr nicht genehmes Kopieren von Software sowie digital(isiert)en Audio- und Filmwerken als diffamierendes Schlagwort einsetzt, wird zum Anlass für eine Wirtschafts- und Sozialgeschichte, in der "electronic piracy" als Reaktion auf die korporativ organisierte, private Enteignung von allgemeinen Gütern geboten erscheint. Der Titel der Plattform "Kingdom of Piracy" (s. o., Plattformen) erscheint als Motto digitaler Piraten-Republiken (2/2004).
  • Zuñiga, Ricardo Miranda: The Work of Artists in a Databased Society: net.art as on-line activism.
    In: Soundtoys Journal 2003. Skizziert werden die Möglichkeiten, die das Internet sowohl für eine globale demokratische Öffentlichkeit als auch für staatliche wie wirtschaftlichen Interessen folgende Überwachung bietet. Brooke Singer versetzt in Self Portrait version 2.0 (Oktober 2001-Oktober 2003) Betrachter in die Rolle des Daten-Voyeurs. Zuñiga sieht die Qualitäten von Singers Projekt darin, den ersten Schritt zum Aktivismus durch eine pädagogische Heranführung an Probleme der Kontrollgesellschaft zu tun, während das Projekt iSEE des Institute for Applied Autonomy (ab 2002) den zweiten Schritt zur Aktion im öffentlichen Raum durch ein Tool für Mobiltelefone auszuführen erlaubt. Mit "iSEE" lassen sich Überwachungskameras umgehen. Es kann auch in Demonstrationen angewandt werden, in denen auf sich ändernde Umstände schnell reagiert werden muss. Aktivismus soll sich gegen die Aufzehrung des "dialogischen Potentials" des Internet durch ein "dezentralisiertes Panoptikon" wenden (10/2006).
  • Cramer, Florian: Peer-to-Peer Dienste. Entgrenzungen des Archivs (und seiner Übel?).
    Beitrag für den (Internet-)Katalog zur Ausstellung "adonnaM.mp3 – Filesharing, die versteckte Revolution im Internet". Museum für Angewandte Kunst, Abteilung digitalcraft, Frankfurt am Main, 20.3.-20.4.2003. Neu auf Englisch in: Cramer, Florian: Anti-Media. Ephemera on Speculative Arts. Rotterdam 2013, S.102-112,250f. Peer-to-Peer-Netzwerke wie Napster, Gnutella, Kazaa und Freent stellt Cramer als Musikarchive vor und interpretiert das Netz mit seiner Gliederung (TCP/IP, DNS etc.) als sein eigenes Archiv mit Objekt- und Metadaten (IP-Adressen und Domain-Namen). Peer-to-Peer-Netzwerke verwenden jedoch häufig nicht die Internet-Archivstruktur, sondern besitzen eigene Server- und/oder Rechner-basierte Strukturen. In GNUnet und Freenet werden die Daten zwischen den angeschlossenen Rechnern verschoben: Die Speicherorte werden beweglich und unkontrollierbar. Gehen auf Festplatten und anderen Datenträgern gespeicherte Daten verloren, dann kursieren in Filesharing-Netzen noch immer die für sie freigegebenen Dateien: Filesharing als Chance für ein "kulturelles Gedächtnis", das dank der "Unsystematik im Datentransfer" Speicherlöschung übersteht (2/2004).
  • Ludovico, Alessandro: Peer-to-Peer: Das kollektive, befreite Klanggedächtnis.
    Beitrag für den (Internet-)Katalog zur Ausstellung "adonnaM.mp3 – Filesharing, die versteckte Revolution im Internet". Museum für Angewandte Kunst, Abteilung digitalcraft, Frankfurt am Main, 20.3.-20.4.2003. Vorgestellt werden Formen der kollaborativen künstlerischen Arbeit mit Netzprojekten für Peer-to-Peer-Übertragung von mp3-Dateien. Außerdem werden Arten der Appropriation von Musikstücken beschrieben: Zum Teil werden Urheberrechte generell missachtet, zum Teil wird gezielt gegen sie verstoßen. In beiden Fällen wird eine "soziale und sozialisierende Praxis" in Form einer Arbeit für und mit einer "kollektiven Performance" ausgeführt, die "Klänge [aus dem Eigentumskonzept des Urheberrechts] befreien und allen zukommen lassen will." Dabei entsteht eine "Klangmaschine", die einer "Celestial Jukebox" immer näher kommt und die "Überflüssigkeit" der zeitgenössischen Praxis des Urheberrechts (als proprietäre Zugangsschranke) aufzeigt. Simulierte Hackerangriffe in Form von Warnungen vor Viren, die über .mp3-Dateien Festplatten befallen, werden als Aktionen vorgestellt, welche die zensorische Attitüde der Musikindustrie karikieren. Allerdings kann die Musikindustrie Downloads durch Mehrfachabfragen blockieren (2/2004).
  • Adams, Randy: Paris Connection. A project in critical media.
    In: trAce. Online Writing Centre: Review, The Nottingham Trent University, Clifton/Nottingham, 17.5.2003. Adams interviewt Jim Andrews (per e-Mail) über die Website Paris Connection. Die von Andrews initiierte und mit KoautorInnen realisierte Site stellt Pariser Künstler vor (Jean-Jacques Birgé, Nicolas Clauss, Frédéric Durieu, Jean-Luc Lamarque, Antoine Schmitt, Servovalve), die vorwiegend mit Director (bzw. der Programmiersprache Lingo) arbeiten und sich kennen. "Paris Connection" ist eine Koproduktion von vier Portalen, die englische, französische, spanische und portugiesische Übersetzungen der Beiträge anbieten. Die Beiträge führen in die Projekte der Künstler ein. Andrews´ Interviews in "Paris Connection" zeigen, wie er mit seinen Director-Kenntnissen die Pariser Künstler zu teilweise überraschenden Aussagen provoziert.
    Im Interview mit Adams bezeichnet Andrews eine Netzkritik als "critical media", die sich intensiv mit Software und Netzbedingungen auseinandersetzt. Er unterscheidet diese Netzkritik von "touristischen" Beiträgen, die Autoren geschrieben haben, die sich nicht vorrangig mit "multimedia net.art" beschäftigen (2/2004; 1/2012: die ehemalige URL-Addresse existiert nicht mehr).
  • Holmes, Tiffany: Arcade Classics Spawn Art? Current Trends in The Art Game Genre.
    Vortrag, 20.5.2003. Melbourne DAC, the 5th International Digital Arts and Culture Conference. School of Applied Communication, Royal Melbourne Institute of Technology, Melbourne 2003. Druckfassung: Miles, Adrian (Hg.): Melbourne DAC streamingworlds, the 5th International Digital Arts and Culture Conference. School of Applied Communication, Royal Melbourne Institute of Technology. Melbourne 2003. "`Retro-styled´ art games" modifizieren Arcade Game Klassiker wie Pong, Asteroid, Missile Command und Centripede. Im Vergleich zu Computerspielen mit mehreren Levels für lange Spielzeiten sind Art Games mit einfachen Interfaces in kurzer Zeit spielbar. Entscheidend ist nach Holmes eine "conceptual message", die das Ego-Shooter-Szenario und seine Weiterentwicklung in Kampfspielen durch soziale Themen wie Gender und Race in Frage stellt. An Natalie Bookchins The Intruder (1999), Game Labs Sissyfight (2000), Ricardo Zuñigas Vagamundo (2002) und On Ramp Arts Tropical America (2002) zeigt Holmes, wie Spiele Machtstrukturen thematisieren: "Art game play sometimes requires a tolerance for critical theory mixed with intelligent humor..." (7/2009; 1/2020).
  • Munster, Anna: Compression and the Intensification of Visual Information in Flash Aesthetics.
    Vortrag, 22.5.2003. Melbourne DAC, the 5th International Digital Arts and Culture Conference. School of Applied Communication, Royal Melbourne Institute of Technology, Melbourne, 22.5.2003. Druckfassung: In: Miles, Adrian (Hg.): Melbourne DAC streamingworlds, the 5th International Digital Arts and Culture Conference. School of Applied Communication, Royal Melbourne Institute of Technology. Melbourne 2003, S.135-143. Munster erklärt die in Flash-Anwendungen erkennbare Ästhetik im Kontext der Geschichte der Animation. Sie beschreibt die Durchdringung von Formen der amerikanischen Animationen für TV-Serien, Videoexperimente und Kurzfilme mit japanischen Entwicklungen der Mangas und "anime subcultures". Daraus ergab sich ein Zeichenstil für flächige Raumandeutungen ("flat aesthetic space"). Diese Rückkehr zu und Erneuerung von Traditionen der Animation ist eine Gegenentwicklung zur "mainstream articulation of digital visuality as realistic, organicist and seamless 3D animation" in Spielfilmen wie "Terminator 2" (1992) und "Jurassic Park" (1993).
    In Anwendungen der Flash Vektorgrafik und Codec Kompression unter Netzbedingungen (mit Plug-Ins für SWF-Formate) erkennt Munster Weiterentwicklungen einer japanisch-amerikanischen "`proto-networked´ sociality" (seit den siebziger Jahren) und widerspricht damit Manovichs Behauptung, dass Software Artists "from scratch" arbeiten (Generation Flash, 2002, s.o.). The Futurefarmers beziehen sich explizit auf "kawai"-Bilder japanischer Anime und Mangas.
    Mit Flash werden Animationen nicht mehr als Sequenz aus statischen Bildern (mittels Bitmapping auf Rastern lokalisierte Pixel), sondern als vektorielle und temporale Variablität programmiert, die sich mit der Codec-Kompression auch mit nicht synchronen Tonfolgen in guter Qualität verbinden lassen. Websites von hi, Res! (Alexandra Jugovic/Florian Schmitt: Soulbath, 2000) und Yugo Nakamura (Yugop, 1998-2002) enthalten Projekte, in denen BeobachterInnen die Bildschirmpräsentation duch Mausklicks und Rollover so verändern können, dass erkennbar wird, wie sehr die Programmierung auf diese Verläufe ausgerichtet ist: "...encounters with temporality in nonlinear modes." Der Cursor erzeugt in "image time" nicht nur lokale Veränderungen als "effects of differential speeds", sondern auch Veränderungen in größeren Bildschirmbereichen (parallel zu audiellen Modifikationen). Der "computational space" löst spätestens mit Flash den "modernist space" ab (Brian Massumi), während Manovich Ersteren als Letzteren, aber mit digitaler Bildverarbeitung wie Flash um Komplexität Erweiterten interpretiert (Abstraction and Complexity, 2003) (8/2009; 1/2020: nicht mehr im Web gefunden; 3/2021 nach Hinweis von Benedikt Merkle im Internet Archive gefunden).
  • Rossiter, Ned: Processual Media Theory.
    Vortrag, 22.5.2003. Melbourne DAC, the Fifth International Digital Arts and Culture Conference. School of Applied Communication, RMIT (The Royal Melbourne Institute of Technology), Melbourne 2003. Druckfassung in: Symploke: A Journal for the Intermingling of Literary, Cultural and Theoretical Scholarship. Vol.11/Nr.1-2, S.104 - 131. Empirische Medienforschung versucht das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen und durch Elementarisierung die Voraussetzung für eine Datenerfassung zu schaffen. In dieser "realen Abstraktion" (Louis Althusser) gehen die Zusammenhänge und Möglichkeiten des Mediengebrauchs verloren, die Rossiter über einen prozessbezogenen Ansatz erfassen will. Er konstatiert Zeitmodi – "rhythmic, instrumental, scalar, biological, compressed, flexible and so forth" –, die sich im Gebrauch von verschiedenen Medien wie Internet, Mobiltelefon mit SMS, Echtzeit-Video oder Audiodateien auf unterschiedliche Weise durchdringen.
    Zusammenhänge zwischen Medieneigenschaften und ihrem sozialen, politischen oder ökonomisch motivierten Gebrauch will Rossiter aufzeigen. Er diskutiert offene und geschlossene Systeme (Gregory Bateson, Niklas Luhmann, Ilya Prigogine, Isabelle Stengers), um Strukturen zu finden, die technische Eigenschaften und RezipientInnen in bestimmte Bezugsfelder setzen. Die Zeitdimension, in der sich diese Felder entwickeln, spielt auch in der Reflexion der Beobachtungsposition der Medientheoretikerin/des Medientheoretikers eine Rolle. Sie/er ist in denselben Evolutionsprozess integriert, in den sie/er die Entwicklung von Medientechnik und -gebrauch eingebettet sieht: "...processual media theory itself is implicated in the systems of relations it describes..."
    Als Modell verwendet Rossiter Michael Goldbergs Installation "catchingafallingknife.com" (Sydney 2002), die drei Wochen Börsenspekulation durch Kauf und Verkauf der News Corp Aktien (Rupert Murdochs News Corporation) vorführt und mit verschiedenen Börsenprogrammen zeigt, was aus 50.000 australischen Dollars wird (7/2009; 1/2020).
  • Cramer, Florian: Exe.cut[up]able statements. Das Drängen des Codes an die Nutzeroberflächen.
    Vortrag, Ars Electronica 2003, Brucknerhaus, Linz, 8.9.2003. Druckfassung in: Stocker, Gerhard/Schöpf Christine (Hg.): Code – The Language of Our Time. Ars Electronica 2003. Ars Electronica Center, Linz/Ostfildern-Ruit 2003, S.98-109. Iconische Programmiersprachen sind im Vergleich zu syntaktischen Relationsmöglichkeiten von textbasierter Software unterkomplex. Deshalb trennen Interfaces zwischen der Bildsprachen(Icons)-Anwendung und der textbasierten Software. Textgebundene Interfaces ermöglichen im Unterschied zu Icon-basierten Interfaces eine Transparenz der Relationen zwischen Programmier- und AnwenderInnenebene. Cramer stellt diesen Zusammenhang als Crux von Codeworks von Alan Sondheim und MEZ/Mary Anne Breeze vor (2/2004).
  • Galanter, Philip: What is Generative Art? Complexity Theory as a Context for Art Theory.
    Vortrag, 11.12.2003. Papers of Generative Art 2003 Conference. Politecnico di Milano, Fakultät für Architektur des Campus Leonardo, Mailand 2003. Galanter weist in seinem Versuch, Generative Kunst zu definieren, auf folgendes Problem in Claude Shannons Informationstheorie: Eine willkürliche Anordnung von verschiedenen Elementen weist einen hohen Informationsgehalt auf, während Wiederholungen identischer Elemente redundant sind (niederer Informationsgehalt).
    Galanter sucht einen Ausweg in einer Kombination aus Überraschung (hoher Informationsgehalt) und Redundanz: "Struktur" und "Komplexität" steigen zwischen den Extremen hoher und niederer Information. Das Maß an "algorithmischer Komplexität" ergibt sich daraus, wie groß die kleinste Menge an Regeln ist, die ein Universalrechner benötigt, um die zu messende Datensequenz zu erzeugen. Die "algorithmische Komplexität" überwindet das Problem noch nicht, da die Zufallsanordnung den umfangreichsten Algorithmus benötigt.
    Mit der "effektiven Komplexität" (Murry Gell-Mann) wird das Kriterium "der Länge einer konzisen Beschreibung der Menge regelmäßig wiederkehrender Eigenschaften einer Entität" eingeführt. Die "effektive Komplexität" sowohl von Zufall als auch von strenger Ordnung identischer Elemente tendiert gegen Null.
    Galanter bestimmt die Anwendung von Systemen als Charakteristikum Generativer Kunst. Er schlägt vor, diese System-Anwendung mit Ansätzen der Komplexitätstheorie zu erklären. Die Konsequez dieser Definition ist, "dass Generative Kunst so alt wie die Kunst ist" (10/2006).
  • Lillemose, Jacob: A Re-Declaration of Dependence – Software Art in a Cultural Context It Can't Get out of.
    In: Goriunova, Olga/Shulgin, Alexej (Hg.): read-me. Software Art & Cultures Edition 2004. University of Aarhus 2004, S.137-149. Die Abhängigkeit Konzeptueller Kunst vom Kunstbetrieb trotz oder wegen kunstexterner Präsentationsweisen und Themen wurde von KünstlerInnen wie Sarah Charlesworth und Hans Haacke thematisiert. Auf eine Kritik restriktiver Praktiken des Kunstbetriebs konzentrierte sich eine Erste Generation Kontextueller KünstlerInnen der sechziger und siebziger Jahre. Ab Ende der siebziger Jahre widmete sich eine Zweite Generation Kontextueller KünstlerInnen der Kritik der Repräsentation sozialer Relationen im Kunstbetrieb. Die Dritte Generation der Neunziger Jahre teilt Lillemose in einen Teil, der Ansätze der ersten beiden Generationen aufgreift, und einen interventionistischen Teil. Diese KünstlerInnen kontrastiert Lillemose mit Peter Weibels Konzept der Funktion des Werkes als direkten Eingriff in den Kontext. Ein bestimmter Teil der Dritten Generation Kontextueller KünstlerInnen wechselt von der theoretischen Ebene der Untersuchung von Kunst als soziale Konstruktion zu interventionistischen Praktiken, soziale Beziehungen zu beeinflussen. Daraus entwickelt sich in der Vierten Generation Kontextueller Kunst eine kulturkritisch ausgerichtete Variante von Software Art.
    Auf Sarah Charlesworths kontextkritische "Declaration of Dependence" (The Fox, Nr.1, 1975) folgt nach Lillemose eine "re-declaration of dependence" von programmierenden KünstlerInnen. Software ist nicht nur Programmcode für Compiler, sondern kulturelle Praxis, in der sich wirtschaftliche, soziale und technische Elemente kreuzen: "Programmierer von Programmöglichkeiten" (Thomas Dreher) erzeugen "formations rather than forms" (Nicolas Bourriaud) durch Produkte, die von TeilnehmerInnen im Kontext angewandt und weiter entwickelt werden. Alternative Software "constructs an user" gegen einen von proprietärer Software abgesteckten Erwartungshorizont. Lillemose charakterisiert nicht nur die direkte Aktion, sondern auch die indirekt provozierenden Strategien der Agitation als Bestandteile der Vierten Generation Kontextueller Kunst. Software als Kunst und Mittel ("tool") sind zwei sich wechselseitig erhellende oder durchdringende Aspekte. Lillemose nennt The Yes Men, Institute of Applied Autonomy, Electronic Disturbance Theatre, etoy, LAN, I/O/D, www.0100101110101101.org, übermorgen, Carbon Defense League, TWCDC (Together We Can Defeat Capitalism), Radical Software Group und Knowbotic Research als Beispiele (6/2006).
  • Ryan, Marie-Laure: Cyberspace, Cybertexts, Cybermaps.
    In: dichtung-digital. Ausgabe 1/2004 (6.Jg./Nr.31). Die Autorin spannt einen Bogen von geographischen, mit Karten erfassten Räumen über Karten als Visualisierung von fiktionalen (Handlungs-)Räumen zu Datenräumen. "Statische Karten" mit und ohne Referenzen auf Realräume ("Myst"; Coverley, M.D.: Califia, Eastgate 2000) und "dynamische Karten", die nach Daten suchen, mit denen sie anschauliche Systeme konstruieren (Walczak, Marek/Wattenberg, Martin: Apartment, 2001), bilden die beiden Pole ihrer Beschreibungen von Beispielen aus den Bereichen Hypertext-Literatur für CD-ROM und Netz, Computerspiele und Netzkunst. So wählt Mary Flanagans [Phage] (2000) Daten der Festplatte, kombiniert und zeigt sie in dreidimensionalen Bewegungen "like pieces of trash on a windy day at the dump". Mit "[Phage]" erscheint "the anti-mapper to all mappers" (Dillon, George L.: Writing with Images. Towards a Semiotics of the Web. Washington 2003, chap. 6.2) als letzte Konsequenz von Datensystemen, die selbstbezüglich Datenlandschaften generieren ("Civilization", "The Sims": "let the gameworld serve as its own map").
    Als "revenge of geography" stellt Ryan Ubiquitous Computing mit Ortungstechniken wie GPS vor. 34 North 118 West von Jeff Knowlton, Naomi Spellman und Jeremy Hight dient Ryan als Beleg für eine Rückkehr der realen Referenten und eines Mapping, das nicht mehr beliebig Spielräume für Datenvisualisierung eröffnet. Das Lokalisieren von Beiträgen zum Abruf im Realraum (<Geo-Notes>) und auf Karten (<Geo-Tagging>) erscheint Ryan wie die Rückkehr zum Anfang der Mediengeschichte des Textes: "...the space odyssee of the text reconnects the micro-space of computer memory and the mega-space of the Internet with the measurable human-scale space of the world...the text rediscovers its root in the real world geography" – und kehrt nach seiner Reise durch materielle und immaterielle Textwelten zurück an den Start der "Odyssee" in Kulturen mündlicher Überlieferung (4/2007).
  • Trogemann, Georg: Müssen Medienkünstler programmieren können?
    In: Fleischmann, Monika/Reinhard, Ulrike (Hg.): Digitale Transformationen. Medienkunst als Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. Heidelberg 2004. In digitalen Medien erscheinen Programme im "unscharfen Bereich der gesellschaftlich und sozial codierten Nachrichten und Wahrnehmungsformen". Mit Beispielen aus der Geschichte der Technik und der Wissenschaft plädiert Trogemann, Programmierung in einer erweiterten, über Software hinausreichenden Perspektive zu verstehen: "die Kulturgeschichte der programmierbaren Maschine" als Wissen, ohne das die Funktionen von Programmen im zeitgenössischen Alltag nicht hinterfragt werden können. Künstlerische Programmierung soll aus dieser erweiterten Perspektive erfolgen. Allerdings verkürzt Trogemann die sozialkritischen Aspekte mit seinem Vorschlag einer "Schule der Kognition" für KünstlerInnen: Künstlerische Medienkompetenz als Kenntnis des Zusammenwirkens von Interface und Code ersetzt nicht Fragen nach ökonomischen und sozialen Einflüssen auf Programmierung, Distribution und Programmanwendung. Die Feststellung, dass KünstlerInnen die Erstellung von Programmcodes nicht mehr an SpezialistInnen delegieren können und wollen, dient Trogemann zur Aufforderung, sich mit Digitalisierung nicht nur auf der Ebene der visuellen Wahrnehmung auseinander zu setzen, sondern auch mit Programmcodes. Dennoch bleibt der Code bei Trogemann in der Funktion einer Projektionssteuerung gefangen (6/2006).
  • Whitelaw, Mitchell: Hearing Pure Data. Aesthetics and Ideals of Data-Sound.
    In: Altena, Arie/Stolk, Taco (Hg.): Unsorted Thoughts on the Information Arts. A Guide to Sonic Acts 10. Sonic Acts Press/De Balie. Amsterdam 2004. Die Vorstellung "reiner Daten" ("pure data") widerspricht nach Whitelaw der Praxis: "The data is always and inevitably ordered, organized, formatted..." Das jeweilige Format und seine Umwandlung in andere Formate haben Folgen für die daran anschließbaren Rechenprozesse. Formate für Klänge besitzen in Jason Freemans Applikation N.A.G. (Network Aurelization of Gnutella) nicht nur die transportierten Inhalte, sondern sie werden auch in der Organisation der Suche nach Stücken aus Gnutella (dezentralisierte Verbreitung von meist Klangdateien via P2P) eingesetzt ("sonification", "auralization"), wobei die Suche eingebbaren Schlagworten folgt. Klangformate dienen Ben Hanson und Mark Rubin (Babble online: Applying Statistics and Design to Sonify the Internet) dazu, brauchbare Informationen in Daten zu suchen. Während auf Daten in Formatübertragungen via "data bending" willkürlich und abstrakt ("<re-encoding>) zugegriffen wird, dient die "sonification" der Suche nach Information. Trotz dieses Unterschieds sind Daten und Informationen in der Praxis eng miteinander verzahnt.
    Lev Manovich bezeichnet "data art" als "anti-sublim ("The Anti-Sublime in Data Art", s.o.), da sie für überschaubare Dateneinheiten sorgt. Whitelaw ersetzt "anti-sublim" mit "computational sublime": Rechenprozesse laufen außerhalb der Einflusssphäre von BeobachterInnen ab und können "simultaneous feelings of pleasure and fear" provozieren (McCormack, Jon/Dorin, Alan: Art, Emergence, and the Computational Sublime). Systeme entwerfende KünstlerInnen sind "prototypical data-subjects", die AnwenderInnen zeigen, wie sie "strategies and mappings" einsetzen können: "They may show us a way, to hear for ourselves." Nach Manovich ist die Aufgabe der Kunst in einer "license to portray human subjectivity" festgelegt. Whitelaw ersetzt diese "single subjectivity" durch Prozesse zwischen Personen, die immer schon "data-subjects, from our GUIs to our ATMs" waren (4/2007; 1/2020).
  • Arns, Inke: Read_me, run_me, execute_me: Some notes about software art.
    Vortrag, Kuda.org Centre for New Media, Novi Sad, 9.4.2004. In: Kuda (Hg.): Umetnicka praksa u vreme informacijske/medijske dominacije/Art practice in the time of information/ media domination, Novi Sad 2004, S.39-48. Arns unterscheidet Software Art von Computerkunst der sechziger Jahre, computergestützten reaktiven Installationen der neunziger Jahre und Generative Art. Software Art lenkt die Aufmerksamkeit der RezipientInnen auf die Software bzw. auf den Code im Kontext seines Gebrauchs: Software dient nicht mehr nur als Mittel, das entweder in Computerkunst und reaktiven Installationen als Teil der Black Box Computer behandelt wurde oder in Generative Art als Notation zur digitalen Oberflächengenerierung gezeigt wird.
    In einer von Software geprägten Medien- und Gerätelandschaft verweist Software Art auf die Prozesse ihrer Konstruktion und Festlegung durch ihre AnwenderInnen und/oder ihrer Abhängigkeit von anderen Instanzen: Mit Software steht die Gesellschaft auf dem Prüfstand, in der Digitalisierung zum Normalfall wurde. "Codierte Performativität" bezeichnet nicht allein eine Eigenschaft des auch von Menschen lesbaren Codes (vgl. "Codeworks"), sondern auch die durch das Recht (als Code) geschaffenen Rahmenbedingungen und die etablierten Anwendungsweisen. Diese sozialen Umstände thematisieren insert_coin von Dragan Espenschied/Alvar Freude und walser.php von "textz.com" (Sebastian Lütgert).
    Arns differenziert hier ihre These vom illokutionären Charakter des Quelltextes aus (Arns, Inke: Texte, die (sich) bewegen..., 2001, s. o.). (6/2004; 1/2020: Textfassung nicht mehr im Netz gefunden, dafür ein Video vom Vortrag. Die Textfassung ist z.Zt. nur als Druck verfügbar).
  • Holmes, Brian: Durch das Raster schweifen. Psychogeographie und imperiale Infrastruktur.
    In: Springerin. Bd. X. Heft 3. Herbst 2004, S.18-21. Nach Holmes verbinden sich in Projekten für Collaborative Mapping mit Ortungstechniken zwei imperiale Strukturen: das Internet und GPS. Die politischen Probleme des "Digital Divide" und die militärischen Ursprünge beider Informationssysteme stellt Holmes als Teile einer "imperialen Infrastruktur" dar, die sich gerade in ihrem liberalisierten sozialen und ökonomischen Gebrauch fortsetzt. Obwohl die Strukturen des Internet und des GPS nicht dieselben sind, behandelt sie Holmes, als würden ihre militärischen Ursprünge heute dieselben Probleme verursachen.
    Das "World Geodetic System" ist das globale dreidimensionale Bezugssystem für militärische Projekte und Aktionen der U.S.A. Holmes führt Kartographie mittels des "World Geodetic System" als Teil der "imperialen Infrastruktur" vor.
    Jeron Klees und Esther Polaks Oktober 2002 in Kollaboration mit der Waag Society realisiertes Projekt Amsterdam Real Time zeigte die Wege, die TeilnehmerInnen mit GPS und PDA in Amsterdam zurück legten (und antizipierte Tom Cardens und Steve Coasts OpenStreetMap (OSM): The Free Wiki World Map, ab Dezember 2004). Holmes kritisiert, dass "Amsterdam Real Time" dem "hyper-rationalistischen Raster der imperialen Infrastruktur" nicht entkomme. Es liefere "eine fragile, mit Mehrdeutigkeiten gespickte Geste" und erfüllt damit nicht, was Holmes fordert: "soziale Subversion, psychische Entkonditionierung und eine Ästhetik der dissidenten Erfahrung." Letztere liefert ihm der Situationismus nach dessen Verzicht auf Constants Visualisierungen des Unitären Urbanismus. Kritische Kommentare: Beiguelman, Giselle: Re: Interactive City: irrelevant mobile entertainment? (18.8.2006) In: Institute for Distributed Creativity. iDC mailing list. iDC Digest. Vol.22/Issue 19, 19.8.2006; Cloninger, Curt: Comments to Holmes, Brian: Psychogeography and Imperial Infrastructure. In: Turbulence.org. networked_performance: Research Blog about network-enabled performance, 31.12.2004; Shepard, Mark: Re: Interactive City: irrelevant mobile entertainment? (17.8.2006) In: Institute for Distributed Creativity. iDC mailing list. iDC Digest. Vol.22/Issue 18, 18.8.2006 (10/2006; 1/2020: Springerin bietet auf Ihrer Website nicht mehr die deutsche Übersetzung an).
  • LeMay, Matthew: Reconsidering Database Form: Input, Structure, Mapping.
    In: dichtung-digital. Ausgabe 2/2005 (7.Jg./Nr.35). Der Beitrag enthält folgende Gegenthesen zu Lev Manovichs Aufsätzen "The Anti-Sublime Ideal in Data Art" (2002, s.o.) und Database as a Genre in New Media (1998, integriert mit Modifikationen in "The Language of New Media", Cambridge/Massachusetts 2001, S.218-243. s. Beiträge zur Geschichte der NetArt, oben):
    1.) Die Folge von Manovichs Grundannahme einer "grundsätzlichen Trennung zwischen Form und Inhalt" ist seine Darstellung der "endless ways to map one data set onto another" als Problem der Mapping Art. Dieser Auffassung hält LeMay entgegen, dass es bei Mapping Art um "komplexe Zusammenhänge zwischen Daten und Database", nicht aber um Übertragungen von additiv erweiterbaren Sammlungen "separater Elemente" (Manovich) geht.
    2.) Zwischen der Organisation von Datensammlungen und Databases muss präziser unterschieden werden als dies Manovich tut, da er unterschiedliche Zusammenhänge von "Form" und "Inhalt" in "static" und "dynamic data sets" nicht berücksichtigt. Mit manuellen Eingaben organisierte statische Zuordnungen von Dateien mit Bild- und Klangformaten zu Text-Indices sind die Voraussetzung, um in digitalen Archiven suchen zu können. Generierte dynamische Zusammenstellungen als Resultate computergestützter Suche nach eingegebenen Schlagworten können, anders als in von BeobachterInnen für BeobachterInnen zusammengestellten Archiven, dazu führen, dass ihre Ergebnisse ratlos lassen, weil sie (noch) nicht in Denkrahmen integrierbar sind.
    Der Unterschied zwischen statischen und dynamischen Datenkonfigurationen lässt sich an den Unterschieden zwischen Systemen für CD-ROMs und Suchsystemen im Internet zeigen: Im Gegensatz zu statischen Strukturen auf CD-ROMs erscheint die Abhängigkeit der Suchsysteme im Internet von Indices, die durch Eingaben hinzugefügt wurden, als unbefriedigende Kombination von dynamischer Suche mit statischen Zuordnungen.
    3.) "Anti-sublim" ist nicht die Übertragung von unübersichtlichen Datensammlungen in übersichtliche Visualisierungen, sondern die "database logic". So können Auswahl, Organisation und Präsentation als in einem wesentlich engeren Wechselspiel stehend betrachtet werden, als dies Manovich in seiner einseitigen Ausrichtung auf die "beautification of data" (Simanowski, Roberto: Mapping Art as Cultural Form in Postmodern Times 2005) tut. Zur Database gehört "the interconnectedness between data-as-content and structure-as-form". Gerade darin besteht nach LeMay die von Manovich behauptete, aber nicht adäquat begründete Schlüsselstellung der Database (4/2007).
  • Ries, Marc: Überlegungen zu einer Kartographie des Unsichtbaren. Stadterfahrung und Internet.
    Vortrag, "Negotiating Urban Conflicts", Konferenz, Institut für Soziologie, Technische Universität Darmstadt, 8.-9.4.2005. Auf Englisch in: Berking, Helmuth/ Frank, Sybille/Frers, Lars/Löw, Martina/Meier, Martina/Steets, Silke/Stoetzer, Sergej (Hg.): Negotiating Urban Conflicts. Interaction, Space and Control. Bielefeld 2006, S.167-175. Ries beschreibt Stadterfahrungen als Relationen zwischen Sicht- und Unsichtbarem. Nur über die abstrakte Gesamtansicht der Karten wird das im Kontext wegen der perspektivischen Brechungen der PassantInnen Unsichtbare faßbar. Im Vergleich zum "abstrakten Grundriß für den planerischen Blick" eröffnet das Web "einen eigenen Raum, einen sozio-medialen Raum, der Teil einer Geoästhetik der Medien ist." "Das Internet funktioniert nicht wie ein geographischer Raum mit einem Hier und einem Dort, es ist ein rein relationaler Raum mit dem ausschließlich ein Hier und ein Jetzt gegeben ist." Das ermöglicht "mediale[...] Schnittstellen" für eine "Beteiligungsdemokratie" (4/2013).
  • Whitelaw, Mitchell: System Stories and Model Worlds. A Critical Approach to Generative Art.
    Vortrag, Readme 100, Software Art Factory, Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, 5.11.2005. In: Goriunova, Olga (Hg.): Readme 100. Temporary Software Art Factory. Festival for Software Art and Cultures. HartWareMedienKunstVerein, Dortmund/Stadt- und Landesbibliothek Dortmund 2005/Norderstedt 2006 (Book on Demand/.pdf), S.135-154. Whitelaw will den Gegensatz zwischen einer an visuellen Prozessen orientierten Generativen Kunst und einer Netzbedingungen kritisierenden Software Art ("formalism" versus "culturalism") aufheben. Er schlägt vor, generative Projekte als "Systeme" mit "formaler Struktur" zu lesen, die sowohl Modelle möglicher Welten sind als auch Zeichen enthalten, die in einem Kontext erscheinen, in dem sie interpretierbar sind ("system stories"): "A cultural critique of software art systems is the bridge spanning [Florian] Cramer´s formalist/culturalist duality."
    Whitelaw versucht durch die Auswahl der Beispiele eine Brücke zwischen Generativer Kunst und dem Veranschaulichen von Informationen aus Databases im Kommunikationsdesign (Mapping) zu schlagen: "Golan Levin´s Axis applet abstracts political rhetoric into a database-driven combinatoric."
    Einige seiner Beispiele generativer, formal ausgerichteter Kunst stammen aus den beiden Plattformen Software {Structures} (s.o., Plattformen) und CODeDOC (s.o., Plattformen), beide in "Artport" des Whitney Museum of American Art in New York. Software als aktivistisches Tool, das Interventionen in Datenflüsse erlaubt, erwähnt Whitelaw am Schluss nur, um ihre Reichweite als begrenzt, weil "more local, situated, concrete", vorzustellen.
    Whitelaw greift Ansätze auf, Zusammenhänge zwischen autonomer abstrakter Kunst und Umwelt herzustellen, indem Interpretationen der formalen Werkstruktur um Bezüge zu den Entstehungs- und Rezeptionskontexten erweitert werden. Er integriert in diese Vorgehensweise die Relation Quellcode – Rechenprozess und den (mit Lev Manovichs Abstraction and Complexity behaupteten) Paradigmenwechsel der abstrakten Kunst von Reduktion zu Komplexität (4/2007).
  • Mateas, Michael/Montfort, Nick: A Box, Darkly. Obfuscation, Weird Languages, and Code Aesthetics.
    Vortrag, "6th Digital Arts and Culture Conference", IT-Universitetet i København, Kopenhagen, 2.12.2005. Druckfassung: Proceedings of the 6th Annual Digital Arts and Culture Conference. IT University of Copenhagen. Copenhagen 2005, S.144-153. ProgrammiererInnen verfolgen das Ideal, einen möglichst "eleganten und klaren" Code ("elegance and clarity") für eine Aufgabe zu entwerfen. Im "Obfuscated Programming" dagegen werden Codes bevorzugt, die das Erkennen der auszuführenden Aufgabe erschweren.
    Auch wenn diese Codes zwar maschinenlesbar sind, so sind sie doch primär für die Lesbarkeit von Menschen angelegt. Am Beispiel eines in der Programmiersprache C geschriebenen Code, mit dem ein Ausdruck der Worte "Hello World" gestartet werden kann, zeigen die Autoren Mateas und Montfort, wie sich der Code zu "layers of obfuscation" erweitern lässt. Seit 1984 werden von Jurys im "International Obfuscated C Code Contest" (IOCCC) Beiträge ausgewählt, welche die "dark side of computing" am Besten vorführen.
    Seit 1996 organisiert "The Perl Journal" den "Obfuscated Perl Contest". Mindestens so gut wie C ist die Programmiersprache Perl dazu geeignet, schwer lesbare Codes zu entwerfen, da sie mehrere Alternativen für die Steuerung eines Rechenprozesses anbietet. Da die Befehle viele Begriffe der Alltagssprache entnehmen, eignet sich Perl sehr gut für ein "double coding" aus Steuerbefehlen für Computer ("procedural meaning"), die auch als Texte lesbar sind ("textual meaning"). Auch wenn Perl Poetry "double coding" nutzt, so achten auch hier die die AutorInnen vor allem auf die Lesbarkeit als Text, weniger auf die vom Rechner auszuführenden Funktionen.
    In "weird" oder "esoteric languages" werden Programmiersprachen mit möglichst wenig Grundelementen entworfen, die zwar Ansprüche von Turingmaschinen an "Universalität" erfüllen, aber schwer an verschiedene Aufgaben anpassbar sind. "Brainfuck" und "OISC" ("One Instruction Set Computer") werden als Beispiele für "minimalist languages" vorgestellt, die "comment on computer architectures as well as the nature of computation."
    Mateas und Montfort zeigen die Bedeutung von "double coding" und der "puzzle-like nature of coding" "for any theory of code", weil sie "present in all coding activity" sind (4/2015).
  • McGonigal, Jane Evelyn: This Might Be a Game. Ubiquitous Play and Performance at the Turn of the Twenty-First Century.
    Dissertation. Philosophy in Performance Studies. University of California. Berkeley 2006. McGonigal stellt Beispiele von 2001-2006 für die Anwendung von Ubiquitous Computing in Games vor, die TeilnehmerInnen mit technischem Equipment (Mobiltelefone, PDAs, digitale Kameras, GPS Empfänger u.a.) in Außenräumen spielen. Sie untersucht die Spiele nach Gesichtspunkten, die für DesignerInnen und SpielerInnen relevant sind.
    Ihre Unterscheidung in Ubiquitous Computing Games und Pervasive Games setzt die Unterscheidung in überall einsetzbares (ubiquitous) und nur kontextspezifisch einsetzbares technisches Equipment (pervasive) voraus. Neben diesen Games mit eigenem technischem Equipment stellt McGonigal auch Ubiquitous Games vor, für die TeilnehmerInnen eigene technische Mittel (Internet) einsetzen: Die Alternate Reality Games (ARG) sind auf eine andere Weise "ubiquitous" als die Ubiquitous Computing Games. Während das Spielfeld der Ubicomp Games für neue Spiele an verschiedenen Orten eingerichtet werden kann, erfordern die ARGs von SpielerInnen, herauszufinden, wo die SpielleiterInnen (Puppet Masters) weitere Informationen in teilweise verschlüsselter Form hinterlassen. Den Zusammenschluss von SpielerInnen zu Gruppen, die kollaborativ die Aufgaben lösen, schildert McGonigal am Beispiel der Cloudmakers, welche die Puppet Masters von "The Beast" herausforderten.
    Während die ARGs von TeilnehmerInnen verlangen, dass die Fiktion des Spieles als Wirklichkeit anerkannt wird, setzen Pervasive und Ubicomp Games mobile SpielerInnen voraus, die das technische Equipment mit Alltagsanforderungen koordinieren können.
    Statt Spiele, die Wendigkeit im Alltag erfordern, von Spielen zu unterscheiden, die eine ergänzende Bedeutungsebene etablieren (Pragmatik/Fiktion), setzt McGonigal überall die Bildung eines sich von der Umwelt abgrenzenden oder von ihr abgehobenen Spielhorizontes voraus (Johan Huizingas "toovercirkel"/"magic circle"), der dann durch die erforderliche Anpassung an vorgefundene Umweltbedingungen auf verschiedene Arten (auf)gebrochen wird. Abweichend von Markus Montola hält sie diese Brechungen nicht für ein Phänomen neuer Spielformen, sondern weist Brechungen nach, welche die Geschichte der Theorien für Spiele beeinflusst haben (7/2009).
  • Paloque-Bergès, Camille: Poétique des codes sur le réseau informatique: une investigation critique.
    Forschungsprojekt im Rahmen eines Master 2 de Lettres Modernes, l´Ecole Normale supérieure Lettres et Sciences humaines de Lyon, 2005-2006. Druckfassung: Éditions des archives contemporaines. Paris 2009. Paloque-Bergès stellt ein Feld literarischer Experimente mit Codes vor, das von Textgeneratoren bis zur Code Poetry reicht – von der Entwicklung von Programmen für Textgenerierung bis zu den Textformen der Code Poetry, die zwar von Codes angeregt, aber nicht maschinenlesbar sind. Die Autorin beschränkt sich auf Werke, die im Internet publiziert oder als Netzkunst realisiert wurden.
    In der Einleitung weist Paloque-Bergès auf Florian Cramers Thematisierung des nicht nur von Rechnern ausführbaren, sondern auch von Menschen lesbaren Codes: Der geschriebene Code hat Textcharakter («performativité», «textualité»), den Graphic User Interfaces (GUI) verstecken und nur indirekt, als von Rechenprozessen ausgelöste Bildschirmpräsentationen, erkennen lassen. Paloque-Bergès stellt verschiedene künstlerische Strategien vor, die Relationen Code-Text und Code-Rechenprozess-Präsentation (bzw. Output) zu thematisieren. Sie orientiert sich dabei methodisch häufig an Gary Lee Stonums Diskussion der Relationen «message/code/bruit» (S.133; Stonum, Gary Lee: For a Cybernetics of Reading. In: Modern Language Notes. Vol.92/Nr.5. December 1977, S.945-968) und folgt Michael Riffaterres Referenztheorie, nach der Bezüge von Äußerungen auf Außersprachliches nur durch intertextuelle Bezüge möglich sind: Referenz wird innersprachlich konstituiert (S.133f.; Riffaterre, Michael: Sémiotique de la Poésie. Paris 1983). Während die Autorin Stonums Auffassung von «bruit» als «un code virtuel, à faire emerger» (S.55,133) vorstellt, verzichtet sie leider auf eine kurze Vorstellung von Riffaterres Auffassung einer innersprachlichen Konstitution von "Mimesis". Dem potentiell aus «bruit» bildbaren Code (Emergenz) steht der Code gegenüber, den Paloque-Bergès als «mimesis elle-même mimée» (selbst-imitierend) vorstellt und von selbstbezüglichen formalen, nicht-mimetischen Sprachen abgrenzt (S.80).
    Die experimentelle Literatur kreuzt Sprache und Programmierung auf verschiedene Arten:
    1. Charles O. Hartman (Projekt Virtual Muse, 1996, S.23-26,29f.,38f.) und Jim Carpenter ("Electronic Text Composition Project, Public Override Void", 2005-2006, S.36-39) setzen Generatoren zur Erzeugung von Texten ein. Carpenter betont den Vorrang des Programms vor den errechneten Texten und schreibt dem Programm den Status des Werkes zu. Während Hartman in handschriftlicher Übertragung und durch Überarbeitung den generierten Texten das Irritierende nimmt, stellt Carpenter das Generierte aus.
    2. «Languages ésotériques» wie Ook von David Morgan-War (ab 1990, S.59) oder Brainfuck von Urban Müller (1993, S.56) sind aus zwei bis acht Grundelementen konstruierte Programme. Nicht ihre Brauchbarkeit zur Ausführung von Funktionen, sondern die Vorführung der "Kunst", Programme zu erfinden (mit Donald E. Knuth: «l´art de la programmation», S.12,41f.,80f.), ist das Ziel der Autoren.
    3. Wettbewerbe regen die Entwicklung von Codes in Programmiersprachen wie C oder Perl an. Jurys bewerten bestimmte Arten, ein Ziel zu erreichen. So wird im "International Obfuscated C Code Contest" (IOCCC, S.50f.) jedes Jahr ein besonders schwer nachvollziehbares Programm von einer Jury ausgesucht (grand prize/Best of Show winners): Maschinenlesbare Codes sollen besonders raffiniert in ihrer Art sein, LeserInnen Rekonstruktionen der Steuerung des Rechners zu erschweren.
    4. Paloque-Bergès wählt Beispiele der Netzkunst – unter Anderem von ASCII Art Ensemble, Giselle Beiguelman und Jodi – , in denen Andeutungen und Vortäuschungen von Störungen, nicht aber Experimente mit Rechenprozessen die Werkrezeption prägen:
      «Les net.artistes jouent à mimer la complexité de l´environnement informatique en faisant des manipulations de surface pour faire signe vers les <profondeurs> du code.» (S.90)
    5. Während in "Perl Poetry" poetische Fragen die Programmierung bestimmen (Larry Wall (Just another Perl Hacker, März 1990, S.61) und Perlmonks (mit life.pl, 2005, und Hard Times, 2005, S.61f.)), ohne die Maschinenlesbarkeit aufzugeben, werden in "Code Poetry" Schreibweisen von Codes in Texte integriert, die dadurch zwar ungewöhnliche Buchstabenfolgen enthalten, aber meist nicht mehr maschinenlesbar sind: «Le code est transformée en pseudo-code» (S.113). Der Computerkontext, aus dem in Codeworks von MEZ Breeze, Alan Sondheim oder Pascale Gustin (S.114-119,122f.,126-130) Kombinationen von Textzeichen entnommen wurden, kann LeserInnen schon deshalb weitere Anregungen für die Ausarbeitung von Dechiffriermöglichkeiten liefern, weil viele Werke für diese Art der Rezeption erfunden wurden.
    In ihren Analysen des Konfliktfeldes zwischen "Obfuscation" des Codes, auf Code-Eigenschaften meist nur verweisender, nicht aber mit Codes experimentierender Netzkunst und der Code Poetry verwendet Paloque-Bergès häufig die Begriffe «double codage» (S.56,60,63f.,66,80,86,118,131) und «mimesis» (S.38,80,113 mit Anm. 375). Letzteres steht für gesuchte Verwandtschaften zwischen Programm- und Texteigenschaften (S.113:«le...pseudo-code [des codeworks] mime le language de programmation mais qui perd sa fonction d´instruction au profit de la fonction expressive.»), während der Begriff «double codage» Codes bezeichnet, die neben ihrer Maschinenlesbarkeit («fonctionnel», S.57) auch als Text für LeserInnen 'Sinn' haben («naturel»: «un autre sens pour le lecteur humain», S.57. Vgl. Mateas/Montfort: A Box, Darkly, s.o.). Paloque-Bergès analysiert sowohl dieses Problemfeld der Performanz von Codes und Texten als auch die für ihre Verbreitung im Internet genutzten Internetforen.
    Codeworks wurden von ihren AutorInnen in Mailing Lists verbreitet. Dort gerieten die AutorInnen durch die Abweichungen ihrer Beiträge von diskursiven und dialogischen Textformen in Außenseiterrollen. Die AbsenderInnen von Codeworks wurden mit vielen protestierenden Mails konfrontiert. Außerdem gab es zahlreiche Abmeldungen von den mit Codeworks überfluteten Listen.
    Paloque-Bergès stellt die Strategien von Jodi und NN Antiorp vor, LeserInnen und AdministratorInnen von Mailing Lists herauszufordern. Diese Herausforderungen ("Spam Art") enthielten im Falle der Mail-Flutung von "Syndicate" (1996-2001) und "nettime" durch NN Antiorp (S.108f.,111f.) nicht nur Code-nahe Texte, die verdächtige Codes filternde Programme und Empfänger der Mails alarmierten, sondern auch Angriffe auf die Kommunikationsformen von TeilnehmerInnen der Liste: NN Antiorp lotete die Möglichkeiten zur Gegenattacke auf die Proteste von ListenteilnehmerInnen aus. Paloque-Bergès´ Analyse von NN Antiorps Gegenattacken lässt allerdings kein über die Destruktion der Kommunikation in Internetforen hinausgehendes Ziel erkennen.
    Anders als MEZ Breeze und Alan Sondheim in ihren "webartery" bereichernden Beiträgen stellt die Gruppe NN Antiorp mit "Syndicate" auch ihre Kommunikationsbasis in Frage: Mit dem Ende einer Mailing List wird auch ihr Archiv vom Server gelöscht, sofern es nicht als Dokument gespeichert wird.
    «Poétique des codes sur le réseau informatique» ist eine grundlegende Untersuchung digitaler Literatur mit den Relationen zwischen Präsentationsformen und Code als Leitfaden. Leider erschwert es die Autorin durch ihre Reduktion auf knappe Hinweise den LeserInnen, ihrer Vorstellung von wenig beachteten Aspekten digitaler Literatur zu folgen und ihren Interpretationsansatz zu erkennen (4/2015; 1/2020: nicht im Web gefunden).
  • Simanowski, Roberto: Transmedialität als Kennzeichen moderner Kunst.
    In: Meyer, Urs/Simanowski, Roberto/Zeller, Christoph (Hg.): Transmedalität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren. Göttingen 2006, S.39-81. Der Begriff Transmedialität bezeichnet in Simanowskis Definition den "Übergang konfigurierter Zeichenverbundsysteme ineinander". Nach Jay David Bolters und Richard Grusins "Remediation: Understanding New Media" (Cambridge/Massachusetts 1999, S.19-44) gibt es in der "Geschichte der Vermischung verschiedener Formen der Repräsentation" Darstellungsweisen, die BeobachterInnen an das "Medium" erinnern oder es leugnen: "Hypermediacy" und "Immediacy". Eine thematisierte Transmedialität ("Hypermediacy") stellt Simanowski als zeitgenössische Konsequenz aus dem von Clement Greenberg in "Towards a Newer Laocoon" (1940) artikulierten Anspruch vor, dass Kunst "purity" durch die Akzeptanz der Grenzen ihres Mediums mittels Reduktion aller Selbstbezüglichkeit störenden Elemente erreiche. Problematisierungen der eigenen Medien setzen nach Simanowski heute voraus, Multi-, Inter- und Transmedialität zu thematisieren. Von der Reduktion von allem einem Medium Fremden – dies war der Kern von Greenbergs "formal criticism"/"modernism" – lässt sich ihr Anlass retten, also die selbstbezügliche Reflexion des Mediengebrauchs, "denn Multimedialität ist die logische Konsequenz der Übersetzung aller Informationen in einen digitalen Code."
    Simanowski thematisiert "Transmedialität" in Werken, die nicht nur programmierte Medien enthalten. An Beispielen von Emmett Williams ("13 Variations on 6 Words of Gertrude Stein", 1958/65) und Tim Noble/Sue Webster ("Dirty White Trash (with Gulls)", 1998) stellt Simanowski verschiedene Arten der Transmedialität vor. Williams überschreibt einen Text bis zur Unlesbarkeit. Der Text wird zum visuellen Gewebe, nicht ohne auf seine Herkunft zu verweisen: "Transmedialität besteht in der Potenzierung eines Mediums". Noble/Webster installieren eine aus Müll arrangierte Skulptur so vor einem Scheinwerfer, dass ein Schattenspiel entsteht. Die Skulptur liefert mit ihrem Umriss als Lichtbrecher einen ungewöhnlichen Anlass zum Recycling: Wird hier nur "Plastik zum Bild", oder wird nicht vielmehr die Plastik in eine (Installation als) Vorführung der Erzeugung von Schattenrissen integriert? Die Frage zeigt, dass Transmedialität (auch) eine Frage der Beobachung ist – und Simanowski thematisiert Transmedialität als "Transfer, der im Moment der Rezeption stattfindet...oder thematisiert wird".
    Die programmierte Transmedialität stellt Simanowski mit Laurent Mignonneau/Christa Sommerers "Life Spacies II" (1999, Internet und Installation) vor: Texteingaben werden in Pflanzenformen transformiert. Der "numerische Code" wird in Mapping Art zum Anlass "transmediale[r] Kopien", die Datenkonfigurationen erstens im Hinblick auf soziale Prozesse, die sie wiedergeben oder von denen sie erzeugt werden, leichter lesbar machen, zweitens sie zum Anlass der Erzeugung "abstrakter Gebilde" verwenden, oder drittens sie "in den Dienst einer Aussage, wenn auch nicht über diese Daten selbst" stellen. Mapping Art wird nicht nur als Problem der Festlegung von Codes der Übertragung von Datenkonfigurationen thematisiert, sondern auch als Problem der Plausibilität für BeobachterInnen.
    "Visualisation art is concerned with the anti-sublime" meint Manovich (in "The Anti-Sublime Ideal in Data Art", s.o.), und Simanowski entgegnet ihm mit der Vorstellung von Mapping Art als "neue Stufe des technisch Erhabenen", wobei KünstlerInnen das "Unfassbare in verständliche ästhetische Formen" bringen, ohne das Ästhetisierte kommentieren zu müssen. Mit der Verschiebung der Kernfragen von Mapping Art vom Programmcode zu den Wirkungen, die er maschinell erzeugt, und damit von "Meta-media" (Manovich) zur beobachteten Transmedialität, kann Simanowski zwar "die postmoderne Erfahrung, dass es keinen einen Punkt gibt, von dem aus Wirklichkeit verstanden werden kann", nicht aber die nicht beliebig pluralisierbare Wirklichkeit des Technisch-Digitalen und ihrer Programmierung thematisieren. Dann wäre auch nicht mehr der Medienübergang selbst, sondern die Programmierung und die technischen Möglichkeiten ihrer maschinellen Umsetzung relevant. Und aus dieser Perspektive sind "Programmierkenntnisse" nicht mehr nur <handwerklich>, weil für transmediale Prozesse und andere brauchbar, sondern Programmiersprachen (und die Kulturen der Programmierer) wären ein entscheidender Bezugspunkt der Reflexion, während Transmedialität nur als Folge des Programmierbaren erschiene (4/2007).
  • Yoshida, Miya: The Invisible Landscapes: The Construction of New Subjectivities in the Era of the Mobile Telephone.
    Diss. Malmö Academies of Performing Arts, Lund University. Lund 2006. Yoshida stellt Kunst für Mobiltelefone als Teil eines Prozesses vor, der zu "Invisible Landscapes" führt. Im Zentrum ihrer Argumentation steht eine Verschiebung vom Les- zum Hörbaren und damit zum Unsichtbaren. Die Bedeutung, die heute Bildschirme von Mobiltelefonen spielen, ist für Yoshida noch nicht entscheidend.
    Sie wählt fünf Beispiele aus den Gruppenausstellungen "Invisible Landscapes" in Malmö (2003), Bangkok (2005) und Lund (2006), die von ihr (ko-)kuratiert wurden. Zwei ihrer Beispiele (Tony Oursler, Shilpa Gupta) sind Werke für Mobiltelefone, drei weitere (Laura Horelli, Annika Ström, Henrik Andersson) thematisieren den Mobilfunkkontext als Installation, Video oder Tondokument. Yoshida ergänzt diese Beispiele um ein in Lund dokumentiertes Projekt von Rimini Protokoll (Call Cutta Mobile Phone Theater, 2005), das die Praxis indischer Telefondienste an einem Beispiel zeigt. MitarbeiterInnen eines Call Centers führen von Kalkutta aus via Mobiltelefon TouristInnen durch Berlin. In ihrer überzeugenden Interpretation dieses Projekts folgt Yoshida Anregungen, die sie in Maurizzio Lazzaratos "Lavoro immateriale" (1993/97) fand.
    Der unsichtbare Hörraum der Mobiltelefone (oder einer bestimmten Nutzung von Mobiltelefonen im Spektrum Mobiltelefon-Smartphone-PDA-Laptop-Computer) provoziert ein "injured listening" und im produktiven Umgang mit Klangdateien eine musikalische "culture of copy". Diese Kultur führt zu "iPodjacking" (den Kopfhörer in iPods unbekannter PassantInnen stecken und das Archiv mithören) und zum "Sharing" von Tondokumenten mit tragbaren Geräten (TunA und Café Sound Life für PDAs). Dieser Umgang mit Tondokumenten steht exemplarisch für eine "psychological flatness" (David Joselit: Notes on Surface. In: Art History. Vol. 23/No. 1. March 2000, S. 19-34). Diese Fähigkeit, die "flatness" und den Umgang von Angestellten der Telefondienste mit Kunden, den Rimini Protokoll vorführen, modifizieren und damit `brechen´ zu können, weist Yoshida als Teil einer Subjektivität (Imagination und Produktivität) aus, die nach Lazzaratos Darstellung zeitgenössisches Management nicht mehr nur von Fachkräften, sondern auch von allen Angestellten fordert.
    In ihrer "juxtaposition" verschiedener Bereiche des Mobilfunkkontextes stellt Yoshida die Vorgeschichte der Telekommunikation, die sie einsetzende Kunst sowie die wirtschaftliche und soziale Rolle der Koltan-Schürfung vor (visualisiert von Alice Creischer und Andreas Siekmann). Koltan dient unter anderem der Gewinnung von Tantal für Kondensatoren der Mikroelektronik mit hoher elektrischer Kapazität, die in Mobiltelefone, Laptops u.a. eingesetzt werden.
    Das Medium Mobiltelefon wird als kontrollierter und kontrollierbarer Hörraum und – mit Arjun Appadurai – als Teil einer Durchdringung von "ideo-, media-, ethno-" und "financescape" vorgestellt (6/2009).
  • Taylor, T.L.: Beyond Management. Considering Participatory Design and Governance in Player Culture.
    In: First Monday. Special Issue Nr.7. October 2006. Taylor charakterisiert vier Arten, SpielerInnenverhalten in das Design und Management von MMOGs (Massively Multiplayer Online Games) einzubeziehen: "...players as consumers, (potential) disruptors, unskilled/unknowledgeable users, and rational/selfish actors." Sie vermisst dabei die Berücksichtigung von aktiven SpielerInnen, die nicht nur Vorgaben folgen, sondern eigenständige SpielerInnenkulturen bilden, die auch Folgen für die Spielweisen haben.
    Sony Online Entertainment arbeitet bei der Weiterentwicklung von EverQuest mit SpielerInnen zusammen. Veranstaltungen für SpielerInnen sind teils Werbeveranstaltungen und teils Treffen zwischen DesignerInnen und SpielerInnen. Die Praxis, mit SpielerInnen, die auffielen, in "strong participatory design" zusammen zu arbeiten und sie für die Entwicklung anzustellen, kritisiert Taylor: Die Eigenständigkeit von SpielerInnenkulturen und ihr Zusammenhang mit dem kulturellen Kontext gerät mit SpielerInnen, die ihrem Arbeitgeber verpflichtet sind, aus dem Blickfeld.
    Als Beispiel für diese Eigenständigkeit erwähnt die Autorin einen SpielerInnenstreik in "World of Warcraft" (Januar 2005), der von Blizzard mit dem Hinweis beantwortet wurde, dass "protesting in game" kein "valid way to give us feedback" sei. Die Konten von SpielerInnen des "warrior protest", der auf einem bestimmten Server an einem bestimmten Tag zu festgelegter Zeit andere TeilnehmerInnen am Spielen hinderte, wurden gelöscht.
    Auch wenn in dem Projekt "Rapunsel" (2003-2006) von Mary Flanagan, Ken Perlin, Jan Plass und einem ForscherInnenteam zwar ein Spiel, aber kein MMOG entwickelt wurde, so ist doch nach Taylor die Integration von SpielerInnenverhalten in den Designprozess mit seinem "core value set" beispielhaft: "autonomy, equity, access, creativity, diversity, empowerment and authorship." (7/2009; 1/2020)
  • Nitsche, Michael: Claiming Its Space: Machinima.
    In: dichtung-digital.org. Nr.37/2007. Nitsche skizziert die 2001 beginnende Entwicklung von Filmen, die mit Game Engines erstellt worden sind und auf Internet-Plattformen verbreitet werden. Der Autor betont dabei nicht nur die Einführung von kinematografischen Elementen in das von Games wie "Doom", "Stunt Island", "Quake", "Halo", "World of Warcraft", "The Movies" und "The Sims" bestimmte Animationsvokabular, sondern auch den "performative aspect" (Aarseth, Espen J.: Cybertext. Baltimore/Maryland 1997, S.21) einer nach dramatischen Kriterien veränderbaren vorprogrammierten virtuellen Welt (Laurel, Brenda: Toward the Design of a Computer-based Interactive Fantasy System. Dissertation. Graduate School of Ohio State University, Columbus/Ohio 1986, S.21).
    Nitsche erörtert Machinima-Produktionen als Nachfolger der heute nicht mehr angebotenen Möglichkeiten zur Erstellung von Demo Files, in denen SpielerInnen den Spielverlauf speichern konnten. Wenn im Spielsystem der im Demo File gespeicherte Spielverlauf (re-)aktualisiert wurde, dann erschien die Performance einer Spielerin/eines Spielers in einer filmischen Beobachtungssituation: Mit diesem Übergang zwischen dokumentiertem Gameplay und Film antizipierten Demo Files nach Nitsche spätere Machinima-Produktionen.
    An Hand von drei Beispielen zeigt er, wie "in-game topics" von "World of Warcraft" in Machinima-Filmen thematisiert werden: Deren Handlung ist von Konflikten bestimmt, die SpielerInnen vertraut sind. Außerdem kann das Interface eines Computer Games ebenfalls zum handlungstragenden Element des Films werden (z.B. Pals for Life: Leeroy Jenkins, 2005, bis 24.10.2014 in YouTube 41 Millionen mal angesehen; 9/2022: nicht mehr in YouTube).
    Von diesen "Inside-out"-Produktionen sind "Outside-in"-Produktionen wie Katherine Anna Kangs "gothic fairy tale" Anna (2003) zu unterscheiden, in denen das Animationsvokabular der Game Engines für spielunabhängige Filme ("stand-alone animation pieces") eingesetzt wird. Während Kang bekannte literarisch-filmische Topoi wiederbelebt, entsteht in den "friction zones" zwischen "game", "play" und "presentation" nicht nur technisch, sondern auch filmästhetisch Neues.
    In "Machinima as Media" (in: Lowood, Henry/Nitsche, Michael: The Machinima Reader. Cambridge/Massachusetts 2011, S.113-125) wird Nitsche auf die Gefahr hinweisen, dass durch den Einsatz von "screen capture and postproduction techniques" sich zwar neue Entwicklungsmöglichkeiten für Machinima-Produktionen ergeben, dafür sich aber auch die Gefahren "for the identity of machinima as its own format" erhöhen (4/2015).
  • Goriunova, Olga: Swarm Forms: On Platform and Creativity.
    In: Mute. Vol.2/Nr.4. January 2007, S.46-57. Während statische Plattformen ihre Inhalte auf einer zentralen Schnittstelle zeigen und KuratorInnen für die Themenausrichtung sorgen, ermöglichen dynamische Plattformen Zugänge über mehrere Schnittstellen und AdministratorInnen sorgen für die Aufrechterhaltung der Funktionen, kümmern sich aber nicht um die Inhalte.
    Neben den unter dem Schlagwort Web 2.0 viel diskutierten dynamischen Plattformen, die kommerziell betrieben werden, während die Urheberrechte den Beitragenden gehören ("shared copyright"), sieht Goriunova eine Möglichkeit für Kunstplattformen ("art platforms"), themenorientiert und unabhängig zu bleiben. Die fehlende Menge an BesucherInnen hält InvestorInnen ab und garantiert Unabhängigkeit.
    Plattformen betreibende EnthusiastInnen und TeilnehmerInnen sollten sich um die Themenausrichtung kümmern. Kennzeichen einer Kunstplattform ist es nach Goriunowa, eine "kulturelle Entität" ("cultural entity") zu bilden: "Its subject is avant-garde and marginal." Als Beispiele für Kunstplattformen nennt Goriunova – wie schon in älteren Artikeln – Micromusic.net und Udaff.com neben der Plattform runme.org (s.o., Plattformen), die sie mitbegründete. Der Unterschied zwischen den Kunstplattformen und den Plattformen für einen "hive mind" ist Goriunova offenbar wichtiger als der zwischen statischen und dynamischen Plattformen. Ihr Resumee: "...platforms cannot in general be stigmatised as loci of the unoriginal `hive mind´, and there is no need for a term like Web 2.0." (4/2007).
  • Munster, Anna: The Image in the Network.
    Vortrag, New Network Theory: International Conference. Universiteit van Amsterdam, Amsterdam, 28.6.2007. In: New Network Theory Reader. Collected Abstracts and Papers. Amsterdam 2007, S.6-15. Munster meint, in Benjamins Vergleich der Allegorie mit dem Symbol Letzteres durch das Diagrammatische ersetzen zu können: Das Symbol wahrt die "Identität von Besonderem und Allgemeinem", während die Allegorie "ihre Differenz [markiert]" (Benjamin). Munster interessiert, wie Diagramme mit der Vagheit der Relation zum Dargestellten an Allegorischem gewinnen: "...a kind of becoming allegorical of the diagrammatic."
    Als Beispiel dafür erwähnt sie Digg Swarm der Digg Labs, das die in der Plattform Digg gespeicherten Hinweise von TeilnehmerInnen auf interessante Webseiten auf dynamische, sich selbst aktualisierende Weise veranschaulicht. "Fidg't Visualizer" kombiniert zwei Plattformen (Flickr, LastFM): Mittels "Tag Magnet" können TeilnehmerInnen Relationen zu anderen TeilnehmerInnen erkennen und die integrierten Funktionen abrufen. Einerseits werden Datenvisualisierungen zum "diagram as activity and process" erweitert, andererseits wird so auch die "endless generation of its own redundancies" erleichtert.
    Geotagging auf Google (mittels Google Maps API) charakterisiert Munster als "a mash up of the diagram and the allegory in network visuality." Sie sieht in den erwähnten Beispielen "the potential for both the disjunctive (diagrammatic expanded in its expressive capacities) and the temporal (allegorical as a mode of unfolding historicity) to play more overt and generative roles in our images and imaginings in networks." (8/2009)
  • Prada, Juan Martin: Web 2.0 as a New Context for Artistic Practices.
    Vortrag. In: Prada, Juan Martin (Hg.): Inclusiva-net. New Art Dynamics in Web 2 Mode. First Inclusiva-net Meeting. Medialab-Prado. Madrid, Juli 2007, S.6-21. Der Vortrag hat Pamphlet-Charakter. Gegen die unfreiwillige Unterstützung kommerzieller Plattformen ("social networks"), die das Bedürfnis der TeilnehmerInnen nach Mitteilung auswerten, soll "the movement for `free data´" via "social software" zu einer Rekonfiguration in "net.art 2.0" führen, welche die "connected multitude" sich zu einer "co-intelligence" zu formieren ermöglichen soll.
    Prada schreibt den "metadata" ("classifying, tagging, selecting, voting, scoring, etc.") eine zentrale Rolle zu und nennt "Subvertr" von Les Liens Invisibles und 10 x 10 von Jonathan Harris als Beispiele. Wertung: Leider viele Schlagworte und wenig Konkretes (7/2009; 1/2020: nur noch in der Publikation des "Fibreculture Journal", Issue 14/2009 im Web gefunden).
  • Sentamans, Tatiana/Fabre, Mario-Paul Martinez: The Lapses of an Avatar: Sleight of Hand and Artistic Praxis in Second Life.
    Vortrag. In: Prada, Juan Martin (Hg.): Inclusiva-net. New Art Dynamics in Web 2 Mode. First Inclusiva-net Meeting. Medialab-Prado. Madrid, Juli 2007, S.51-77. Second Life-Projekte von KünstlerInnen werden vorgestellt und teilweise genauer beschrieben. Projekte, die Zusammenhänge zwischen Virtualität und Wirklichkeit thematisieren, werden Arbeitsweisen gegenübergestellt, die medienimmanent vorgehen. Als Beispiel für Ersteres wird "Imaging Place SL: U.S./Mexico Borders" (John Craig Freeman) vorgestellt. Medienimmanent dagegen gehen "Hyperformalism" (Dancoyote Antonelli), "Code-Performance" (Eva und Franco Mattes) und "La-Interactiva" (Richard Gras u.a.) vor. Wertung: Brauchbare Einführung (7/2009; 1/2020).
  • Breeze, Maryanne: The Sound of Reality Lag: Versionals are the New Black.
    In: Furtherfield Review, 7.8.2007. Plattformen des Web 2.0 wie MySpace, Facebook, Flickr, YouTube, Twitter u.a. ersetzen "ego-mediated variables" durch "actuated identity markers". Die Menge dieser Markers, ihre Verbreitung und die Verbindungen mit wie zwischen ihnen sind für "versionals" entscheidend, nicht Freundschaft. Aus privaten Daten wird "open-ended versional noise". Das Verhältnis zur Wirklichkeit wird vom "versional effect" infiziert (7/2009; 1/2020; 9/2022: Seite nicht im Netz gefunden).
  • Flanagan, Mary: Locating Play and Politics: Real World Games & Activism.
    In: Proceedings of the Digital Arts and Culture Conference. Perth, September 2007 (perthDAC 2007); Leonardo Electronic Almanac. Vol.16/Issue 2-3. 2008. Henri Lefebvre unterscheidet in «La production de l´espace» zwischen entfremdetem abstraktem öffentlichem Raum, der von Eigentum, Überwachung und Konsum geprägt ist, und einem vom Sozialleben der in ihm lebenden Menschen geprägten Stadtraum. Blast Theory´s Can You See Me Now? (2001) sieht Flanagan kritisch, da Ortsmerkmale und Straßen nur Elemente eines Spielfeldes sind. Ihre eigene Geschichte und Bedeutung werden nicht zu Bestandteilen des Spiels.
    Als positive Beispiele stellt Flanagan Anne-Marie Schleiners Operation Urban Terrain (OUT) (2004), Suyin Loouis "Transition Algorithm" (2006) und Samara Smiths "Chain Reaction" (2006) vor. Keines dieser Projekte integriert GPS. Die Autorin schließt daraus nicht, dass Projekte mit Ortsbezug auf lokalisierende Technologien verzichten sollen, sondern empfielt, beim Design konzeptuellen Aspekten mehr Beachtung als den technologischen Mitteln zu schenken. Den Gegensatz zwischen mit instrumentellem Handeln erreichbarem Spielziel und sozial orientiertem Ortsbezug erwähnt die Autorin, offeriert aber kein Konzept zu seiner Auflösung in aktivistisch ausgerichteten Spielen (7/2009).
  • Whitelaw, Mitchell: Art against Information. Case Studies in Data Practice.
    In: Fibreculture. Issue 11/2008: 7th Digital Arts and Culture Conference. Perth, September 2007 (perthDAC 2007). Whitelaw wählt Netzprojekte, Skulpturen und Videos einer "data art" und untersucht deren Umgang mit Daten als ex- oder interne Elemente von Systemen. Die Systeme erlauben oder verhindern Rückschlüsse auf Umwelt. Sie behandeln die Daten als Teile einer Umwelt und versuchen, Rückschlüsse über sie zu liefern, oder sie stellen sie nur in Relationen zu Metadaten und bieten den RezipientInnen Möglichkeiten der Interpretation. In anderen Fällen werden Resultate als ästhetisches Ereignis ohne Informationen vorgestellt, die eine Rekonstruktion der sie erzeugenden Datenverarbeitung erlauben könnten.
    Golan Levins The Dumpster (2006) und Jonathan Harris/Sep Kamvars We Feel Fine (2006) visualisieren Blog Posts. Die Posts werden nach Whitelaw alle gleich behandelt, ohne ihren Inhalt zu berücksichtigen. Diese von Informationen befreiten Datensets liefern eine "uniform diversity". Die Ausklammerung der Art der Datenproduktion in den Visualisierungen führt zu einem "strangely naive sense of collapsed indexicality."
    Während die dreidimensionalen "Structures" (The Spam Architecture series, ab 2005; The Spam Plants series, 2006) von Alex Dragulescu ohne Informationen über die ihrer Herstellung zugrunde liegende Verarbeitung von Daten in Spam Mails "unheimlich" erscheinen, visualisiert Lisa Jevbratt in 1:1 im Interface Every (1999/2001) Daten des Internet als Ganzes. RezipientInnen können über die Zugangsdaten zu Webseiten die Webseiten selbst aufrufen: Die Herkunft der Daten ist transparent, doch wofür eine Datenvisualisierung in rechtwinklig begrenzter Fläche brauchbar sein kann, bleibt offen. Brad Borevitz eruiert in State of the Union (ab 2006) die Häufigkeit des Vorkommens von Begriffen im Archiv der Reden amerikanischer Präsidenten über den "State of the Union" (seit 1790) mit statistischen Mitteln und visualisiert sie. Während Borevitz die Herkunft der Daten einerseits vorführt und ihre Wertigkeit (als Häufigkeit) andererseits in Diagrammen abruf- und vergleichbar macht, schafft Jason Salavon Daten durch Abstraktion: Videoframes werden in "Everything All at Once (Part I-III)" (2001-2005) auf eine Durchschnittsfarbe reduziert, während der Ton unverändert bleibt. Die Datenquelle wird zum "abject" und zur "ultimately empty, mass of generic content."
    Nach Whitelaw ist für Data Art der Gegensatz zwischen "data in itself" und Information entscheidend. Die Projekte verarbeiten Daten, können aber ihrer Lesbarkeit als Informationen (als Zeichen, die in Zusammenhang mit anderen Zeichen und zeichenexternen Zusammenhängen Bedeutung erhalten) nicht entgehen. Die Unterbestimmtheit der visualisierten Daten eröffnet BenutzerInnen van Data Art Möglichkeiten zur Deutung, wenn Zusammmenhänge zu ihrer Herkunft und ihrem Umfeld nicht verloren gehen: Die Reduktion künstlerischer "data agency" kann für die "data subjects" zum Vorteil werden. An der Entwicklung von Weisen der Lesbarkeit der Daten ist Data Art nach Whitelaw beteiligt. Die Projekte codieren ihre Metadaten und liefern damit RezipientInnen/"data subjects" Vorgaben, wie solche Daten brauchbar sind: "This metadata must in turn inform us data subjects..." (7/2009; 1/2020)
  • Cramer, Florian: Animals that Belong to the Emperor. Failing Universal Classification Schemes from Aristotle to the Semantic Web.
    Vortrag, Forum on Quaero, A Public Think Tank on the Politics of the Search Engine, Jan van Eyck Academie Maastricht, 30.9.2007. In: Nettime, 19.12.2007. Cramer kritisiert Projekte (Theseus, Quaero) des Semantic Web, die unter dem Begriff "Ontologie" eine der vielen Kategorisierungen des Wissens ("Kosmologie") als die einzige Grundlage zukünftiger Datenverarbeitung mit "semantic tags" anbieten: "Beyond cosmology falsely named ontology, it is metaphysics disguised as physics." Wie sehr Projekte des Semantic Web auch vorgeben, Menschen im Umgang mit Bedeutungen ("semantics") und Bezügen auf Sachverhalte (Ontologie) durch Software ersetzen zu könen, Computer bleiben "syntactical machines", die Eingaben nach programmierter Verarbeitungsweise, weder aber Ontologien noch die Welt der Wort- und Satzbedeutungen, verarbeiten: Die "culturally and folksonomic ways" der Dateneingabe und -verarbeitung lassen sich nicht überspringen (7/2009).
  • Cubitt, Sean: Immersion, Connectivity, Conviviality.
    Vortrag, Museum für Moderne Kunst (MUMOK), Wien/Donau-Universität Krems, Department für Bildwissenschaften, Telelecture, 8.11.2007. Die Unterschiede zwischen nieder und hoch aufgelösten Bild- und Filmpräsentationen in dafür geeigneten digitalen Medien interpretiert Cubitt sozialkritisch. Die niederaufgelösten Bildschirme von Mobiltelefonen und Mensch-zu-Mensch-Kommunikation via SMS stehen nach Cubitt für die "Aktualität der Isolation" und die "Illusion der Gemeinschaft". Bemühungen, technische Ansprüche an hochaufgelöste Medien und Übertragung in mobile Geräte mit kleinen Bildschirmen und Interfaces zu übertragen, können mit der dort vorherrschenden "Aktualität der Gemeinschaft" "die Illusion der Isolation" und das "neo-barocke Spektakel" zum einzigen Medienparadigma werden lassen: An ihm nehmen alle ZuschauerInnen gemeinsam Teil, halten sich aber selbst für isolierte BeobachterInnen.
    Dieses neo-barocke Spektakel kennt nur den "Kampf gegen das absolute Böse", bleibt aber unbestimmt. Dem "immersive sublime" der hochauflösenden Medien steht nach Cubitt die "connective despair" der niederauflösenden Medien gegenüber: Die Kommunikation scheitert in einer "world of hyperindividuation": "The binarism of hi-res and lo-res takes us to the sick heart of the contemporary world." Nur "convivial tools" können die verschütteten Möglichkeiten der Kommunikation aktualisieren: "...a dialectic of embodied experience and socialisation on the grounds of a mediated world."
    Urban Tapestries (Teil I: September 2002-2005, Teil 2: ab März 2006-2008) von Proboscis (s. Sammeltipp 1, Teil 1 und Teil 3) ist nach Cubitt nostalgisch und utopisch zugleich: Es ist sowohl Schatten des Systems überwachender und korporativ organisierter Netzwerke als auch "alternatives Netzwerk-Modell der Unabhängigkeit" (7/2009; 5/2015: nicht mehr im Web gefunden).
  • Manovich, Lev: The Practice of Everyday (Media) Life.
    In: Lovink, Geert/Niederer, Sabine (Hg.): Video Vortex Reader. Responses to YouTube. Institute of Network Cultures. Hogeschool van Amsterdam/University of Applied Sciences. Amsterdam 2008, S.33-44. Manovich stellt die ansteigende Partizipation bei Plattformen des Web 2.0 wie Facebook, YouTube oder Flickr mit statistischen Belegen vor, nicht ohne am Verhältnis der Beiträge zu den passiven BeobachterInnen zu zeigen, dass Partizipation an "social works" bisher nur von wenigen NutzerInnen praktiziert wird. Michel de Certeau´s Unterscheidung zwischen Strategien der Macht und Taktiken von Individuen im Alltagsleben dient Manovich, um Taktiken im Web 2.0 einen neuen Stellenwert zuzuschreiben: "...the logic of tactics has now become the logic of strategies." – und umgekehrt: "...today strategies used by social media companies often look more like tactics."
    Die "tactical strategies" des Anime Music Video (AMV) und aufeinander reagierende Filme in YouTube sind für Manovich Beispiele einer Kreativität in den kommerziellen Plattformen, die es KünstlerInnen erschwert, sich von AmateurInnen abzusetzen. Er sieht Kreativität im Web 2.0 weniger in künstlerischen Einzelbeiträgen und Plattformen wie Processing oder "Information Aesthetics", als in der Dynamik der Web 2.0-Kultur als Ganzer und hebt die Software Tools der kommerziellen Plattformen hervor. Anders als Maryanne Breeze (s.o.) und Juan Martin Prada (s.u.) plädiert Manovich enthusiastisch für das Web 2.0 im aktuellen Entwicklungsstand (7/2009; 1/2020).
  • Miles, Adrian: Programmatic Statements for a Facetted Videography.
    In: Lovink, Geert/Niederer, Sabine (Hg.): Video Vortex Reader. Responses to YouTube. Institute of Network Cultures. Hogeschool van Amsterdam/University of Applied Sciences. Amsterdam 2008, S.223-229. Miles stellt "granularity" als die Grundlage von "non-linear editing systems" für Filme vor. Die kleinste Einheit des Filmes kann durch die Teilung größerer Einheiten (Sequenzen) entstanden sein, dennoch ist sie kein Bruchstück: "...the `wholeness´ of a shot is qualitative, not quantitative..."
    Miles stellt zwei Softvideo Systeme vor, die ein Editieren von Filmen erlauben, welche es ZuschauerInnen ermöglichen, Wege zwischen Alternativen zu wählen: Mit "Videodefunct" und "Korsakow System" können "shots" mit Tags versehen werden, die ZuschauerInnen begrenzte Möglichkeiten geben, weiterführende "shots" zu wählen: "I intend to describe these relations as `facets´ as facet has connotations of a shot being multifaceted." "Shots" erhalten Bedeutung durch die "shots", mit denen sie durch Tags verbunden sind, während in der monolinearen Filmerzählung allein der Inhalt der "shots" die Voraussetzung für ihre Kombinierbarkeit liefert. Für Miles ist die Bezeichnung dieser "combinatory environments" als interaktiv "a commonplace (and naive error)..." (7/2009).
  • Munster, Anna: Welcome to Google Earth.
    In: Kroker, Arthur und Marielouise (Hg.): Critical Digital Studies. A Reader. Toronto 2008, S.397-416. Google Earth erweitert die Möglichkeiten, Bilder der Erde BeobachterInnen für die Suche nach Orten zugänglich zu machen. Kooperationen zwischen BeobachterInnen durch wechelseitiges Anbieten und Bearbeiten von Daten ist nicht nur bei Google Earth ausgeschlossen, sondern auch bei Google Search. Der Algorithmus von Google Search zählt auch die Häufigkeit der Klicks auf Plattformen, die Kooperation und Kommunikation ermöglichen, doch bietet Google Search keine Funktionen von "sociable media".
    Das System der Abrechnung mit WerberInnen von Google AdWords legt die Beitragshöhe auf der Basis der Häufigkeit der Klicks fest, die von dem werbenden Link zur beworbenen Website führen. Dieses System setzt den Suchsystem-Algorithmus mit Schlagworten voraus, um auf Google und auf für Google AdSense eingerichteten Webseiten die passenden Werbelinks erscheinen lassen zu können.
    Google Search und Google AdWords gehen davon aus, dass die Häufigkeit von Klicks Präferenzen von NetzbesucherInnen widerspiegelt: Die Häufigkeit ist die Grundlage des Ranking und der Abrechnung mit WerberInnen. Der Bezug zwischen statistischem Wert und einzelnen NetzbesucherInnen schließt Interaktion und somit soziale Aspekte aus. Munster sieht diese Ausklammerung des Sozialen als Eigenschaft des Neoliberalismus und findet sie auch im Präferenzutilitarismus von Richard Mervyn Hare. Eine "kreative postindustrielle Informationskultur" arbeitet mit dieser Ausklammerung des Sozialen (als "schwarzes Loch", als gäbe es kein kommunikatives Handeln zwischen Individuen, sondern nur vereinzelte Personen) durch die Gleichsetzung des Besten mit dem von der Mehrheit Gewählten.
    Übermorgen.com, Alessandro Ludovico und Paulo Cirio betreiben das Projekt GWEI – Google Will Eat Itself. Google AdSense wird eingesetzt, um über ein System von Websites und Klicks produzierenden UnterstützerInnen Einnahmen zu erzielen, die in Aktien von Google investiert werden. Die Aktien sollen wiederum den UnterstützerInnen übertragen werden. Auf der Website des Projektes wird angegeben, wie weit das Ziel entfernt ist, Google durch Aktienkauf zu übernehmen. Munster sieht in GWEI einen Ansatz für eine Soziales integrierende alternative Netzpraxis und skizziert in einem Ausblick deren über GWEI hinausgehende Möglichkeiten für "alternative, distributed aesthetics" (8/2009).
  • Richard, Birgit: Media Masters and Grassroots Art 2.0 on YouTube.
    In: Lovink, Geert/Niederer, Sabine (Hg.): Video Vortex Reader. Responses to YouTube. Institute of Network Cultures. Hogeschool van Amsterdam/University of Applied Sciences. Amsterdam 2008, S.141-152. Richard stellt Forschungsergebnisse des YouTube Research Lab der Goethe Universität in Frankfurt am Main (Institut für Kunstpädagogik, Bereich Neue Medien) vor. Die verschiedenen Formen der Clips wurden kategorisiert (s. Arbeitsfassung eines Ordnungsschemas). Richards Beschreibung der Clipformen ermöglicht eine unvoreingenommene Sicht auf die Videobeiträge in YouTube.
    In einer thematischen Engführung auf Clips, die unter den Tags "Art" und "Kunst" zu finden sind, führt sie das Verhältnis zwischen Features von Kunstereignissen und eigenständigen Beiträgen vor. Eigenständige Beiträge werden in YouTube nicht unter der Kategorie "Art" gespeichert. Wer nach neuen Ausdrucksformen in YouTube sucht, findet sie nicht über das Tag-System.
    Richard weist YouTube Clips als "a supplement, a marginal but important fresh addition and revitalisation of art" aus (7/2009).
  • Schleiner, Ann-Marie: Dissolving the Magic Circle of Play. Lessons from Situationist Gaming.
    In: Baigorri, Laura/Berger, Erich/Dragona, Daphne (Hg.): Homo Ludens Ludens. Kat. Ausst. LABoral Centro de Arte y Creación Industrial. Gijon 2008, S.164-171 (auf Spanisch), 276-281 (auf Englisch). Schleiner stellt Beispiele für "ludic interventions" vor, welche die Grenzen von Spielen ("plays" und "games)" überschreiten. Johan Huizingas Konzept des "Zauberkreises des Spiels" ("toovercirkel"), das die Theorien über Games (einschließlich Pervasive Games) bis heute bestimmt, konfrontiert Schleiner mit einem situationistischen Ansatz. Sie durchsetzt ihren Text mit Zitaten von Guy Debord und Gilles Ivain/Ivan Chteglov.
    Huizinga thematisierte die Grenze zwischen Spiel und Umwelt, während die Situationisten Umwelt als Spielfeld verstanden: Das Spielerische als kritische Strategie ist nur als Praxis im kritisierten Kontext möglich. Schleiner greift die Gesellschaftkritik der Situationisten auf, ohne die Psychogeographie in einen Begriff der Umweltpsychologie umzudeuten, wie es in vielen Texten über Projekte mit Locative Media geschieht, als ginge es nur darum, von urbanen Zuständen nur die Atmosphären zu erfassen (Beispiel: Jane McGonigal: This Might Be a Game, s.o.).
    Ihre eigene Praxis in "Velvet-Strike", "Operation Urban Terrain (OUT)" (August 2004, s. Sammeltipp 2, Teil 2) und "Riot Gear for Rollartista", Games mit MitspielerInnen im (realen wie virtuellen) Spielfeld zu verändern, zeigt Aktivismus auf und in Spielfeldern als Strategie, das Ziel der Situationisten weiter zu verfolgen, Lebenswelt zu verändern: "We don´t want to play by rules we never agreed upon in the first place." (7/2009)
  • Biggs, Simon: Transculturation, Transliteracy and Generative Poetics.
    Vortrag, "European Electronic Literature Conference", University of Bergen, Bergen, 12.9.2008. Sprache besteht nicht nur aus Sprechakten und Text: "Language has always included the visual, aural and tactile." Biggs stellt Konzepte der "transculturation" (Fernando Ortiz), pluriliteracy (Ofelia Garcia/Lesley Bartlett/JoAnne Kleifgen) und der transliteracy (Sue Thomas/Chris Joseph/Jess Laccetti/Bruce Mason/Simon Mills/Simon Perrill/Kate Pullinger) vor, die Relationen zwischen verschiedenen medialen Gebräuchen und kulturellen Breichen thematisieren.
    Als Modell dieser "dynamic processes of signification" erörtert Biggs Translation (2005) von John Cayley. Mit audiellen und graphischen Mitteln thematisiert Cayley Übergänge zwischen sprachlichen Zuständen. Transformationen eines Textes von Walter Benjamin, der dieses Verwandlungsproblem expliziert, führt Cayley in Generierungen zwischen Übersetzungen vor: Der Text in einer Sprache erscheint nur als Passage zwischen Generierungsphasen: "...he conflates the technical with the cultural..."
    Mit Terry Winograd stellt Biggs den Computer als Sprach-, nicht als Denkmaschine vor: "The very notion of `symbol system´ is inherently linguistic...a form of verbal argument." (Zitat Winograd 1991) Cayley führt in "Translation" einerseits die sprachinternen Strukturen kontextunabhängig vor und verweist andererseits mit der Instabilität der Generierungen auf die Kontextabhängigkeit von Bedeutung. Diese Kontextabhängigkeit ist jedoch nicht starr, sondern dynamisch: "...these dynamic processes of signification." Sprache ist "computational" und Kultur kann, wie Sprache, als "a network of constantly regenerating relations" verstanden werden. Technologie ist also "the material manifestation of the social" (7/2009).
  • Waal, Martijn de: Towards a Myspace Urbanism?
    In: Lange, Michiel de/Waal, Martijn de: The Mobile City. Blog Archive, 22.12.2008. De Waal stellt soziologische Kriterien zur Entwicklung des Stadtlebens vom 19. Jahrhundert bis heute vor. Im 19. und 20. Jahrhundert war der öffentliche Stadtraum die Plattform, in der soziale Differenzen wahrgenommen und im Zusammenleben ausgehalten wurden. Von diesem "Boulevard (BLVD) Urbanism" unterscheidet de Waal verschiedene Formen von technologisch von Laptop, mobile Geräte, Internet, WiFi und Mobilfunk geprägte Öffentlichkeiten, die den Stadtraum durch Privatisierungen, Ausgrenzungen und reduzierte Aktionsformen aufsplittern. Die zurückhaltendere Form der Selbstdarstellung des distanzierten Beobachters/der BeobachterIn in Bewegung im BLVD Urbanismus weicht im von sozialen Plattformen geprägten Sozialleben partikularisierenden Formen der Selbstdarstellung. Dieser "Myspace Urbanism" erleichtert Ausgrenzungen. Da wir heute ohne Rücksicht auf Entfernungen kommunizieren, hat sich nach Danah Boyd, Mark Shepard und Andere "the urban stage...extensively with the rise of social networks like Facebook, MySpace, LiveJournal, Cyworld or QQ" erweitert. Einerseits wandert die Selbstdarstellung in virtuelle Räume, andererseits werden diese über Plattformen wie "Plazes" (ab August 2004) oder "Bliin" (ab September 2006, s. Sammeltipp 1, Teil 3) mit den Bewegungen im realen Raum verbunden: Die "tracks and traces" sind in Echtzeit aktualisierbar und kontinuierlich archivierbar.
    Die Anonymität der Großstadt des 20. Jahrhunderts wird von wachsender sozialer Kontrolle abgelöst. Zugängliche Informationen über Stadtviertel werden zur Bestimmung der dort dominierenden Lebensformen ausgewertet: Websites mit Immobilienangeboten von MaklerInnen wie Funda.nl ordnen Stadtgebieten je "three dominant lifestyle categories" zu. Nicht mehr der/die BürgerIn in der Öffentlichkeit (Jürgen Habermas), sondern der/die KonsumentIn stehen im Vordergrund einer "sociology-for-the-market", die über "lifeblogging and geotagging" sammelbare Daten nutzt.
    Im "iPhone Urbanism" bewegen sich die PassantInnen mit Mobiltelefon und iPod in einer "virtual bubble", in der sie sich vom Stadtleben zeitweilig ausgrenzen.
    Aus dem Café als öffentlichem Treffpunkt wird im "Starbucks Urbanism" ein "commodified non-place", in dem mehr mit "absent others" als mit Anwesenden kommuniziert wird.
    Im "Long Tail Urbanism" werden wir mit Informationen über Stadtbereiche und Freundinnen/Freunde (Dodgeball, Februar 2000 - Januar 2009, s. Sammeltipp 1, Teil 1) konfrontiert, die wir nie gesucht haben: Die Plattformen lassen uns erkennen, wer und was an welchem Ort zu unseren Vorlieben passt: "spaces become heterotopic places".
    Im "Ebay Urbanism" regulieren "reputation systems", wer wen akzeptiert: "capsular spaces".
    Die "networked urban spaces" verbinden das räumlich Abgelegene mittels sozialer Plattformen: "...presence is becoming a hybrid experience", wobei das Mobiltelefon als "a membrane", nicht als "portal" eingesetzt wird: "The boundaries between being in public or in private soften." (9/2009; 1/2020: "Plazes" und "Bliin" nicht mehr im Web)
  • Helmond, Anne: Lifetracing. The Traces of a Networked Life.
    In: Bray, Anne/Dockrey, Sean/Green, Jo-Ann/Navas, Eduardo/Torrington, Helen (Hg.): Networked. A (Networked_Book) about (Networked Art). 2009. Helmond hebt den engen Zusammenhang in der Selbstdarstellung im Internet zwischen sozialen Netzwerken und Suchsystemen hervor. Bestimmte Techniken der Suchsysteme (Google, Yahoo, Bing), Daten aufzugreifen, provozieren bestimmte Arten, Netzwerke zu nutzen: "...identity is performed through and shaped by social software and constructed by search engines." Aktivitäten von UserInnen in verschiedenen sozialen Plattformen fassen Dienste wie Storytlr zusammen, die "mashup your data into stories." Die Aktivitäten in sozialen Netzwerken führen im "Search Engine Reputation Management (SERM)" zu Taktiken, negative Resultate von den ersten Plätzen der Listen von Suchsystemen zu verdrängen: "...people are very willing to submit a large amount of information about themselves to search engines for a sense of control over the outcome."
    Bestimmte Eigenschaften der Google Suchmaschine begünstigen SERM-Taktiken: Die Google Blog-Suchmaschine zeigt jeden RSS Feed an. Darunter fällt auch jeder Twitter-Eintrag, der in der "public timeline" zugänglich ist.
    Die Suchmaschinen unterlaufen nach und nach durch Registrierung und Login von sozialen Netzwerken geschaffene "walled gardens" und soziale Netzwerke arbeiten immer offener den Suchmaschinen zu. Zudem ist die Funktion von Suchmaschinen wie Wink, yoName, Spock und Pipl, Informationen über Menschen im Internet und in sozialen Netzwerken zu finden, wofür die Eingabe des Namens, Username oder der e-Mail-Adresse genügt. Dieser Verfügbarkeit aller Daten über Aktivitäten einzelner Personen korrespondieren Dienste, welche es UserInnen erlauben, die über verschiedene Netzwerke und Medien verteilten, zur Selbstdarstellung geschaffenen Daten zu verwalten: Lifelogging Software.
    Das von Nokia zwischen 2004 und 2007 angebotene "multimedia diary" für Mobiltelefone ermöglichte es, Bilder, Messages und Videos in chronologischer Folge zu überschauen. "Lifelogging" und UserInnen, die dem Wunsch folgen, möglichst viele Daten über sich und die nähere Umgebung zu sammeln, provozieren Datenspuren, die zu einem Verständnis des Netzes als "a place holder for the intentions of humankind" (John Battelle) führen.
    Fruchtbar wird das in thematischen Aufbereitungen der verfügbaren Daten, wie dies Google Flu Trends oder We Feel Fine und I Want You To Want Me von Jonathan Harris und Sep Kamwar zeigen: "Instead of using this data for health issues or for artistic purposes it may also be used for monitoring or surveillance." "Consumer surveillance" überschreitet Michel Foucaults Überwachungsgesellschaft, die er am Beispiel von Jonathan Benthams Panopticon erklärte. "Consumer surveillance" wird in der "self-surveillance", die "your.flowingdata.com" (YFD) erleichtert, privatisiert und genießbar.
    Zugleich wird auf die "surveillance" mit einer "sousveillance" (Steve Mann) – einer Überwachung von unten, von Individuen statt von Staaten oder Korporationen – geantwortet. In einer "Identity 2.0", die Statistiken eigener Aktivitäten und ihre Popularität aus "Twitter Counter" oder "Twitter Analyzer" bezieht, bleibt "sousveillance" angepasst.
    In der "assemblage of platform, engine and user" fügt sich Eins ins Andere. Von sozialen Netzwerken und Suchsystemen werden UserInnen dazu aufgefordert, das Profil zu vervollständigen. Sie füttern damit den Datenstrom, der von Plattformen zu Suchmaschinen fließt: "...a reconfiguration of the user...the lifestream is more service-centered than user-centered."
    Tagging ist eine Kernaktivität der UserInnen von Netzwerken, mit der sie den Suchmaschinen zuarbeiten. Mit diffamierenden Schlagworten als Tags können zugleich die Selbstdarstellungen von TeilnehmerInnen geschädigt werden.
    Mit der "reconfiguration" des Selbst in einer Datenwelt, in der die eigenen digitalen Spuren sich nicht mehr beseitigen lassen, wird die Vorsorge, was mit ihnen nach dem eigenen Tod zu tun ist, zur Aufgabe für neue Dienste, wie sie Etoy (Mission Eternity), Mediamatic (IkRip) und Pips:Lab (Die Space) anbieten: Die Datenwelt online erfordert eine eigene Form des Testaments (9/2009; 1/2020: Folgende Sites sind nicht mehr im Web: Storytlr, your.flowingdata.com, Twitter Counter, Twitter Analyzer, IkRip; 9/2022: nicht im Web gefunden: Google Flu Trends).
  • Munster, Anna: Data Undermining. The Work of Networked Art in an Age of Imperceptibility.
    In: Bray, Anne/Dockrey, Sean/Green, Jo-Ann/Navas, Eduardo/Torrington, Helen (Hg.): Networked. A (Networked_Book) about (Networked Art). 2009. Plattformen im Web 2.0 bieten Zugriffe auf Daten, welche aus dem Verhalten vieler NetzbesucherInnen ermittelt wurden. Die RezipientInnen sehen die Resultate, während gesammelte Daten ihrer Spuren sowie die Datenerhebung und die Datenauswertung unsichtbar bleiben: Das Komplement zur Datenvisualisierung ist Unsichtbarkeit. Munster stellt Projekte von KünstlerInnen als GegenspielerInnen zu diesem Prozess vor. Erweiterungen des Firefox Browsers in Projekten wie MAICgregator (2009) von Nick Knouf, ShiftSpace (ab 2006) von Dan Pfiffer und Mushon Zer-Aviv sowie Traceblog (2008) von Eduardo Navas machen auf Strategien aufmerksam, Sicht- mit Unsichtbarkeit auf intransparente Arten zu kombinieren.
    "Traceblog" führt eine Strategie vor, sich unsichtbar für Datenerhebungen von Surfverhalten zu machen. Nach Munster geht es bei den Auswertungen von NutzerInnendaten im Web 2.0 nicht um Verstöße gegen die Privatsphäre, da die hinterlassenen Spuren nur als Daten quantitativ ohne Referenz auf Individuen, die sie verursacht haben, ausgewertet werden. Das statistisch errechnete Verhalten der DurchschnittsnetzbesucherInnen führt zu einer Verflachung der Bezüge zwischen RezipientInnen und Angeboten: "Automatic aggregation tends to perform operations that reduce the relations between data to commonalities rather than differences." Den Verhaltenspatterns und "commonalities" sollen künstlerische Projekte entgegenwirken. Die Projekte müssen dafür neue Wege unter aktuellen Netzbedingungen finden: "To data undermine, then, is to radically automate and to automate radically as a careful ethical and aesthetic gesture." (8/2009; 1/2020: "ShiftSpace" ist nicht mehr im Web; 9/2022: Text nicht im Web gefunden)
  • Smith, Greg J.: Information Visualization and Interface Culture.
    In: Braman, James/Vincenti, Giovanni/Trajkovski, Goran (Hg.): Handbook of Research on Computational Arts and Creative Informatics. Hershey/Pennsylvania 2009, Chapter XII, S.195-211. Wie Datenvisualisierung und die Möglichkeiten, via Interface verschiedene Ansichten zu wählen, in der Geschichte der Entwicklung der Computertechnologie zusammen kommen, thematisiert Greg J. Smith.
    Vanevar Bushs Memex (Entwurf, 1945) und erste Head-Up Displays (HuD, ab 1968) enthalten frühe Interfaces, die im ersten Fall für Verknüpfungen zwischen Schriftdokumenten und im zweiten Fall zur Navigation von Piloten geplant wurden. Das Interface/die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine umfasste seit den sechziger Jahren mit Ausgabemedien wie Kathodenstrahlröhre und Head-Up Display.
    Das Graphical User Interface (GUI) des Xerox Alto Computer (1973) antizipierte mit Maus, Fenstern, Icons, Schnittflächen und Steuerelementen das GUI des Apple Macintosh (1984). Bereits Apples Lisa (1983) enthielt Scrollbars, den Papierkorb, das Drag-and-Drop-Verfahren und ein Dateisystem, wie sie bei Personal Computern über 25 Jahre lang Standard wurden.
    Nach Lev Manovich wurde mit der Database die Information "modular" und Remix zum naheliegenden Verfahren. Dies sind nach Smith auch die Voraussetzungen für Datenvisualisierung. Aus der Interaktion mit Interfaces von Programmen zur Datenvisualisierung ergibt sich eine neue "data-subjectivity".
    Die von John Maeda geleitete "The Aesthetics Computation Group" und Ben Fry entwickeln Visualisierungen für Interfaces, mit denen sich das Monitorbild verändern lässt. Nach Steven Johnson (Interface Culture, 1997) ist diese Modifizierbarkeit die Folge einer umfassenderen Trennung zwischen "raw data" und der Art, wie wir sie auf dem Bildschirm erfahren. Frys Isometric Blocks (2004) und Stamen Designs "Oakland Crimespotting" (2007) sind nach Smith Beispiele für eine "pervasive interface culture" mit "the implicit understanding that information is modular and...a site for interaction."
    Mit der Datenvisualisierung entwickeln sich Verhaltensweisen gleichzeitig an den Interfaces wie gegenüber der durch die Daten fassbaren Wirklichkeit. Burik Arikan bietet mit My Pocket (2008) ein Interface für "self-surveillance". In "My Pocket" lassen sich Interfaces und Umgang mit visualisierter Realität nicht mehr trennen. Die Daten vergangener Transaktionen (Einkäufe, Überweisungen) werden in "Transaction Graphs" für Vorhersagen nach Wahrscheinlichkeitskriterien eingesetzt. Alle Transaktionen erhalten mit dem errechneten Wahrscheinlichkeitsgrad auch eine Information, wie weit die aktuelle Aktion mit älteren Aktionen kongruent ist: "...if readymades are found in the past, predicted objects are found in the future." (Arikan) (3/2013; 1/2020: Stamen Designs "Oakland Crimespotting" ist nicht mehr im Web).
  • Guglielmetti, Mark/Innocent, Troy/Whitelaw, Mitchell: Strange Ontologies in Digital Culture.
    (1/2008). In: ACM Computers in Entertainment. Vol.7/Issue 1. February 2009. In Philosophie und Informatik wird der Begriff Ontologie in verschiedenen Bedeutungen eingesetzt. Während Philosophie nach einem erkenntnistheoretischen Rahmen für die ontologische Frage sucht, wie sie sich auf Seiendes beziehen kann, wird in der Informatik jedes System, das formale Strukturen für Relationen zwischen Elementen schafft, als Ontologien in Darstellungen von Wissen erzeugend verstanden – mit der Folge, dass diese Ontologien für das stehen, was ist: Wenn nur das als existent vorstellbar ist, was in Wissenssystemen erkennbar ist, dann stehen die Grenzen dieser Systeme für das, was als Welt erfassbar ist. Gegen diese Konvention des als Seiend Vorstellbaren setzen die Autoren "strange ontologies" in künstlerischen Projekten.
    Doch vorher belegen die Autoren die Befremdung, die "social software" von Plattformen wie Facebook und del.icio.us hervorruft: In Facebook steht "Freund" für symmetrische Beziehungen, während in del.icio.us damit eine asymmetrische Beziehung zwischen Verehrtem und Verehrer, Getagtem und Tagendem, gemeint ist.
    Installationen und Spiele stören die Parameter der Wirklichkeitsdarstellung mit den Mitteln dieser Systeme. Jonathan McCabe überschreitet in Origami Butterfly (2006) das in Generativer Kunst üblich Gewordene mit Schwärmen sich modifizierender Elemente: Teilungen und Wiederholungen bilden Prozesse, die Strukturen schaffen.
    Systemen, die Welt in statischen Ordnungen auf konservative Weise darstellen, werden Systeme "mit dynamischen, lokalen und relationalen Qualitäten" nicht nur entgegen gesetzt, sondern mit den Systemen werden weitere Qualitäten generiert. Das zeigt Brock Davis´ Selbstporträt, das mit Hilfe des Editors für die 3D Simulation ("Forge") des Games "Halo 3" ("manipulating 3d objects in the editor environment for Microsoft´s Halo 3") entwickelt wurde. Die Lesbarkeit der Objekte darstellenden Zeichen im Raum wird verändert: Sie sind nur noch sekundär im Raum angeordnete Spielelemente und deuten primär Konturen eines Gesichtes an (7/2009).
  • Picot, Edward: Play on Meaning? – Computer Games as Art.
    In: Furtherfield Review, 30.4.2009; The Hyperliterature Exchange, Mai 2009. "Computerspiele genießen" nach Picot "eine Sonderstellung im Kanon der Medienkunst" ("new media art"), da sie Erwartungen an Interaktivität wecken. Picot streift die Geschichte der Computerspiele von den Adventure Games bis zu Myst (1993), um dann zwischen "interactive fiction" und "hypertext fiction" Verbindungen herzustellen. Dabei wird erkennbar, dass er Interaktivität im Sinne des Erforschens eines Werkes und nicht im Sinne von Mitschreibeprojekten meint: Werke als begrenzte Einheiten mit Zeichen und Funktionen, welche die Imagination der RezipientInnen stimulieren, statt sich durch Kooperation und Kollaboration verändernde offene Projekte. Picot konzentriert sich nicht nur auf diese eingeschränkte Interaktivität, sondern stellt Spiele von unabhängigen AutorInnen vor, die im Vergleich zu Computer Games durch die Reduktion auf wenige Funktionen auffallen, welche zur Fortsetzung des Spielverlaufs betätigt werden müssen.
    Molleindustrias Free Culture Game (2008) verzichtet auf ein Spielende mit GewinnerInnen, um den Kampf zwischen Open Source Verbreitung von Software und der Vermarktung von Urheberrechten als auf kein absehbares Ende zulaufend vorzustellen. Die Spieltaktiken stehen stellvertretend für die aktivistischen Taktiken, einen Sieg der Kommerzialisierung von Urheberrechten zu verhindern. Picot meint, dass die erforderlichen Spielzüge vom Ziel des Projektes ablenken – das kann auch anders ausgelegt werden.
    Mit Samorost 2 (2005) von Amanita Design und The Graveyard von The Tale of Tales (Auriea Harvey/Michael Samyn) zeigt Picot Beispiele für Games, bei denen nicht Spielfunktionen, sondern andere Qualitäten – die Zeichenwelt, die Geschichte und ihre Animation – im Vordergrund stehen. Wenn in "Samorost 2" SpielerInnen Spielzüge ausführen, entsteht der Eindruck, dass sie dies zur Entfaltung der Geschichte tun. In "The Graveyard" dienen Cursorbewegungen mittels Pfeiltasten vor allem dazu, einen vorbestimmten Ablauf zu aktivieren: "...the game´s most important qualities are negative ones..." Entscheidend ist für RezipientInnen der Nachvollzug des Animationsablaufs.
    Computerspiele sind für Picot Kunst, wenn sie Erstens die Spielstruktur als Grundlage von Deutungen nahelegen, Zweitens Herausforderungen an SpielerInnen vermeiden, auf Spielsituationen mit geübten Fähigkeiten zu reagieren, und Drittens Distanz zwischen SpielerIn und der zentralen Spielfigur schaffen. Die Konzentration auf den Ablauf einer Geschichte steht im Vordergrund (8/2009; 9/2022: nicht in Furtherfield Review gefunden).
  • Dyer-Witheford, Nick/de Peuter, Greig: Empire@Play: Virtual Games and Global Capitalism.
    In: CTheory, 13.5.2009. Der Artikel stellt die Bedingungen des "Empire" (Michael Hardt/Antonio Negri 2000) für Spiele Schaffende vor, um dann an "Games of Multitude" Möglichkeiten aufzuzeigen, sich gegen diese Bedingungen mit Spielen zu engagieren, welche die Spieleanwendungen im Militär und an der Börse weiter entwickeln: Im "Empire" entstehen die Möglichkeiten zu seiner Überwindung.
    Aus den skizzierten Arbeitsbedingungen in Firmen des "ludocapitalism" ergibt sich für SpielentwicklerInnen die Notwendigkeit, eigene Fähigkeiten zu nutzen, um diesen Verhältnissen zu entkommen. Allerdings halten die Firmen im "meshwork of satellite offices" die Löhne erfolgreich niedrig.
    Die Praxis des e-Learning durch Spiele nutzen das Militär, Korporationen und die Börse, wofür einige Beispiele genannt werden. Die Weiterentwicklung solcher Spiele zur "`autoludic´ activity" liefert Möglichkeiten, Spieltechniken zu entwickeln, die über Piraterie und Protest hinausgehen: Das Planen eigener Strategien kann in Spielen wie agoraXchange (Jacqueline Stevenes/Natalie Bookchin 2004-2008) oder Superstruct (The Institute of Future, 2008) gelernt werden. Diese Spiele können den "Magic Circle" der von der Realität abgehobenen Spielwelt durchbrechen, indem sie dabei helfen, Ungereimtheiten in vorhandenen Machtstrukturen auszunutzen, um den Blick auf die Welt zu ändern. Das klingt sehr abstrakt und ist weit davon entfernt, bereits in einer bestimmten Art von Online-Spielen und -Spielpraxis den Anfang von sozialen Veränderungen zu sehen: Ausführungen des vorgeschlagenen Spielkonzepts sind nur als Vorlauf zur Umwälzung von Machtstrukturen brauchbar (7/2009; 1/2020: Die Website of "Superstruct" ist nicht mehr zugänglich).
  • Holmes, Brian: Is It Written In the Stars? Global Finance Precarious Destinies.
    In: Holmes, Brian: Continental Drift. The other side of neoliberal globalization. Blog, 6.11.2009. Gekürzte deutsche Druckfassung mit dem Titel "Was steht in den Sternen? Globale Finanzen, prekäre Schicksale", in: Springerin. Bd. XVII. Heft 1. Winter 2010, S.18-24. In Black Shoals Stock Market Planetarium wurden flackernde Lichtpunkte in Sternkonfigurationen vergleichbaren Konstellationen in eine von der Decke hängende Kuppel (in die konkave Seite eines Kugelsegments) projiziert. Diese Installation von Lise Autogena und Joshua Portway wurde 2001 in der Tate Gallery (Gruppenausstellung "Art Now: Art and Money Online", London) zum ersten Mal ausgestellt und dort über eine Internetverbindung von Reuters News Feed mit Daten vom aktuellen Börsenhandel versorgt. Ein Programm von Cefn Haile generierte aus diesen Daten mit Algorithmen künstliche Wesen ("A-life agents"), die als flackerndes Licht in die Kuppel projiziert wurden. Jedes Licht oder jeder Stern stand für ein börsennotiertes Unternehmen. Intensität und Bewegung gaben Veränderungen im aktuellen Börsenhandel wieder.
    Auf den Zusammenhang zwischen Artificial Life und Börsenhandel weist der Begriff "Shoals" im Titel der Installation. "Shoals" bezeichnet strömungsabhängige Sandbänke und "shoaling" steht für das Verhalten von Fischschwärmen. Nach Autogena und Portway bezieht sich der Begriff "Shoals" sowohl auf "shoaling" als auch auf die "Black Scholes"-Formel, die Fisher Black, Myron Scholes und Robert Merton in den siebziger Jahren erfunden haben. Mit ihr lässt sich der aktuelle Wert einer Aktie genauer, als es vorher möglich war, bestimmen. So kann das Investititionsrisiko gesenkt werden, solange das Investitionsumfeld konstant bleibt. Nach Erfolgen in der Anwendung ihrer Formel scheiterten Scholes und Merton 1998 mit ihrem Unternehmen "Long Term Capital Management". Eine der Ursachen dieser Pleite war der "Feedback Effect", den NachahmerInnen erzeugen. Nach der Komplexitätstheorie gibt es Arten von Feedback, die zu Chaos führen. Die Rekonstruktion des Börsenhandels mit Mitteln der algorithmischen Rekonstruktion biologischer Prozesse in Artificial Life verweist auf Möglichkeiten der Erforschung seiner Regelprozesse jenseits der Mängel der "Black Scholes"-Formel.
    Die Installation und die Erläuterungen ihrer AutorInnen liefern Holmes Vorgaben für teils analytische Zeitdiagnostik der Globalisierung und teils essayistische Ausführungen, in denen er zum Beispiel die Chicago Mercantile Exchange Group als Gewinner hervorhebt. Als Folge der neoliberalen Globalisierung beschreibt er die rostfreie Edelstahlskulptur "Cloud Gate" von Anish Kapoor, die seit 2006 im Chicago Millenium Park auf dem AT&T Plaza steht, 11,5 Millionen Dollar kostete und zur Touristenattraktion wurde. Der teuren Attraktion stehen 20% EinwohnerInnen gegenüber, die unter der Armutsgrenze leben.
    In Detroit schließlich wird die Organisation einer Event-Kultur mit "flashy postmodern casinos" zum Versuch einer an Investoreninteressen ausgerichteten Regeneration nach dem Zusammenbruch der Autoindustrie. Mit seinen Beispielen aus Chicago und Detroit stellt Holmes die "creative industries" und den "casino capitalism" (Susan Strange 1986) als zwei Seiten einer Medaille vor.
    Die Installation von Autogena und Portway präsentiert eine Visualisierung der Dynamik des Börsenhandels für eine ästhetische Anschauung in kontemplativer Haltung. Der Bezug der Projektion zur Börse wird nicht von einer Ästhetik pulsierender Lichter gekappt, sondern bleibt erkennbar. Der Zusammenhang von Einzelnem und Ganzem erscheint zugleich faszinierend und fragwürdig: Die Installation folgt der sich auf ihre Eigengesetze konzentrierenden Börsenwelt (Autonomie). Diese blendet aus, was sie beeinflusst und von ihr beeinflusst wird (Heterarchie).
    Kapoors Spiegelwelt in "Cloud Gate" gibt in Verzerrungen wieder, was vor ihr erscheint: Die Touristen und die Hochhäuser Chicagos. Die Skulptur lenkt durch ihre Effekte davon ab, wer abgedrängt wurde und vom Millenium Park ausgegrenzt wird. In "Cloud Gate" dient das sich Spiegelnde als austauschbares Futter für Binnenbrechungen in Spiegelwelten. So beschreibt Holmes auch die Binnenbrechungen in der "infinite variety of speculative performances" am Beispiel der Event-Kultur in Detroit: "...the performer is often a `mark´, the target of someone else´s strategy." Als System, dessen (sich wandelnden) Regelabläufen diese Strategien folgen, stellt Holmes den Börsenhandel vor: Seine Rekonstruierbarkeit als Artificial Life zeigt, dass hier die Produkte erzeugenden und mit ihnen handelnden Unternehmen nur Datenfutter für den Börsenhandel sind.
    Die andere Seite, wie der Börsenhandel die Korporationen beeinflusst und diese in der Art, wie sie darauf reagieren, Armut erzeugen, wird in der Installation "Black Shoals Stock Market Planetarium" ausgeklammert. Diese Auslassung dient Holmes als Einfallstor für Gesellschaftskritik: Er rekonstruiert die Auslassung durch seine Interpretation der präsentierten Elemente. Die "supernova of derivatives trading" konstituiert "meta-commodities that govern the unfolding of the contemporary economic model." Das analysierte "articial world model" provoziert Holmes zu dem Aufruf: "We need a different world model, which cannot be abstracted from price information analysed by computers."
    Holmes erweitert in seinem sozialkritischen Ansatz eine Analyseform, die in werkinternen Relationen die Zusammenhänge der Gesellschaft erkennt, in der ein Werk produziert wurde, zu einer Interpretationsweise, die in Relationen zwischen Werkstrukturen und den sozialen Strukturen der Umwelt den affirmativen oder kritischen Bezug zur Gesellschaft erkennt: Die Relation zwischen dem, was Werk und Umwelt (die Gesellschaft, nicht nur die Präsentationsumstände) zeigen und nicht zeigen beziehungsweise ausblenden, wird zum Ansatz einer Analyse von Gesellschaft, die sich Kunst für ihre Bedürfnisse schafft. Die Analyse der Bedürfnisse einerseits und andererseits der Art, wie die Kunst darauf reagiert, soll auch dazu führen, zu erkennen, welche Alternativen Kunst und Gesellschaft bisher nicht analysiert haben (11/2009).
  • Arvers, Isabelle: Cheats or Glitch? Voice as a Game Modification in Machinima.
    In: Neumark, Norie/Gibson, Ross/Leeuwen, Theo van (Hg.): Voice. Vocal Aesthetics in Digital Arts and Media. Cambridge/Massachusetts 2010, S.225-242. Arvers thematisiert die Relationen zwischen Bild und Ton in Machinima-Videos, die auf Websites wie Machinima.org, The Movies, YouTube oder Dailymotion angeboten, häufig angesehen und heruntergeladen werden. In Interviews sammelte Arvers Aussagen der AutorInnen über ihre Absichten und technischen Probleme.
    Game Engines sind für die Spielentwicklung und die Steuerung des Spielverlaufs konstruierte Programme. Diese Game Engines werden auch zur Produktion von Machinima-Videos eingesetzt. Da das Animationsvokabular der Game Engines keinen Gesichtsausdruck kennt, kommt dem unabhängig davon geschaffenen Klang (als Stimme) die Funktion der Individuierung zu. Bild und Klang werden in einigen Beispielen als separate Elemente eingesetzt, die teilweise auf `bizarre´ Weise zueinander finden. So bewegen sich in einigen Videos die Dargestellten wie Spielfiguren, die unruhig Bewegungen ausführen, während sie miteinander sprechen: Die Ausdrucksweisen des Dialogs gibt es nur auf der Tonebene.
    Wenn die Figuren Helme tragen, werden Erwartungen an visuelle Individuierung unterbunden (zum Beispiel The Ill Clan: Apartment Huntin´, 1988; Chris Burke: This Spartan Life, Episode 1, Module 3, 2005). Bertrand Le Cabec und Andere setzen in "Bill & John" (Episode 2, 2006) Bild und Ton so ein, dass sie sich wechselseitig ergänzen, ohne Gesichter zeigen zu müssen: Zu Kampffliegerkonfigurationen (Kampfflieger in Außenansicht am Himmel) des Games "Lock on Modern Air Combat" sind die miteinander kommunizierenden Piloten zu hören. Wenn die Kommunikation über aktuelle Kampfsituationen gleichzeitig mit diesen Kämpfen gezeigt wird, dann werden häufig Erwartungen an Perspektiven unterbunden, in denen die Gesichter der Piloten zu sehen sind. In anderen Videos wird die Typisierung der Figuren mit maskenhaften Gesichtern so eingesetzt, dass sich eigenwillige Spielfilmästhetiken ergeben (Alex Chan: The French Democracy, 2005; Eddo Stern & Jessica Z Hutchins: Landlord Vigilante, 2007). Paul Marino dagegen nutzt 2007 in I´m Still Seeing Breen die Software FacePoser, um die Gesichtszüge seiner Protagonisten an das Gesprochene anzupassen (4/2015; 1/2020).
  • Paloque-Bergès, Camille: Remediating Internet Trivia. Net Art´s Lesson in Web Folklore.
    In: ESSACHESS – Journal for Communication Studies. Vol.3/No.2 (6) 2010, S.117-129. Im Internet entfiel mit der "many-to-many communication" die Normen setzende Rolle von Gatekeepern. Im World Wide Web entstand eine "pioneering crowd" (S.19), die sich die neuen technischen Möglichkeiten aneignete. Im Web 1.0 bildete sich eine "homepage culture" (S.119), die von "intensive and repetitive use of fixed-forms iconography such as Webpage wallpapers, animated gifs, midi music, shiny buttons, moving arrows, customized Webforms" (S.120) geprägt war.
    Mit der Etablierung der neuen technischen Möglichkeiten von Webseiten entstand eine Web Folklore ("vernacular Web", S.120). Statt diese als "low culture" zu bezeichnen und sie von Informationsflüssen und kulturellen Vermittlungen auszugrenzen schlägt Paloque-Bergès ein Verständnis von "triviality" vor, das sie mit Yves Jeanneret von "trivium" (einer Neufassung des Dreiwegs von Grammatik, Rhetorik und Dialektik) ableitet. Mit diesem Verständnis lässt sich die Aufmerksamkeit auf heterogene Austauschprozesse ("crossroads", S.120) zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft und auf die daraus entstehenden Kommunikationsformen lenken: Soziale Vermittlungsprozesse lösen normative Ästhetik und ihre Hoch-Tief-Dichotomie ab.
    NetzkünstlerInnen begannen ca. 2005 Linklisten zu publizieren, in denen sie frei von Themenbindungen auf die ihrer Ansicht nach besten Webseiten verwiesen und Fundstücke aus dem "vernacular Web" zeigten: Olia Lialina, Cory Arcangel, Michael Bell-Smith, Paddy Johnson und die Autorin selbst (in "Nasty Nets") wiesen sich als "professional surfer" (S.122f.) aus, deren Selektionen keinen geheim gehaltenen Suchalgorithmen folgten und die auf Suchmaschinen mit "human indexing" (S.123) antworteten. Weitere Formen der Web Folklore sind Blogs und Animated.gifs.
    Die Grenzen zwischen der Publikation von Fundstücken, eigenen Beiträgen und der Dokumentation von Übernahmen (des Eigenen durch Andere) werden in der Internetpraxis von Olia Lialina, Tom Moody und Michael Bell-Smith verwischt: Das Eigene ist für die Integration in die Webseiten Anderer geschaffen und bewährt sich so in verschiedenen Kontexten. Auf die Rezeption des Eigenen im Anderen kann wiederum mit eigenen Beiträgen und Übernahmen (des im Anderen verfremdeten Eigenen) reagiert werden (4/2015).
  • Parikka, Jussi: Ethologies of Software Art: What Can a Digital Body of Code Do?
    In: O´Sullivan, Simon/Zepke, Stephen (Hg.): Deleuze and Contemporary Art. Edinburgh 2010, S.116-132. Parikka gründet seine Auseinandersetzung mit dem Verdecken von Code und künstlerischen Strategien, das Verdeckte erkennbar zu machen, auf Gilles Deleuzes Begriff des «devenir imperceptible» (des "unsichtbar Werdens"). Wegen der Untrennbarkeit von Code und kulturellem Umfeld bieten Software Art und Tactical Media sich wechselseitig ergänzende Ansätze für eine Medienkritik.
    Diese Zusammenhänge thematisieren Künstler wie Übermorgen, Paolo Cirio und Alessandro Ludovico, wenn sie in GWEI (2005) und Amazon Noir (2006, S.126) "micropolitics" (S.118,125,130) in Form von Softwareanwendungen entwickeln, die zwar nicht in etablierte Relationen zwischen Technik, Ökonomie und Kultur intervenieren, sie aber humorvoll aufdecken.
    0100101110101101.ORG und EpidemiC veröffentlichten während der Biennale von Venedig 2001 den Code eines gutmütigen Virus (biennale.py) auf T-Shirts und Anderem. Nach Parikka sind in "biennale.py" Verflechtungen von wahrnehmbarem und verdecktem Code so aufgezeigt worden, dass die Überlagerungen von Technischem und Sozialem als über den Kunstbereich hinausreichendes Konfliktpotential erkennbar wurden.
    Die Steuerung von Rechenprozessen und ihre Auswirkungen in sozialen Konstellationen skizziert Parikka mit den Begriffen "the relationality, polymorphism and contex[t]uality" (S.124). Leider führt die Gilles Deleuze entlehnte Terminologie zu Begriffskonstellationen, durch die sich "Software Art" als "tactical move" (S.117) in zugleich technischen und sozialen Umfeldern nicht differenziert analysieren lässt: Parikkas Versuche mit Deleuze entnommenen `Bausteinen´ zeigen, dass das Potential von Deleuzes Ansätzen für die Entwicklung einer zeitgenössischen Medientheorie begrenzt ist. Begriffe wie "affects, sensations, relations and forces" (S.116) und "abstract machines" (S.121) bleiben gegenüber beschreibbaren technischen und sozialen Prozessen zu allgemein: Deleuzes Begriffe treffen auf zu viele Zusammenhänge zu und seine Texte liefern für digitale Kunst offensichtlich zu wenig Ansätze für Ausdifferenzierungen (4/2015).
  • Vierkant, Artie: The Image Object Post-Internet.
    (2010). AutorInnen wie Gene McHugh (Post Internet Blog, 2009-10) bezeichnen mit dem Begriff Post-Internet den Wandel des Internet von der Neuigkeit zur Banalität. Die von dieser Banalität geprägte "social condition at large" lässt sich nach Vierkant mit Kriterien wie "ubiquitous authorship", Aufmerksamkeitsökonomie, Ende der Dominanz der Realraumdistanzen, sowie unbegrenzte Reproduzier- und Veränderbarkeit charakterisieren.
    Die Digitalisierung führt zu sich ständig verändernden Medienlandschaften. Dies führt auch zur Pluralisierung der Medien innerhalb eines Projektes mit je nach Präsentationsumfeld wechselnden Medien(kombinationen): "...projects which move seamlessly from physical representation to Internet representation..." Die Projekte verwandeln eine Kultur, die "they" entwickelten, in eine Kultur, an der "we" als "reader-author" teilhaben. Auf das etablierte "bunker consciousness" reagiert eine "community-based art", wie dies Mitglieder des Critical Art Ensemble bereits 1996 in On Electronic Disobedience (1996, S.39) forderten.
    Post-Internet KünstlerInnen nehmen nach Vierkant die Rollen von "interpreter, transcriber, narrator, curator, architect" ein. Dabei ist weniger der Inhalt des Angeeigneten, als der neue Zusammenhang im einem Projekt und der Kontext seiner Verbreitung entscheidend, um Sichtweisen zu ändern. Die "one-to-many hierarchy of mass media" wird im zeitgenössischen World Wide Web von "new hierarchies of many-to many production" abgelöst.
    Indem KünstlerInnen über Netzbedingungen via "visual representations" kommunizieren, soll es ihnen nach Vierkant mit der Unabhängigkeit von Sprache gelingen, "to think beyond the fixity of `mediums´". So soll sich die "grossly limiting [internet] architecture " der "search terms, keywords, tags" überwinden lassen (11/2014).
  • Cox, Geoff: Virtual Suicide as Decisive Political Act.
    Vortrag, Konferenz "Activist Media and Biopolitics", Universität Innsbruck, November 2010. In: Sützl, Wolfgang/Hug, Theo (Hg.): Activist Media and Biopolitics. Critical Media Interventions in the Age of Biopower. Institut für psychosoziale Intervention und Kommunikationsforschung. Universität Innsbruck. Innsbruck 2012, S.103-116. Cox erwähnt politisch motivierten Selbstmord und seine Thematisierung in Computer Games, bevor er "virtuellen Selbstmord" in Sozialen Medien als taktisches Mittel vorstellt.
    Wafaa Bilal führt in A Virtual Jihadi (2008) die Situation der Iraker zwischen amerikanischen Besatzern und fundamentalistischem Terror in einem modifizierten Spiel vor. Aus den First Person Shootern "Quest for Al-Qua'eda: The Hunt of Bin-Laden" (2002) und "Quest for Saddam" (2003) von Petrilla Entertainment wurde das fundamentalistische Spiel "The Night of Bush Capturing" (Global Islamic Media Front, 2006) entwickelt, in dem nicht mehr Osama Bin-Laden oder Saddam Hussein, sondern George W. Bush verfolgt wird. Bilal greift die Programmierung von "Quest for Saddam", die auch in "The Night of Bush Capturing" verwendet wurde, auf und gibt dem letzterem Spiel entlehntem Selbstmord-Attentäter sein Äußeres. Die Widersprüche zwischen den "extreme fantasies of islamophobia and islamophilia" (pdf S.2/Buch S.104) thematisiert Bilals Variante, was Cox mit einem Zitat des Künstlers statt mit einer Spielanalyse belegt.
    Cox stellt das Spiel mit Franco Berardi in den gesellschaftlichen Rahmen des "mechanism of control over the imaginary", wobei Selbstmord die "pathology of the psycho-social system" (Berardi: Precarious Rhapsody... London 2009, S.55; pdf S.1/Buch S.103) anzeigt.
    Selbstmord als Spielziel, um sich Arbeit zu entziehen, offeriert "Five Minutes to Kill (Yourself)", ein Online Game von Adult Swim (2009). Der/die den Avatar steuernde SpielerIn gewinnt, wenn es ihr/ihm gelingt, sich so schnell wie möglich einen tödlichen Schlag versetzen zu lassen, um der öden Büroarbeit zu entrinnen. Cox sieht eine Parallele zwischen der Gewalt im Spiel und "the symbolic violence of the capitalist workplace" (pdf S.4/Buch S.106). Ich sehe eher ein vor den Herausforderungen zeitgenössischer Arbeitssituationen kapitulierendes, aber unterhaltsames Spiel, das auf den täglichen Kleinkrieg mit der Parodie reagiert, seine latente Gewalt zu provozieren und sich ihr auszusetzen.
    Von Olga Goriunovas Suicide Letter Wizard for Microsoft Word (2000) als Mittel, Selbstmord anzuzeigen, leitet Cox über eine Diskussion von Tactical Media zum "virtual suicide" in Sozialen Medien. Die "cycles of struggle" werden im "current neoliberal regime" zum willkommenen "motor for its own development" (Mario Tronti: The Strategy of Refusal 1965; pdf S.5/Buch S.108). Wenn aber Facebook moddr mit juristischen Schritten droht, da deren Web 2.0 Suicide Machine (2009) mit ihrem Angebot zur Ausführung von "unfriending" zu einer Verletzung der Rechte führe, die sich die Plattform beim Registrieren von jeder/m TeilnehmerIn übertragen lässt, dann ist die Grenze zwischen integrierbarem und nicht mehr integrierbaren Widerstand überschritten: Die Gegenwehr derer, die nicht mehr für die Plattform Facebook arbeiten wollen, bedroht nicht nur deren Geschäftsmodell direkt durch eine Reduktion des für Werbeeinnahmen nötigen Datenverkehrs, sondern provoziert auch die Plattformbetreiber zu juristischen Aktionen, welche die Toleranzgrenze markieren sollen. Nach Cox folgt Facebook hier der "logic of governmentality", wie sie Michel Foucault in seiner Analyse der Überführung der regulatorischen Funktionen des Staates in Marktbedingungen kritisierte (pdf S.3,6/Buch S.105,109). Das "virtual suicide"-Projekt Seppukoo von Les Liens Invisibles (2009) wird von einem seiner Autoren als "`viral´" und als "a sort of involuntary form of strike" (pdf S.8) ausgewiesen: Einzelaktionen des "unfriending" werden durch "the mechanism of viral invitations" auf die Stufe der "collective stage" (Guy McMusker; pdf S.8/Buch S.110) gehoben (4/2013; 1/2020: Adult Swim's Five Minutes to Kill (Yourself) ist nicht mehr im Web).
  • Arns, Inke: Transparent World. Minoritarian Tactics in the Age of Transparency.
    In: Andersen, Christian Ulrik/Pold, Søren Pro (Hg.): Interface Criticism. Aesthetics Beyond Buttons. Aarhus 2011, S.253-276. Arns verbindet die Transparenz, die Architekten der Moderne bis in die sechziger Jahre als verpflichtendes Programm betrachteten, mit Michel Foucaults Analyse der "Disziplinargesellschaft" und dem Übergang zur "Kontrollgesellschaft", den Gilles Deleuze als nächsten Schritt in der Entwicklung von "Dispositiven der Macht" vorstellte. Gebaute Transparenz erlaubt soziale Kontrolle durch Einsicht.
    Mit der Digitalisierung ändert sich die Funktion der Transparenz: Transparenz erleichtert es, sich auf grafischen Oberflächen zu bewegen, ohne von darunter liegenden Funktionsebenen gestört zu werden: Die `Gefahr´, dass AnwenderInnen mit Code in Berührung kommen, ist gebannt. Sollen dennoch Funktionsebenen wieder sichtbar werden, dann muss die Anwenderebene `opak´ werden. Der vom Prozessor in Rechenprozesse umgesetzte Code ("coded performativity" nach Reinhold Grether) und Visualisierung bedingen sich nicht mehr gegenseitig, sondern schließen sich aus, denn wenn eine Ebene transparent ist, dann ist das durch Intransparenz einer anderen Ebene möglich: "In the age of transparency we find ourselves dealing with a fundamental de-coupling of visibility and performativity/effectivity." (S.261) Was für die/den AnwenderIn transparent ist, setzt Funktionsebenen voraus, die sie/er nur auf Kosten der Transparenz kontrollieren kann: "The age of transparency is distinguished by the decoupling of (panoptical) visibility and (post-optical) performativity." (S.273)
    Arns stellt bis 2007 entstandene Projekte von Camera Surveillance Players, Bureau d´Etudes, Dragan Espenschied und Alvar Freude, Annina Rüst und Local Area Network, Michelle Teran, Trevor Paglen und The Institute for Applied Autonomy, Manu Luksch u. a. vor, welche versteckte Kontrollfunktionen entweder ad absurdum führen (1) oder aufzeigen (2): zwei Arten des `Vorführens´ vor den Kontrollierenden (1) oder für die Kontrollierten (2).
    Nach Arns treten im "age of transparency" die panoptische Überwachung der "Disziplinargesellschaft" und die postoptische "Performativität", gesteuert von im Hintergrund arbeitender Software, auseinander: Transparenz und Kontrolle sind keine Komplemente mehr (3/2013).
  • Menkman, Rosa: The Glitch Moment(um).
    Network Notebooks Nr.4. Institute of Network Cultures. Hogeschool van Amsterdam (University of Applied Sciences). Amsterdam 2011. Menkman stellt die Techniken des Databending, Datamoshing und Circuitbending vor (S.23,37f.,47ff.,53ff.,65). Sie zeigt an Beispielen, wie KünstlerInnen der Glitch Art diese Techniken anwenden.
    Glitch Art ist nach Menkman Erstens eine Reaktion auf die Fiktion, mittels Digitalisierung ein störfreies Wiedergabemedium zu produzieren. Die Techniken der Störung von Audio-, Bild- und Filmmedien verweisen zugleich auf Charakteristika des Gestörten, da sich bei JPEG und BMP-Dateien damit sehr verschiedene Effekte erzeugen lassen. Zweitens ist Glitch Art nur im Stadium des Übergangs "cool" (S.44; s. Liu, Alan: What´s Cool? In: Ders.: The Laws of Cool. Knowledge Work and the Culture of Information. Chicago 2004, S.176-179), solange ihre Effekte noch als Störung etablierter Medienanwendung wahrgenommen werden.
    Eine Technologieentwicklung, die Medieneigenschaften vor AnwenderInnen im Interesse von Investoren versteckt, stören Glitch KünstlerInnen mit ihren Strategien: Um Hard- und Software manipulieren zu können, beseitigen sie technische Hindernisse. Damit stören sie auch die Fiktion eines Mediums, das sich an Bedürfnisse der AnwenderInnen soweit anpassen kann, dass diese es nicht mehr wahrnehmen: Die Illusion totaler Transparenz versteckt in Wirklichkeit die Konstruktion der Mediums vor AnwenderInnen und entmündigt sie. Auf diese Unmündigkeit anworten "prosumers" (S.58), die Glitchtechniken kooperativ entwickeln. Mit "Glitchspeak" reagieren Netzgemeinschaften auf Situationen, die mit George Orwells "Newspeak" (in "1984", 1949) vergleichbar sind, das BürgerInnen in einem unkritischen Zustand gegenüber staatlicher Autorität hält (S.43) (4/2015).
  • Munster, Anna: Nerves of Data. The Neurological Turn in/against Networked Media.
    In: Computational Culture. A Journal of Software Studies. Issue One/2011. Munster kritisiert den "neurological turn" und dessen prominentesten Vertreter Nicolas Carr: Er stützt seine These, dass die Folge des Surfens im Netz nicht nur oberflächliches Denken sei, sondern es auch Folgen für die Denkfähigkeit habe, auf eine Studie von Gary Small, der das Verhalten von Netzsurfern mittels Functional Magnetic Resonance Imaging (fMRI) festhielt. Munster zeigt, dass Carrs Fundierung seiner Kritik auf fMRI nicht stichhaltig ist, da deren Diagramme solche Ableitungen nicht zulassen.
    Die zeitgenössische Aritificial Intelligence-Forschung löste sich von neuronalen Grundlagen, wie sie Warren McCulloch und Walter Pitts in den vierziger Jahren ihrer kybernetischen Neurophysiologie zugrunde legten. Aktuelle Programme lernen vom Imformationsfluss in großen Datenbanken für Vorhersagen künftiger Entwicklungen. An Googles Plan einer Prediction API kritisiert Munster die Rekursionen zwischen Surferverhalten und Lernverhalten der Software: "...it automates the development process making it in some fundamental ways non-participatory." Wenn Netzsurfer die Vorhersagen über ihr Verhalten erfahren, dann müsste dies nach Carrs Interpretation ihre neuronale Struktur so zur Anpassung verleiten, dass sie sich in Zukunft nur noch der Vorhersage folgend verhalten.
    Aus der problematischen aktuellen "Neuropolitik" führt nach Munster eine Kritik einer ausschließlich neuronalen Fundierung der Rezipientenforschung. So kann fMRI auch in Denkrahmen eine Rolle spielen, in denen Denken, Handeln und Wahrnehmen als kognitive Fähigkeiten nicht ausgeklammert werden: Die von fMRI gelieferten Bilder können "as filements of the complexity of neuro-affective-perceptual-cognition" gerade wegen ihres diagrammatischen Charakters dienen, der zwischen Icon und Index dynamische Relationen zulässt. Diese "machinic assemblage...of possible fields, of virtual as much as constituted elements" (Felix Guattari: Chaosmosis. An ethico-aesthetic paradigm. Sydney 1994, S.35) ermöglicht es, die aktuelle "Neuropolitik" vor dem Horizont einer "different `version´ of the relation between brains, thought and (soft) technics" in einem kritischen Licht zu sehen (4/2013).
  • Sack, Warren: Aesthetics of Information Visualization.
    In: Lovejoy, Margot/Paul, Christiane/Vesna, Victoria (Hg.): Context Providers. Conditions of Meaning in Digital Art. Bristol 2011, S.123-150.
    Erstens: Die frühen Konzepte für Computer von Alan Turing, Norbert Wiener und Douglas Engelbart thematisierten Datenverwaltung in der Bürokratie als Anwendungsbereich.
    Zweitens: Sack schlägt auf der Suche nach Vorläufern künstlerischer Strategien für die Visualisierung von Daten Konzeptuelle Kunst vor: Der Verwaltung entlehnte Präsentationsformen wie der Index 01 von Art & Language (1972) dienten einer Gesellschaftskritik, die auch korporative Strategien, darunter die Verwaltung großer Datenmengen, thematisierte.
    Drittens: Sack verknüpft diese beiden Argumentationsstränge, die Digitalisierung und die Kritik der Verwaltung mit ihren eigenen Mitteln. Die "body politic" entwickelte sich im 18. und 19. Jahrhundert von einer Körper um das Zentrum der Macht kreisförmig organisierenden absolutistischen Herrschaft ("the `star´ network") zu einer demokratisch-rhizomatischen "government of things". Einen Aspekt dieses Systems visualisieren Josh On & The Futurefarmers in They Rule (2001/2004) an Hand der Vernetzungen zwischen Firmen durch Personen in Aufsichtsräten und Führungspositionen verschiedener Unternehmen.
    Alternative Netzwerke wie MoveOn.org oder SMS-Netze könnten durch Visualisierungen ihrer Relationen zu einer "visual form to show the Body Politic itself to itself" führen. Sack streift das Problem der kritischen Selbsteinbettung in Gesellschaft (und nimmt damit – in erweitertem Rahmen – die kritische Selbsteinbettung von Art & Language in den Kunstbetrieb auf): Kontextreflexivität der größeren sozialen Rahmen, die nicht wahlweise gegen andere ausgetauscht werden können, ist die unausgesprochene, aber im letzten Satz von Sack angedeutete Konsequenz, Datenvisualisierung kritisch einzusetzen: "...we need to see ourselves and our imagined communities within our larger political and cultural contexts." (7/2009; 1/2020)
  • Reichert, Ramón: Dating Maps. Mapping Love in Online Dating Communities.
    Vortrag, Konferenz "Mapping Maps: What´s new about Neocartography?", Artur-Woll-Haus, Universität Siegen, Siegen, 21.1.2011. Die Kombination von Datenerfassungen mit Datenspeicherung, Strukturierungen von Databases durch Software, Verbreitung dieser Daten über das Internet und ihre Visualisierung in Network-spezifischen Interfaces ergibt im Web 2.0 Systeme, die Netzteilnehmer in ihrer Lebensgestaltung zweiseitig nutzen: Sie sorgen für Daten durch ihre Eingaben (Input) und die Art ihrer Nutzung eines Systems, da die Nutzung des Output wieder Input erzeugt. Aus diesen "feedback loops" ziehen ProgrammentwicklerInnen ihre Schlüsse und verändern die Systeme von "social networks", um sie sowohl an die Anforderungen der NutzerInnen als auch an die Anforderungen zahlender KundInnen anzupassen.
    Statt die ökonomischen Aspekte zu vertiefen, zeigt Reichert an Beispielen, welche Nutzungsmöglichkeiten entstehen: Den Entwicklungen der ProgrammiererInnen korrespondieren neue Möglichkeiten der NutzerInnen, in einem von Daten bestimmtem Leben durch "practices of evaluative self-observation" ihre Selbstorganisation zu verändern. Die Selbstanpassung an sich verändernde Umgebungen (Lebenswelt inklusive Infoscapes) wird zur Leitlinie: "The control technology of `gentle adaptation´ attempts to set an interminable dynamic of self-determination in motion..."
    In liberal-demokratischen Gesellschaften bilden "inspection procedures" dominante Organisationsformen von Wissen. Mit dem so etablierten "conduct of conduct" entsteht eine "feedback-driven self-control", in der Individuen Kontrollpraktiken der Macht in sozialen und ökonomischen Systemen übernehmen und einüben, wie Reichert argumentiert und sich dabei auf sozialkritische Texte von Giorgio Agamben (s. Anm.10) und Michel Foucault (s. Anm.14) bezieht.
    Reichert führt diese Zusammenhänge am Beispiel des "Touchgraph Facebook Browser" (TouchGraph Navigator) vor. Dieses "ego network" ermöglicht es dem Nutzer nicht nur, sich im Zentrum aller Facebook-Freunde zu sehen, sondern auch andere Standpunkte einzunehmen: "Thus the ego primarily appears as secondary observer of social networks letting the structural position of the ego seem permanently changeable and fluid." Nutzer sehen sich als "aggregate state of the network structure" und damit nach Reichert anders als unter klassischen Bedingungen sozialer Legitimation, wie sie Stammbäume und Familienbilder überliefern (4/2015).
  • Manon, Hugh S./Temkin, Daniel: Notes on Glitch.
    In: World Picture Journal. Nr.6/Winter 2011. Glitch Art ist für Hugh S. Manon und Daniel Temkin sowohl Teil einer "digitalen Kultur" (§ 22) als auch von analogen Vorläufern beeinflusst. Diese Vorläufer liefern Anregungen, sich nicht mit steril gewordenen Erzeugnissen digitaler Technologien zufrieden zu geben. Zugleich aber erfordert die Schaffung von "the wilderness within the computer" (§ 55) besondere Verfahren.
    KünstlerInnen entwickeln Störungen digitaler Bilder durch Eingriffe in Codes, ohne deren Lesbarkeit durch Programme aufzuheben. Bestimmte Verfremdungen kommen nur bei bestimmten Bildformaten (z.B. JPEG oder BMP) vor (§ 41). Als Folge gestörter Umwandlungen von Analogem in Digitales entstehen bei JPEG- und BMP-Dateien kantige Formen ("blockiness", "crystalline fragmentation", § 31). Im Unterschied zu analogen Störverfahren (§ 21) sind digitale Störungen durch die Speicherung der Datei vor dem Glitch und durch die "undo"-Funktion reversibel (§ 23,27). Glitchverfahren sind deshalb weder an Vorstellungen einer Moderne, die ihre eigenen medialen Grundlagen – als Präsentation irreversibler materieller Prozesse – thematisiert (§ 24,42), noch an Paul Virilios Vorstellungen einer "real sabotage" anschließbar (§ 25). Gefundene wie erzeugte Glitches erscheinen durch die Veränderung des Codes als integrale Störung, die sich in der Präsentation sofort zeigt ("instantaneous fracturing", §31, vgl. § 17), während sich Störungen in analogen Verfahren als Materialprozess entfalten (§ 29).
    Da die Störung des Programmablaufs nur dann präsentierbar wird, wenn der Prozess der Übersetzung des Codes in eine Bildpräsentation nicht gestoppt wird, erscheint Gestörtes im Umfeld von weniger oder nicht Gestörtem. Der digitale Glitch weist durch die "semilegibility" keine Totalverfremdung auf, sondern eine "logic of `almost, but not quite´" (§ 34; 4/2015).
  • Manovich, Lev: Trending. The Promises and the Challenges of Big Social Data.
    Druckfassung: Gold, Matthew K. (Hg.): Debates in the Digital Humanities. Minneapolis/Minnesota 2012, S.460-475. Manovich unterscheidet zwischen "'deep data' about a few people and 'surface data' about lots of people" (PDF S.2). Er stellt die Frage, ob Geisteswissenschaften heute mit "Big Data" auf Servern von Konzernen und Regierungen nicht mehr für Untersuchungen zur Verfügung stellen könnten als nur "surface data", oder ob diese "the new depth" bilden (PDF S.13).
    Er weist auf zwei Probleme von ForscherInnen der Geisteswissenschaften, die diese Daten analysieren wollen:
    Erstens: Wie erhalten sie Zugang zu Daten von Internetkonzernen wie Google oder Twitter?
    Zweitens: Wie erhalten sie die technische Kompetenz, um die von diesen Konzernen zur Verfügung gestellten APIs (Application programming interfaces) nutzen zu können?
    Diese APIs führen allerdings häufig nur zu Statistiken und nicht zu den ausgewerteten Quellen. Nur ForscherInnen, die MitarbeiterInnen von einem dieser Konzerne sind, erhalten direkten Zugang zu den Databases mit den abrufbaren Daten. Lediglich Regierungen, die – wie die U.S.-Regierung – immer mehr Daten über APIs (Data.gov, Health.gov) zur Verfügung stellen, erlauben es, aus "Big Data" mit dafür zu entwickelnder Software weiter reichende Schlüsse zu ziehen. Manovich weist auf die Schritte der Software Studies Initiative der University of California in San Diego (UCSD; Site: softwarestudies.com) in diese Richtung.
    Manovich skizziert eine Drei-Klassen-Gesellschaft: Der Menge von Internet- und Mobilfunknutzern stehen die Gruppe der EigentümerInnen der Mittel, sie zu speichern, und die noch kleinere Gruppe der Experten gegenüber, die fähig sind, "Big Data" zu analysieren: "We can refer to these three groups as new 'data-classes' of our 'big data society'" (PDF S.11).
    Den Interessen der Konzerne, durch diese Analysen "for specific business ends" relevante Resultate zu erhalten, stehen die Interessen der Forscher der Geisteswissenschaften gegenüber, neue Aufschlüsse "about human cultural behavior in general" (PDF S.11) zu erhalten. Doch den geisteswissenschaftlich orientierten ForscherInnen mangelt es bislang an Analysemöglichkeiten und an Datenzugängen. (4/2015; 1/2020).
  • Simanowski, Roberto: The Compelling Charm of Numbers. Writing for and thru the Network of Data.
    Vortrag, ELMCIP Conference on Remediating the Social, Edinburgh College of Art, 2.11.2012. Druckfassung in: Biggs, Simon (Hg.): Remediating the Social. University of Bergen. Department of Linguistic, Literary and Aesthetic Studies. Bergen 2012, S.20-27. Simanowski sieht in Facebooks Timeline eine Wiederaufnahme von Chroniken des Mittelalters, die Account-Inhabern Varianten zwischen Organisationsformen von Databases und Narrativem erlaubt. Das Narrative als sich in der Geschichtsschreibung äußerndes menschliches Bedürfnis, Zusammenhänge zu schaffen, sieht Simanowski in einem Spannungsfeld zur Ordnung isolierter Elemente in einer Database.
    Mit Facebooks "Life Event" können Account-Inhaber biographische Ereignisse als chronologische Folge dokumentieren, die einerseits Freunde/Freundinnen beim Lesen nach möglichen Zusammenhängen ordnen können, wenn sie dem menschlichen Drang nach der Schaffung von Übersichtlichkeit durch vereinfachende Interpretationen nachgeben. Andererseits weist Simanowski auf eine Tendenz zum Quantifizierbaren. Das belegt die Quantified Self-Community, in der circa 40 Gruppen ihe Kenntnisse und Erfahrungen mit digitalen, das Leben in Zahlen protokollierenden Technologien austauschen (Quantified Self). Facebook Timeline schließt an Database-Strukturen und an die Tendenz, das eigene Leben in Zahlen zu fassen ("numerical narratives", S.24) in einer Weise an, dass eine laufend aktualisierte autobiografische und multimediale Chronik entsteht.
    Die von Lev Manovich als "a new symbolic form of a computer age" (S.25) ausgewiesene Database ist in neuen Anwendungen wie in Facebooks Timeline "symbolic...for the ongoing shift from culture to economy" "adding `value for the consumer´ but also, and first of all, for the companies." (S.27). Für die Vermeidung von zu großen Spannungen zwischen digitalen Datensammlungen und menschlichen Bedürfnissen nach Narrativem sorgen also Investoren und Korporationen (4/2013; 1/2020).
  • Cramer, Florian: Post-Digital Writing.
    Keynote Lecture, Electronic Literature Organization Conference, West Virginia University, Morgantown/West Virginia, 22.6.2012. In: Electronic Book Review, 12.12.2012. Neu in: Cramer, Florian: Anti-Media. Ephemera on Speculative Arts. Rotterdam 2013, S.227-239,259f. Cramer fasst in der "Keynote Lecture" für die "Electronic Literature Organization [ELO] Conference" die Geschichte der Hyperfiction kurz und kritisch zusammen. Während in Ländern wie Deutschland "literary writing" nicht an Universitäten gelehrt wird und elektronische Literatur nach einem Boom in den späten neunziger Jahren nicht weiter entwickelt wurde, ist diese Kunstform in den Vereinigten Staaten in "ELO initiatives like `Born Again Bits´ and `Acid-Free Bits´" zwar weiter im akademischen Kontext gefördert worden, doch wurden ihre Möglichkeiten auf geschlossene und deshalb abladbare Werkformen reduziert: Webness in Form von Linksystemen und "communication streams" blieben unberücksichtigt. Er verweist auf Versäumnisse der Electronic Literature Organization (ELO), auf neue Kunstformen, die auf der Basis von Filesharing entstanden sind, und auf die Entwicklung der Verbreitung von Dateien via Telekommunikation zu reagieren. Die von der ELO bevorzugte Form der literarischen Kritik setzt nach Cramer sich als "literarisch" ausweisende Werke voraus und kann so auf die Überschreitung der Grenzen zwischen "amateur and professional writers" nicht reagieren.
    Kaum anders verlief aus der Sicht Cramers die Entwicklung der Netzkunst nach 2000. Das Internet wird heute von KünstlerInnen nur mehr als Distributionsmedium genutzt, nicht mehr aber wird es als künstlerisches Medium mit eigenen Möglichkeiten erforscht. Verbindungen zwischen Netzkunst und Aktivismus, wie sie "Hacktivism" und Copyleft-Initiativen herstellten, wurden mit "The Anonymous Movement" und Piratenparteien zu Bestandteilen der Massenkultur (Korrektur an Cramer: Wenn alternative Bewegungen von Massenmedien wahrgenommen werden, dann heißt das noch nicht, dass diese Gruppierungen ihre Randposition auch schon verlassen haben und ihre VertreterInnen Ziele politisch durchsetzen können). Zum Einen werden heute nach Cramer die Möglichkeiten des Internet nicht weiter erforscht, zum Anderen ist "Hacktivism" zu arriviert.
    Cramer skizziert seinen Standpunkt mittels einer Kritik an Kenneth Goldsmiths Kommentaren über "plunderphonics" (in "Uncreative Writing", New York 2011). Goldsmith nutzt Netzkulturen zwar als Quellen seiner künstlerischen Tätigkeit, bleibt aber distanzierter Beobachter und kann die Dichotomie creative/uncreative nicht überwinden.
    Außerdem können so nicht die neoliberalen "Creative Industries" in Frage gestellt werden: "It is tempting to maintain notions of 'literary writing' or '(un)creative writing' out of resistance to these developments." Nach Cramer jedoch sollte "uncreative writing" mit einer "clever inventiveness" praktiziert werden, um etablierte "creative industries" zu provozieren und zu hinterfragen.
    Die zeitgenössischen Entwicklungen digitaler Medien führen nach Cramer zu einer neuen Wertschätzung des Analogen. Er bezeichnet diese Tendenz als Kennzeichen des "Post-Digitalen". Cramer sieht in einer Rückkehr zum "publishing of self-made books and zines" eine Möglichkeit für alternative Formen des "social networking" außerhalb der Kontrolle der "four corporate players" (Google, Apple, Amazon, Facebook).
    Annette Knols Buch "Colors – Simply Hiphop" (o.J.) führt er als Beispiel für ein "DIY [Do-it-yourself] printmaking" an, das mit seiner Appropriation von Zeilen aus Hip Hop-Liedtexten (Internet-Fundstücke aus Webseiten, die diese Texte archivieren) die Kriterien der ELO zweifach unterläuft: in der künstlerischen Strategie und in der Verbreitung. Knol und "DIY printmaking communities" wenden sich nach Cramer zu den Ursprüngen des "home computing and to home pages in the literal sense of the word."
    Cramer stützt seine Kritik digitalisierter Massenkultur auf die Kritik der Massenkultur von Theodor Wiesengrund Adorno und Max Horkheimer ("Dialektik der Aufklärung", Amsterdam 1947), doch kann er mit seinem Ausweichen ins Selbstgemacht-Analoge vielleicht einen Rückzugsort, sonst aber so wenig wie die klassische Kulturkritik der Frankfurter Schule Wege aus der konstatierten Krise aufzeigen.
    Geoff Cox reagiert in Prehistories of the Post-digital auf das von Cramer skizzierte Problem des Verhältnisses von Kunst, Medien und Sozialem mit einer Skizze der Vorgeschichte der "global contemporaneity", doch kann er das "Post-Digitale" in der von ihm konstatierten Simultaneität von "different geopolitical contexts" nur als "badly known" vorstellen: Aus Cramers positiver Wertung des Post-Digitalen wird eine negative. Cramer und Cox zeigen, dass unter dem Begriff des "Post-Digitalen" zeitgenössische Phänomene subsumiert werden können, sich daraus aber (noch?) keine Ansätze zur Kritik ihrer Ursachen gewinnen lassen, welche die Voraussetzung für die Entwicklung einer Perspektive auf eine alternative Kunstpraxis werden könnte (4/2015; 1/2020).
  • Shanken, Edward A.: Investigatory Art. Real-Time Systems and Network Culture.
    In: NECSUS. European Journal of Media Studies. Nr.2/Autumn 2012. Jack Burnham stellte in Vorträgen und Aufsätzen, die er zwischen 1968 und 1970 schrieb, zeitgenössische Werke vor, die "real time systems" enthielten oder sich an diese anschlossen. Shanken greift zwar Burnhams Argumentation auf, dennoch interessieren ihn weniger Werke, die Prozesse von Systemen dokumentieren oder sie in Installationen – wie in experimentellen Versuchsanordnungen – vorführen. Er konzentriert sich vielmehr auf Werke, welche in die von Systemen kontrollierten Prozesse eingreifen: Ihre Art, Aspekte dieser Systeme vorzuführen oder zu dokumentieren, führt zu Gegenreaktionen weniger vom Publikum als von Entscheidungsträgern des Kunstbetriebs. So musste Hans Haacke nach seinen 1970 realisierten Besucherbefragungen (in der Ausstellung "Software" im New Yorker Jewish Museum und in "Information" im New Yorker Museum of Modern Art) erfahren, dass Trustees die Präsentationen seiner Arbeiten verhinderten. Dies hat Haacke dazu provoziert, in vielen folgenden Werken die Interessen von Sammlern und Sponsoren im Kunstbetrieb zu untersuchen. Er konnte dokumentieren, in welcher Weise Kunst die Corporate Identity fördert: Sie wird zur Ablenkung der Aufmerksamkeit potentieller Käufer von Geschäftsbereichen eingesetzt, die der Corporate Identity widersprechen.
    Haackes Beitrag "Visitors´ Profile" für die von Burnham kuratierte Ausstellung "Software" enthielt ein digitalisiertes Informationssystem mit Echtzeitaktualisierung.
    Nach Shanken antizipierte Haacke mit seinem Einsatz digitaler Mittel in "real time systems" Netzprojekte von KünstlerInnen wie Heath Bunting (Own, be Owned, Or Remain Invisible, 1998), Josh On (They Rule, 2001, Aktualisierungen 2004 und 2011), Übermorgen mit Alessandro Ludovico und Paolo Cirio (Google Will Eat Itself, 2005), Beatrice da Costa (Pigeon Blog, 2006) und Michael Mandiberg (Real Costs, 2007), die an Teile bestehender Informationssysteme anschliessen und ihr Funktionieren sowie ihre Folgen so aufzeigen, dass Interessen der BetreiberInnen dieser Systeme tangiert werden. Zu "Google Will Eat Itself" haben die BetreiberInnen von Google Gegenmaßnahmen realisiert.
    Mit ihrer Selbsteinbettung in die Entwicklung digitaler Informationssysteme setzen die KünstlerInnen in den erwähnten Werken Strategien um, neue Partizipationsmöglichkeiten zu nutzen.
    Shanken legt in seinen Bemerkungen die Betonung auf kritisch-reflexiven (also konzeptuell orientierten) Einsatz neuer Partizipationsweisen, nicht auf direkte Intervention mit aktivistischem Ziel. In Shankens Interpretationen wird erkennbar, wie die partizipatorischen Aspekte der Werke Lebensweisen ihrer Rezipienten verändern können. Shanken zieht sich in seinen abschließenden Bemerkungen leider auf ein Zitat von Saskia Sassen zurück, das keinen Ansatz für zukünftige künstlerische Strategien bietet: "Through this embeddedness the digital can act back on the social..." (Sassen, Saskia: Territory, Authority, Rights. Oxford 2006, S.344; 4/2015).
  • Navas, Eduardo: Modular Complexity and Remix. The Collapse of Time and Space into Search.
    In: AnthroVision. Vol.1.1. September 2012. In YouTube archivierte Remix-Videos zeigen die Reaktionen ihrer AutorInnen auf das Zuspiel von Videos: Da das Original sich nur schwer oder nicht mehr über das YouTube-Suchsystem finden lässt, reagieren AutorInnen von Remix-Videos auf Remix-Videos.
    Da Suchsysteme und Plattformen die neuesten Einträge begünstigen, beeinflussen sie, was gefunden wird. AutorInnen von Remix-Videos reagieren auf die letzten Versionen meistens, ohne ältere Versionen oder den Start der Serie zu kennen, da die Vorlagen für Remix-Videos mit den in Plattformen integrierten Suchsystemen häufig nicht zu finden sind. Wenn Korporationen die Plattformbetreiber auffordern, Urheberrechte verletzende Remix-Videos zu entfernen, dann fehlen zudem Teile der Remix-Serie.
    Archiviert werden die Versionen nicht, um ihre Genese nachvollziehbar zu präsentieren, sondern um möglichst viele Plattformbesucher zur neuesten Version zu leiten. In der Art, wie Suchsysteme und Plattformen das Klickverhalten lenken, verfolgen sie ihre Geschäftsmodelle. Aus dem Zusammenwirken dieser von Geschäftsmodellen bestimmten Netzbedingungen ergibt sich für BetrachterInnen und AutorInnen von Remix-Videos: "...the now rules..." (pdf S.26) Diese "ahistoricity" (pdf S.2) wird von der Distribution von "constant updates" (pdf S.4) unterstützt, die ältere Software-Versionen und die mit ihnen bearbeiteten Remix-Varianten teilweise unzugänglich machen: "Those who are invested in knowledge and history as a living discourse must truly consider the stage we are entering with algorithms that privilege the growing economy of the now." (pdf S.27) (3/2013)
  • Lovink, Geert: What is the Social in Social Media?
    In: e-flux journal. Nr.40/December 2012. Geert Lovink bestimmt "social media" als "container concept...describing a fuzzy collection of websites like Facebook, Digg, YouTube, and Wikipedia." Auf ein Verständnis des "Sozialen" als Gesellschaftsleben, in dem symbolische Interaktion eine zentrale Rolle spielt, ist "the real-virtual distinction" in Medienanalysen zurückzuführen, die bei "Sozialen Medien" nicht mehr weiter führt.
    Das von Interaktion `vor Ort´ bestimmte Soziale beschrieb Jean Baudrillard 1985 in "The Masses: Implosion of the Social in the Media" als von Umfragen abgelöst, durch die Auffassungen der schweigenden Mehrheit erfasst werden. Kommunikation als Möglichkeit, Öffentlichkeit gegen Machtstrukturen zu mobilisieren, hatte für die Sozial- und Medienkritik der Postmoderne ihr emanzipatorisches Potential verloren.
    "Soziale Medien" heute dagegen reetablieren das Soziale: Jetzt erscheint es als Aufforderung zu antworten und als "corrosion of conformity", wie die "Facebook revolutions" 2011 zeigten. Die Ein-Weg-Kommunikation der Massenmedien bildeten ein System, dass uns "in einen Zustand des Stumpfsinns" trieb, und das von Kommunikation bestimmte Soziale auflöste (Baudrillard). Dieses System verliert mit den aktuellen "Sozialen Medien" seine Dominanz. Die "Sozialen Medien" werden heute nicht nur von "uploading and self-promotion" bestimmt, sondern auch von "the personal one-to-one feedback and small-scale viral distribution elements." Kritikern von "Sozialen Medien" wie Nicolas Carr, Sherry Turkle und Jaron Larnier hält Lovink entgegen, dass sie es vermeiden, Vorschläge zu machen, "what the social could alternatively be, were it not defined by Facebook and Twitter." (4/2013)
  • Lichty, Patrick: Variant Analyses. Interrogations of New Media Art and Culture.
    Theory on Demand Nr.12. Institute of Network Cultures. Amsterdam 2013. Für das Buch "Variant Analyses" wählte Lichty medienreflexive Texte, die er zwischen 1994 und 2012 schrieb, als Bausteine einer Analyse des Wandels von Kunst, Internet und Aktivismus. Im Zentrum von Lichtys Analysen stehen die sozialen Auswirkungen der Entwicklung des Internets zum zentralen Informations- und Kommunikationsmittel.
    Die Zeitdiagnosen von Jean Baudrillard, Paul Virilio, Gilles Deleuze und Felix Guattari bilden nicht nur im ersten und ältesten Text ("Haymarket RIOT´s Machine", 1994, Koautor Jonathan S. Epstein), sondern auch in vielen folgenden Texten Lichtys Ausgangspunkte für Analysen des Internet, des Netzaktivismus und der Netzkunst. Die Beschleunigung von Verkehr, Handel und Informationsaustausch verursachte eine Entgrenzung aller Sphären. Zu den Folgen gehören wechselseitige Übernahmen und Annäherungen zwischen Medien(formen), durch die nach Baudrillard und Virilio Fotografien und Video zu Leitmedien wurden (S.14,35). Auf diese Phase folgt nach Lichty das Internet als eigener "referent from which to operate" (S.15). Im Laufe der Entwicklung des Web 2.0 wiederum erhalten Bilder eine neue Bedeutung, die Lichty in "Art in the Age of Dataflow" (2009) an Hand zweier Blogs von Manik (Marija Vanda und Nikola Pilipovic) und Nasty Nets (mit Marisa Olson) thematisiert: Die in den Blogs präsentierten Bilder sind "found footage" (S.18f.), die – teilweise in kommentierender Absicht – modifiziert wurden. KünstlerInnen arbeiten im Web 2.0 nicht nur verstärkt in und mit Datenflüssen, sondern visualisieren diese Informationsprozesse in digitalen Präsentationsformen (Beispiele von Martin Wattenberg, Golan Levin und Ben Fry, S.142,154ff.).
    Lichty zeigt in "Art in the Age of Dataflow" eine Entwicklung künstlerischer Tätigkeit: Nach dem Aufbrechen der "narrative closure" (S.145f.) durch VertreterInnen der literarische Avantgarden entstehen neue Textformen in Hypertext-Projekten, die durch Verknüpfungen verzweigt sind. Schließlich können TeilnehmerInnen an Datenflüssen und an der Entwicklung von Möglichkeiten ihrer Visualisierung mitwirken: "art´s journey from structure to flow" (S.142).
    Das Aufbrechen ins "Molekulare" (S.55 mit Felix Guattari) und der "Flow" in und zwischen Milieus (S.154 mit Deleuze/Guattari) stellt Lichty als untrennbare Bewegungen vor, in denen er Chancen sieht, die über Baudrillards Zeitdiagnostik des fraktalen Stadiums der Simulation hinaus führen.
    Auf die Machthierarchien, die sich auch in Gesellschaften mit amorph werdenden Grenzen zwischen sozialen Sphären erhalten, reagiert nach Lichty ein amorph werdender Aktivismus ("On Amorphous Politics", S.158). "Unbestimmtheit" ("indeterminacy", S.141,144) ist nach Lichty nicht nur ein Charakteristikum von Avantgarden in Kunst- und Literatursphären, sondern auch eines der "Offenheit" ("openness", S.144) einer kollaborativen (S.112-120) und kommunikativen (S.134,137f.) Kunstpraxis, die zugleich soziale Praxis und Aktivismus sein kann.
    Occupy und die aus der "image sharing community 4chan.org" entstandene Gruppe Anonymous (S.57,159) sind nach Lichty Beispiele für den kollaborativen Einsatz von Internet und Mobilfunk, durch die sich die Selbstverortung im Realraum ändert ("Building a Culture of Ubiquity", 2000, S.94-104). In der wechselseitigen Durchdringung von Real- und Simulationsräumen, unter Anderem mittels "Ubiquitous Computing" (S.94-104) und "Second Life" (S.132), entstehen Möglichkeiten für Alternativen, wie sie postmoderne Zeitdiagnostik noch nicht denken konnte und die in der Kunstpraxis erprobt werden können (S.30).
    In einigen Kapiteln stellt Lichty auch Projekte aus den Bereichen Netzaktivismus (RTMark, The Yes Men, S.39f.,43), Ubiquitous Computing (S.103) und Netzkunst mit Social Media (Second Front in Second Life, S.117f.,130f.) vor, an denen er als Künstler beteiligt war (4/2015).
  • Lodi, Simona: Illegal Art and Other Stories About Social Media.
    In: Lovink, Geert/Rasch, Miriam (Hg.): Unlike Us Reader. Social Media Monopolies and Their Alternatives. Institute of Network Cultures. Amsterdam 2013, S.239-253. Simona Lodi stellt Netzprojekte und Mobile Applications vor, die Aspekte von Social Media – wie die Zusammenhänge zwischen Geschäftsmodellen und Nutzerverhalten – thematisieren. Als der Facebook-Gründer und CEO Mark Zuckerberg 2009 Privatheit für beendet erklärte, blockierte Facebook die Applikationen "Seppukoo" von Les Liens Invisibles (2009) und Web 2.0 Suicide Machine von Moddr (2009), weil "both...invited users to close their accounts." (pdf S.242) Wer sich registriert, muss seine rechtlichen Ansprüche per Zustimmung an Facebook übertragen. Die genannten Projekte aber unterstützen das Löschen der Beiträge, die Facebook als sein Eigentum behandelt. Zuckerbergs privater Besitzanspruch ist für seine Anwälte unantastbar, während das Recht der Beiträge schreibenden Account-Inhaber auf geistiges Eigentum unter `Privatheit war gestern´ fällt: Ist die Aneignung der Rechte von Accountinhabern das Soziale in "Social Media"?
    Lodi stellt diese Projekte in knappen Beschreibungen vor. Sie spitzt in ihren Ausführungen die Zusammenhänge zwischen Plattformen, ihren Geschäftsmodellen und Accounthinhabern nicht so zu, wie es die etablierte Machtverteilung erlaubt.
    Ihr zweites Hauptthema ist, wie KünstlerInnen auf politische Plattformen reagieren, durch die aus Aktivismus eine Zustimmung zu Petitionen durch Klicks wird. Mica White prägte dafür 2010 den Begriff "Clicktivism". Les Liens Invisibles bieten mit ihren Projekten Repetitionr (2009-2010) und Tweet4Action (2011) Dienstleistungen zur Erleichterung der Ausführung von Kampagnen und Petititonen an. Bei "Repetitionr" wird die Zustimmung mit geliefert: Gefälschte "Signatures" (pdf S.248) bannen die Gefahr, dass Petitionen ohne Resonanz bleiben. Lodi bettet diese Parodien des "Clicktivism" in eine knappe Darstellung der aktuellen Formen des Aktivismus ein und fragt: "How has business appropriated hacker values, exploiting open source principles, freedom and equality, and triggering the activist response?" (pdf S.243) Sie ist der Ansicht, dass ihre Beispiele für künstlerische Reaktionen stehen, die kritisch das "Soziale" in "social media" hinterfragen und mit ihrem "techno-activism" dazu beitragen, dass "new forms of equality and social change" (pdf S.252) geschaffen werden (4/2013).
  • Sanchez, Michael: 2011: On Art and Transmission.
    In: Artforum, Vol.51/No.10, Summer 2013. Sanchez konstatiert Rückwirkungen von der Rezeption von Kunst in Websites, die meist auf Touchscreens aufgerufen werden, auf Formen von Kunstwerken und ihre Präsentationen in Ausstellungen. Das provoziert Rückschlüsse auf veränderte Zusammenhänge zwischen Kunstproduktion und Kunstbetrieb. Die Vorstellung von künstlerischem Subjekt, wie sie bisher von der Institution Kunst gefördert wurde, wird von "'desubjectifying' effects of apparatuses" aufgelöst, folgert Sanchez im Rückgriff auf Giorgio Agambens Begriff des Apparats: "Both the informational form and the affective content of contemporary art are optimized for an apparatus that is increasingly dominated by feedback between the iPhone interface, the feed, and the aggregator, not the institutional structures of the gallery and museum."
    Sanchez fordert deshalb, die zeitgenössische Kunst nicht als eine der "institutions producing subjects", sondern als eine der "apparatuses capturing organisms" zu verstehen, da die Kunst in einer Art erzeugt und verbreitet wird, auf die Richard Dawkins' Vergleich der Verbreitung von Memen der Biologie mit der Verbreitung von "nongenetic data" zutrifft (1/2020).
  • Parikka, Jussi: Dust and Exhaustion. The Labor of Media Materialism.
    In: C Theory. 2nd October 2013. Parikka schreibt eine Medien- als Materialgeschichte mit dem Thema "Staub", der in die Lungen der Arbeiter eindringt und sie zerstört, so auch beim Abbau von Coltan, das zu Tantalum verarbeitet für die Herstellung der Chips von Mobiltelefonen benötigt wird. An Hand der Arbeit zur Gewinnung von Mineralien zeigt Parikka Verbindungen zwischen lebensnotwendigen Körperfunktionen und außermenschlichen Materialien auf. Mit der technischen Entwicklung von analogen zu digitalen Medien haben sich zwar die benötigten Materialien und die Orte ihrer Gewinnung verändert, nicht aber die lebensgefährlichen Bedingungen: Über die Atemwege in die Körper der Arbeiter eindringende Partikel sind eine Konstante.
    Die Games Phone Story von Molleindustria (2011, Google Android und Internet) und "iMine" (2010, Google Android und iPhone) sowie YoHas (Matsuko Yokokoji, Graham Harwood) Installationen Tantalum Memorial (2008) und Coal Fired Computers (2010) thematisieren die Zusammenhänge zwischen den Arbeitsbedingungen zur Gewinnung von Materialien und der Herstellung von Hardware.
    Der Körper wird zum "Aufschreibesystem" (Kittler, Friedrich Adolf: Aufschreibesysteme 1800-1900. München 1985). An der Art, wie der Körper reagiert und in Form von Organveränderungen speichert, lassen sich sowohl die Produktionsbedingungen ablesen, unter denen Technologien erzeugt wurden, als auch deren Auswirkungen auf die Umwelt. Atemlosigkeit als Folge von Zeitdruck, Mangel an Sauerstoff und Verengung der Atemwege sind trotz technischer Entwicklung konstante Charakteristika vom 19. bis zum 21. Jahrhundert.
    Mit Zitaten aus Georgius Agricolas "De Re Metallica" (1556) belegt Parikka ein Kontinuum von der Neuzeit in die (Nach)Moderne: "...the book reads like a distant warning of that connection between wealth and its price, of ill – health and sacrifice. It is a sort of psychogeographics..." (4/2015).
  • Moss, Cecilia Laurel: Expanded Internet Art and the Informational Milieu.
    In: Rhizome, 19th December 2013. Ceci Moss schlägt "Expanded Internet Art" als Begriff für Werke vor, die den Informationsfluss thematisieren, mit dem das Internet "informational dynamics" verändert. Die Medien, in denen KünstlerInnen diese neue Dynamik thematisieren, sind nicht auf das Internet beschränkt, weshalb Moss den Begriff Expansion vorschlägt. Sie geht nicht auf die Vorgeschichte dieses Begriffs ein, auf seinen Gebrauch in den sechziger und siebziger Jahren (von Gene Youngblood, Rosalind Krauss u.a.) für Grenzüberschreitungen von alten Kunstgattungen zu neuen Werkformen und um den Übergang zu Neuen (bzw. technischen) Medien und zu Intermedia Art zu kennzeichnen. Während damals noch der Gattungs- vom Medienbegriff abgelöst wurde, steht für Moss heute die Ablösung von medienspezifischen Charakteristika durch Datenflüsse im aktuellen "informational milieu" im Vordergrund. Sie greift dabei auf einen von Tiziana Terranova gebildeten Begriff zurück und wendet ihn mittels Gilbert Simondons Begriff des Milieus gegen den Begriff der Information und das Sender-Empfänger-Modell der Kybernetik: "...Simondon posited that there is no content proper to any elements within a system, and form (as signal) is never abstracted from matter (as noise)...Matter is not inert, but a potential."
    Arbeitsweisen auf, in und mit Informationsflüssen – wie sie Kari Altmann und Brenna Murphy einsetzen – dienen Moss als Beleg für eine mit "Resonanzen" (Simondon) im "informational milieu" arbeitende und Resonanzen im Beobacher provozierende Kunst. Moss erwartet von einer in das zeitgenössische Milieu eintauchenden Kunst, dass sie in diesem Milieu Potentiale freilege, lässt aber offen, wie dies geschehen soll (1/2020).
  • Betancourt, Michael: Critical Glitches and Glitch Art.
    In: Hz Journal. Nr.19/2014. Untersuchungen der Glitch Art, die sie auf formale Unterscheidungen von Glitches einerseits als Fehlfunktionen und andererseits als wie Fehlfunktionen aussehende ("glitch-alike", s. Moradi, Iman: GTLCH Aesthetics. Diss. The University of Huddersfield. Huddersfield 2004, S.10) Modifikationen reduzieren, befriedigen Betancourt nicht. Er betont die Rolle der Beobachterin/des Beobachters, für die/den Werke, welche mit einer der beiden Arten erzeugt wurden, Bedeutung im aktuellen sozialen Kontext erlangen können.
    Auf der Basis der Äußerungen von Theodor Wiesengrund Adorno über autonome Kunst und ihre bürgerliche Refunktionalisierung weist Betancourt Interpretationen zurück, die jeden "Glitch" als "inherently critical" verstehen. "The potential for a critically oriented practice" erschließt sich RezipientInnen aus ihrer Fähigkeit, technische Vorgänge vor dem Hintergrund ihrer Kenntnis von normalen Anwendungen und Störungen zu interpretieren. KünstlerInnen wiederum sollten in der Lage sein, Interpretationshorizonte ihres Publikums bei der Auswahl von Glitchverfahren zu antizipieren – zum Beispiel in der Art, wie sie in der Werkform Nicht-Gestörtes und Gestörtes aufeinander beziehen (4/2015; 1/2020).
  • Bosma, Josephine: Post/Digital is Post/Screen. Arnheim´s Visual Thinking applied to Art in the Expanded Digital Media Field.
    In: A Peer-Reviewed Journal About Post-Digital Research. APRJA. Vol. 3/Issue 1. 2014. Nach Bosma markiert der Begriff "Post-Digital" eine Neuorientierung: Aktuelle Analysen der sozialen und kulturellen Folgen technischer Entwicklungen orientieren sich nicht mehr primär an Digitalisierung, auch wenn sich digitale Medien schneller denn je ausbreiten. In zeitgenössischer Kunst wird auf diese Neuorientierungen reagiert, indem die Aufmerksamkeit nicht mehr auf Bildschirmpräsentationen digitaler Prozesse gelenkt wird, sondern auf die bisher vernachlässigten Aspekte.
    In Rudolf Arnheims Diskurs über die Funktion der Modellbildung in der Wahrnehmung und im Denken (Ders.: Visual Thinking, Berkeley 1969) findet Bosma Ansätze, die sich zu einer Vorstellung post-digitaler Tendenzen ausbauen lassen. Ein ungefiltertes Registrieren und Erinnern von Sinnesdaten übersteigt menschliche Wahrnehmungsfähigkeiten, während Wahrnehmung nur durch die Komplexitätsreduktion mittels Modellen sichtbarer Welt möglich wird. Arnheim geht in seinem holistischen Ansatz von einem umfassend strukturierenden Denken aus, das Möglichkeiten der Reduktion von Sinnesreizen durch die Gliederung des Wahrgenommenen bietet. Er erwähnt zum Einen frühe naturwissenschaftliche "models for theory" als Beispiele für die Wahrnehmung konstituierende Modelle ("Visual Thinking", chap.15), zum Anderen rückt er psychologische Prozesse in den Vordergrund.
    Die seit der Renaissance in Kunst und Wissenschaft geführte Auseinandersetzung, ob die Ellipse ein verformter Kreis oder eine Form mit eigenen Relationen zwischen Zentrum und Peripherie ist, dient Bosma als Beispiel für einen theoriegeleiteten Perspektivenwechsel: "A shift of the perspective can apparently enrich the way we approach things, even if not every detail of this new view is in line with the reality it reveals."
    Bosma sieht Gemeinsamkeiten zwischen Arnheims Ansatz, an visueller Wahrnehmung mehr als nur Sichtbares in entscheidender Weise beteiligt zu sehen, und Alexander R. Galloways Kritik in "The Interface Effect" (Buch, Malden/Massachusetts 2012), am Computer nicht nur das am Bildschirm Sichtbare, sondern auch diese Präsentation prägende Vorgänge ("the digital as a complex structure of forces obscured by a focus on the screen") zu berücksichtigen. Galloways Kritik der Relation zwischen Rechenprozessen und Bildschirm, wie sie in Lev Manovichs Analyse neuer Medien zentral ist, stellt Bosma als wichtige Quelle für die Entwicklung eines "post-digital approach" vor, mit dem die Bildschirm-Fixierung überwunden werden soll.
    Diesen "approach" zeigen nach Bosma folgende Werke: Jaromils "Forkbomb" wird als Beispiel für "Code Art" vorgestellt. Dania Vasilievs alternatives Netzwerk "Netless" steht für in Installationen und Performances eingesetzte Netzwerke. Aktionen der "Yes Men" stellt Bosma als "Post-Internet Art" vor, da sie mit ihrer Hinterfragung etablierter Vorstellungen vom Digitalen einem Verständnis von "the post-digital" zuarbeiten. Die Yes Men mit ihren in Vorträgen versteckten Publikumsprovokationen, die sie in Videodokumentationen verbreiten, artikulieren nach Bosma in der Auseinandersetzung mit verschiedenen Wirklichkeitsebenen ("different dimensions of reality") einen "in-between space", der "a physical space, a technological space, and a conceptual space at once" sei.
    Da die "Yes Men" Medien strategisch zur Erlangung ihrer Aktionsziele koppeln, wie es Aktivismus immer getan hat, wären Installationen mit integrierten Netzwerken und/oder Internetzugang überzeugendere Beispiele zur Demonstration bisher unberücksichtigter Qualitäten eines "in-between space".
    Außerdem erneuert Bosma mit ihrem Arnheim entlehnten Ansatz der Auseinandersetzung mit Wirklichkeitsebenen eine Problemstellung der künstlerischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Auch wenn Bosma nicht zurück will zu einer Erneuerung prae-digitaler Medienansätze – sie hält deren Auseinandersetzung mit Kino und Fernsehen für problematisch – , so ist sie doch dort angekommen.
    Mit ihrer Vereinnahmung von Beispielen der Code Art und des Aktivismus verleiht Bosma deren mit dem Web 1.0 entstandenen Medienformen und Strategien nachträglich das Etikett "Post-Digital". Bosma gelingt es nicht, zu zeigen, dass der Begriff mehr als eine Dichotomisierung zwischen Pop-Versionen des Digitalen und der Abwendung von ihnen zur Verfügung stellt. Sie spitzt diese Auseinandersetzung auf das Problem Bildschirm zu – "Screen" versus "Post-Screen" – und zeigt, dass es Alternativen zu dominant Bildschirm-bezogenen Arbeiten nicht erst seit den populären Vervielfältigungen mobiler Computer und Mobiltelefone mit Touchscreen gibt. Doch was hat sich geändert zwischen der Kritik am Graphical User Interface der Standard-Betriebssysteme von Personal Computers und der von Global Players mehr denn je bestimmten Medienkonstellation des Web 2.0? Ein Ansatz, der den Wandel von Interfaces umfassend, also auch den Wandel der Bildschirmtechniken und -präsentationen einbezieht, scheint mir fruchtbarer für künstlerische Projekte mit dem Ziel einer Medienkritik zu sein, als eine schlichte Abwendung von Bildschirmpräsentationen, während die meisten Rezipienten diese Projekte nur durch die im Internet verbreiteten Foto- und Filmdokumente erfahren (4/2015; 1/2020).
  • Grosser, Ben: How the Technological Design of Facebook Homogenizes Identity and Limits Personal Representation.
    In: Hz Journal. Nr. 19/2014. Nach Grosser beschränkt Facebook unnötig die Möglichkeiten der NutzerInnen, eigene Seiten einzurichten. So wäre es ohne Veränderungen der Software möglich, die Auswahl von drei statt nur zwei Geschlechtern anzubieten. Allerdings lassen sich Facebook-Einstellungen, welche die Eingabemöglichkeiten für Daten zur eigenen Identität beschränken, umgehen, um ein Drittes Geschlecht einzugeben.
    Außerdem standardisiert Facebook die Eingaben für Sprachen und lässt keine alternativen Schreibweisen zu. Ebenso werden Sprachen ignoriert, in denen auch größere Bevölkerungsgruppen kommunizieren.
    Grosser erkennt in diesen Vorgaben Welteinstellungen einer männlichen weißen Mittelschicht, die das Management von Facebook dominiert. Er rät, diese Einseitigkeiten für eine größere Varietät der Selbstbestimmung der NutzerInnen auch dann mit Rücksicht auf Kriterien von Gender und Race zu ändern, wenn dies die Anzeigenkunden in ihren Versuchen stört, von den gesammelten NutzerInnen-Daten auf Kundenverhalten schließen zu können.
    Wenn sich schwarze amerikanische Jugendliche mehrheitlich über MySpace verständigen, dann kann dies die Folge von Facebooks Nichtberücksichtigung größerer Bevölkerungsgruppen sein. Dies widerspricht der zentralen Position von Facebook als Kommunikationsplattform, in der auch Fragen von Gruppen übergreifendem Interesse debattiert werden, inklusive allgemeine Fragen des Umgangs mit Minderheiten.
    Grosser erkennt in Facebooks Nichtberücksichtigung eine Tendenz, die Identität von "Freunden" in diskriminierender Weise zu "homogenisieren". Dies widerspricht dem Anspruch der Toleranz, wie er in den jüngsten politischen Umwälzungen über soziale Netzwerke und auf den Straßen artikuliert wurde (Facebook hat Gender-Einstellungen im Februar 2014 für NutzerInnen der amerikanischen Variante und im September 2014 für NutzerInnen der deutschsprachigen Variante geändert; 4/2015).
  • Mansoux, Aymeric: Free Culture Licenses as Art Manifestos.
    In: Hz-Journal. Nr.19/2014. KünstlerInnen der Mail Art, darunter Ray Johnson, `signierten´ ihre Briefsendungen mit eingespiegeltem oder auf den Kopf gestelltem Copyright-Logo als "copyleft icon". Eine Übertragung der von Richard Stallman für urheberrechtsrelevante Open Source Software entwickelten GNU General Public Licence (GNU GPL) auf Kunstwerke stellt Probleme, die Mansoux an kollaborativen Internetwerken aufzeigt.
    Bonnie Mitchells "Chain Art Project" (1993) liefert ein Beispiel, an dem sich zeigen lässt, dass Veränderungen von Bilddateien, die verschiedene AutorInnen an Resultaten anderer AutorInnen in einem fortlaufenden Prozess vornehmen, mit einer Übertragung der GNU GPL auf Kunst Fragen aufwerfen, die nicht geklärt sind, da alle Beiträge ein "joint work" (Chon, Margaret: New Wine Bursting From Old Bottles. Collaborative Internet Art, Joint Works, and Enterpreneurship. In: Oregon Law Review. Nr.75/1996, S.257-276) bilden.
    Die erste für Kunstwerke geschriebene Copyleft Lizenz – die License Art Libre oder "Copyleft Attitude" – wurde 2000 publiziert. Autoren waren unter Anderen Bertrand Keller und Antoine Moreau. Sie ersetzten die mit der "GNU General Public License" vorgestellte Einheit von Manifest und Handlungsanleitung durch eine pragmatische Argumentation.
    Moderne Bewegungen mit dem Ziel einer sozialen Veränderung werden nach Mansoux von Werken einer "free art" abgelöst, die sich als "multidimensional, ambiguous object" unter aktuellen sozialen und juristischen Rahmenbedingungen zu behaupten versucht. Engagierte KünstlerInnen können in ihre Projekten einen oder mehrere dieser vier Aspekte – Bereitstellung von "toolkits for artists", "political statement", "legal and technical framework" oder "fashionable statement" – einbringen.
    Versuche, Open Source "under the overwhelming allencompassing umbrella of free culture" zu positionieren, erscheinen nach Mansoux heute als "mere prototypes of a globalist cultural cooperation mechanism". Letzteres sei "championed by the Creative Commons non-profit organization". Mansoux nimmt offenbar an, dass sich eine zugleich pragmatische und vielschichtige "free art", die einen oder mehrere der oben genannten vier Aspekte erfüllt, dem von ihm an Creative Commons gerichteten Vorwurf entgehen kann, so lange sie in Alternativen aufgesplittert bleibt (4/2015).
  • Garcia, David: From Tactical Media to the Neo-pragmatists of the Web.
    In: Aceti, Lanfranco/Jaschko, Susanne/Stallabrass, Julian (Hg.): Red Art. New Utopias in Data Capitalism. In: Leonardo Electronic Almanac, Vol.20/No.1, January 2014, S.124-135. David Garcia stellt die Entwicklung des Netzaktivismus von den neunziger Jahren bis heute vor. "Tactical Media" waren geprägt von dem Willen der Akteure und Aktricen, mittels Web eine "liberating power of expression in politics" (S.127) zu entfalten. Das Internet sollte in den neunziger Jahren mit den neuen Möglichkeiten zur Teilnahme auch ein neues "ideal of democracy" (S.127) auszudrücken erlauben.
    Nach Garcia nahm Michel de Certeau in "Die Kunst des Handelns" (Berlin 1988; i.O.m.d.T. L'invention du quotidien. Vol.1: Arts de faire, Paris 1980) in seinem Konzept des taktisch mit vorgegebenen Strategien (Berlin 1988, S.23) umgehenden "consumer" (Garcia, S.126, vgl. de Certeau, Berlin 1988, S.13) die Entwicklung der "overlapping practices" von "artists, hackers, political activists, independent media makers" (S.127) vorweg, aus denen Netzwerke von EntwicklerInnen und AnwenderInnen von Tactical Media wurden.
    Garcia sieht in dieser Entwicklung einen "Expressivism" sich entfalten, der von der "Romantic rebellion against the rationalist utilitarianism of the Enlightenment" vorweggenommen worden sei (S.127): Er sieht Parallelen in den Rollen von KünstlerInnen in der Romantik und in Tactical Media-Netzwerken, nicht ohne zu berücksichtigen, dass sich mit dem Internet die Handlungsfelder verändert haben (S.129).
    Um von den Tactical Media des Web 1.0 die Möglichkeiten, sich im Web 2.0 zu engagieren, unterscheiden zu können, greift Garcia auf Felix Stalders Unterscheidung zwischen dezentralisiertem "front-end" und zentralisiertem, in langdauernden und undurchsichtigen Planungen ausgeführtem "back-end" zurück (Stalder, Felix: Between Democracy and Spectacle: Front-End and the Back-End of Social Web, 2012). Garcia sieht eine Verschiebung des Netzaktivismus von Ersterem zu Letzterem: von Tactical Media zum Clicktivism, von der selbständigen und in Kollaborationen geplanten sozialen Intervention zu programmierten Plattformen wie MoveOn und Avaaz, die Funktionen bereit stellen und keine Spielräume für Taktiken mehr zulassen. Statt Kontroversen zu suchen, wird der Konsens mit Vielen bevorzugt.
    Garcia sieht sich in dieser Einschätzung durch folgende Äußerung von Ricken Patel, dem Leiter von Avaaz, bestätigt: "In order to bring about radical change in the world you don't need to be controversial." (Patel 2007) Bei Avaaz ersetzen Mitgliederumfragen Kontroversen und es ist leicht, zu einem der Mitglieder zu werden, die laufend zu Spenden aufgerufen werden. Les Liens Invisibles haben diesen "armchair activism" mittels "online petition service Repititionr" (2010) kritisiert: "Tweet for Action, Augment your Reaction." (S.133. Mittels des Service erzeugte "false signatures" sind auch ein Weg zum Erfolg).
    Garcia schlägt vor, in Fehlschlägen Möglichkeiten zur Erneuerung demokratischer Politik im Zeitalter der Netzwerke zu erkennen (1/2020).
  • Dekker, Annet: Assembling Traces, or the Conservation of Net Art.
    In: NECSUS. European Journal of Media Studies. Spring 2014. Dekker plädiert für eine nicht nur rückwärtsgewandte Konservierung von Netzkunst. Zum Einen ist bei Werken, deren Quellcode unter aktuellen Netzbedingungen (neue Browser für neue Betriebssysteme) nicht mehr funktioniert, zu fragen, ob der Code umgeschrieben werden kann. Zum Anderen sind Beiträge einzubeziehen, die NutzerInnen als TeilnehmerInnen am Werk ("input from visitors") wie als Aktricen oder Akteure im Umfeld eines Werkes erzeugen.
    Am Beispiel der seit 1996 von Martine Neddam betriebenen, ständig veränderten und erweiterten Website mouchette.org zeigt Dekker, was sie als Umfeld versteht: Als die Witwe des Regisseurs Robert Bresson jeden Bezug auf dessen Spielfilm «Mouchette» verhindern wollte, reagierten TeilnehmerInnen mit Spiegelsites (Anm.25). Diese Kopien konservierten einen bestimmten Entwicklungsstand der Site mouchette.org.
    Nach Dekker ergeben sich Kriterien für die Konservierung oder Rekonstruktion von Netzkunst aus den Möglichkeiten der TeilnehmerInnen einer Netzgemeinschaft, sich um die Archivierung von verschiedenen Zuständen einer Site zu kümmern, sowie aus der Weiterführung oder Wiederaufnahme von Teilnahmemöglichkeiten (der Interaktion mit und der Partizipation am Netzprojekt). Das Umfeld kann durch Netzaktivitäten der TeilnehmerInnen (Blogs, Websites etc.) gepflegt werden: "Such a process does not exclude conservation but incorporates future thinking in its practice while guarding or making documentation as traces of a past..." (4/2015).
  • Moss, Cecilia Laurel: Expanded Internet Art and the Informational Milieu.
    Thesis, Department of Comparative Literature, New York University, New York 2015. Modifizierte Druckfassung: Expanded Internet Art. Twenty-First-Century Artistic Practice and the Informational Milieu. London/Oxford/New York/New Delhi/Sydney 2019. In ihrer Dissertation erweitert Ceci Moss die in ihrem gleichnamigen Aufsatz von 2013 (s.o.) vorgestellte These der künstlerischen Arbeit aus, mit und in einem vom Internet geschaffenen "informational milieu". Während Tiziana Terranova in Network Culture (2004) den Beitrag der Kybernetik zum "informational milieu" erklärt (S.9,20ff.) und den Begriff Information im Rückgriff auf Gilbert Simondon weiter als die kybernetische Reduktion auf physikalische Prozesse fasst, versteht Moss Simondons Kritik an der mathematisch ausgerichteten Kybernetik (S.57f.) als Paradigmenwechsel zu einem Milieubegriff, der Prozesse zwischen Technik und Mensch als wechselseitige vorstellt: Mensch und Technik entwickeln sich in Milieus als untrennbare Einheiten. Auch wenn Moss ebenfalls in den fünziger Jahren geschriebene Beiträge von Georges Canguilhelm und Raymond Ruyer in ihre Vorstellung der Untrennbarkeit von Mensch und Technik in Kulturen integriert, so gewinnt sie doch aus Simondons Umfeld keine entscheidenden Erkenntnisse für "Expanded Internet Art".
    Aus Jean-François Lyotards Konzeption der Ausstellung «Les Immatériaux» 1985 im Pariser Centre Pompidou (S.94-111) und seinen 1985/86 entstandenen Texte und Vorträge versucht Moss sowohl eine Bestimmung der Entwicklung der Zusammenhänge zwischen Mensch und Technik als auch eine Klärung der Funktion der Kunst im von Menschen geschaffenen technischen Umfeld zu gewinnen.
    Die BesucherInnen konnten keiner Leitlinie durch «Les Immatériaux» folgen, sondern mussten Wege zwischen den Stationen wählen. Die Ratlosigkeit der BesucherInnen auf der Suche nach dem Ziel der Ausstellung vergleicht Moss mit der Situation im "informational milieu". Sie konstatiert ein "continual unfolding" als Charakteristikum einer "expanded internet art", die "has co-developed with the internet." (S.45).
    Alternativen zu der von Lyotard geforderten "anamnesic resistance" (S.127f.) versucht Moss mittels der "media tourists writing in the 2000's" (S.52) Terranova, Mark B.N. Hansen und Bernard Stiegler zu finden, um das zeitgenössische "informational milieu" als vom "Posthumanen" (S.128,149,151-155) geprägt bestimmen zu können. Hansens Erläuterungen folgend will Moss ein Milieu erkennen, das Subjekte durch Reaktionen auf ihre Umgebung (S.155 mit Anm.35) bilden.
    Sie will so eine Relation von Subjekt und Umgebung jenseits von Lyotards Bestimmung der "resistance" gegen das "Inhumane" (S.116f.,149f.) erkennen (S.79-89). Leider gelingt es ihr weder im Theoretischen noch in der Analyse von Kunstwerken von Kari Altman, Harm van Dorpel, The Jogging (Brad Troemel & Lauren Christensen), Oliver Laric, Katja Novitskova, Hannah Sawtell, Katie Steciw und Timor Si-Qin eine über Lyotards Ansatz hinaus weisende posthumane Konstellation zwischen Kunst Schaffenden und Milieu zu bestimmen.
    Im Gegensatz zu Moss' Einschätzung des künstlerischen Subjekts im Posthumanen folgt nach Michael Sanchez (in "2011: On Art and Transmission", 2013, s.o.) daraus, wie sich KünstlerInnen widerstandslos in der zeitgenössischen Bilderflut bewegen, dass diese Werke keine Urheberschaft im hergebrachten Sinn mehr beanspruchen können: Die an die beschleunigte Datenflut angepasste Reaktionszeit verhindert eine künstlerische Bearbeitung, die auf ein bearbeitendes Subjekt schließen ließe (1/2020).
  • Quaranta, Domenico: Situating Post Internet.
    In: Catricalà, Valentino (Hg.): Media Art. Toward a New Definition of Art in the Age of Technology. Rom 2015, S.121-134. 2013 wurde Post-Internet Art zum viel diskutierten Begriff im Kunstbetrieb (Kunsthandel, Museen etc.), von dem sich die Netzkunst unabhängig machte. Brian Droitcour stellte 2014 in Perils of Post-Internet Art den Begriff als Teil einer Vermarktungsstrategie vor, auf als Ausstellungsobjekte durchschnittliche Werke das Interesse durch einen "internet layer" zu lenken (S.122). Quaranta dagegen plädiert dafür, Post-Internet Art als Erweiterung von Strategien zu verstehen, im Web zirkulierende Bilder und Texte zu thematisieren: Post-Internet Art soll vor dem Hintergrund von "group surfing practices" kritisiert werden, die im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts entstanden (S.123).
    Gene Mc Hugh thematisierte von Dezember 2009 bis September 2010 in einem Blog das Web als Distributions- und Navigationsmedium – "a distribution platform, a machine for altering and re-channeling work" (Mc Hugh, Gene: Post Internet. Brescia 2011, S.6) – mit dem sich zeitgenössische Kunst auseinandersetzen sollte. Neben Gene McHugh thematisierten 2010-2011 auch Artie Vierkant (s.o.), Louis Doulas und Katja Novitskaja die künstlerische Relevanz der den Alltag durchdringenden und vom Web bestimmten Datenzirkulation: "...they all pointed to the internet as a cultural reference and an environment, rather than a medium." (S.125) Das Web wird als Quelle für Referenzpunkte für Werke in verschiedenen Medien statt als Auseinandersetzung mit Webness (medienspezifische Kritierien des Web) betrachtet.
    James Bridle's Beobachtungen einer von digitaler Technik geprägten "New Aesthetic" in Alltag, Design und Kunst, "surfing clubs" (S.126ff.) und KünstlerInnen wie Kevin Brewersdorf, Mark Leckey, Guthrie Lonergan, Metahaven, Seth Price und F.A.T. Lab mit Evan Roth, Aram Bartholl, Addie Wagenknecht, Lolan Levin u.a. (S.126-131) liefern Quaranta Anhaltspunkte für eine Auseinandersetzung mit webbedingten Alltags- und Medienphänomenen, die neben der Vermarktung von Werken einer Gruppe von KünstlerInnen unter dem Label "Post-Internet Art" existiert. Quaranta hält der Handelsware der Post-Internet Art KünstlerInnen entgegen, die ihre Werke innerhalb der mit dem Web veränderten Medienlandschaft und der von ihr geprägten Kontexte lokalisieren: Die Werke sind Prozesse, in denen analoge und digitale Medien in einer zugleich den heutigen Mediengebrauch nahen wie von ihm unterscheidbaren Weise kombiniert werden.
    Diese Selbstlokalisierung in einem "Cultural Loop" haben Natalie Bookchin und Alexei Shulgin bereits 1999 in Introduction to net.art (1994-1999) thematisiert (S.130). Yoko Ono antizipierte in "Painting to exist only when it's copied or photographed" (1964) mit dem Prozess der Zerstörung von Originalen und ihrer Ersetzung durch Kopien auch einen Angriff auf "artworks-as-commodities" (S.132). Eine Fortsetzung dieses "process of (subversive) affirmation" (S.131) sieht Quaranta in Joshua Citarellas Compression Artifacts (2013) und Oliver Larics Lincoln 3D Scans (2013). Beide integrieren Telekommunikation, digitale Medien und Objekte in Prozesse des Kunstbetriebs aufgreifende Strategien (S.132ff.). Wie weit diese Beispiele die Kontext Kunst der neunziger Jahre mit erweiterten medialen Möglichkeiten wiederbeleben, thematisiert Quaranta nicht. Die Relation von Konzept und Kontext wird hier in einer Weise wieder relevant, deren kunstbetriebszentrierte Weise Netzkunst überwand. Die beiden Ebenen Erstens über Kunst hinaus reichende Medienreflexion und Zweitens ihre Einbettung in den Kontext Kunst sind bereits in Kontext Kunst mit Brechungen dieses Kontextes verbunden worden, meist ohne ihn zu überschreiten. Indem sie an diese Strategien anschliessen, sind Quarantas Beispiele von Citarella und Laric Kontext Kunst unter Bedingungen des Web (2/2020).
  • Ivanova, Victoria: Art's Values: A Détente, a Grand Plié.
    In: Parse Journal, Issue 2, Autumn 2015. Nach Ivanova lässt sich der Begriff "Wert" ("value") in drei Bedeutungsfelder gliedern: "ethical, functional and economic" (S.92). "Ethisch" sind über Moral hinaus weisende "the referent's non-instrumental qualities" (S.92), während "functional" auch "Gebrauchswerte" ("use-value") außerhalb von wirtschaftlichen Werten einschließt. Ivanova stellt das Zusammenspiel dieser Wertbegriffe in Brechungen von Konzeptueller Kunst bis Post-Internet Art vor. In ihrer Rekonstruktion dieser Brechungen spielen folgende Postulate eine entscheidende Rolle, da sie bestimmen, was Kunst sein soll: 1.) Kunst soll nicht die Wirklichkeit durch Diskurse über gesellschaftliche Werte aus den Augen verlieren, sondern diese beeinflussen. 2.) Sie soll Wirtschaftswerte nicht unkritisch wiedergeben. Ersteres ist für Ivanova ein Problem der Kunst der sechziger und siebziger Jahre, Letzteres ein Problem von Post-Internet Art.
    Während Letztere (2.) Werte in ihr Konzept so integiert, dass Strategien des "Branding" zu wirtschaftlichen Erfolgen der KünstlerInnen führen, beachtet Erstere (1.) mit ihrer Wertdiskussion zu wenig Handlungsfelder für Interventionen. Um die Möglichkeiten auszuloten, beide Seiten zusammen zu führen, stellt Ivanova die Möglichkeiten eines "right" und "left accelerationism" (S.103) vor, der versucht, die verwendeten Kommunikationsmedien trotz ihrer "capitalization" (S.103) mittels eigener Präsentationsweisen und in sie integierter Artikulationen von "Werten" zu verändern: "Changes to systemic conditions need not be immediately tangible or game-changing, but the impetus needs to be discernible if art's value is to have integrity that isn't just a matter of formal integration of its component parts." (S.104).
    Strategien, die "capitalization" direkt kritisieren, sind nach Ivanova deshalb keine Option, weil auf diese Weise ihr Diktum einer Integrität, die durch die Integration der Werte in eigene Praktiken zu erlangen sei, durch einen erfolgsorienterten Mitteleinsatz ersetzt wird. Die alte Diskussion, ob Aktivismus (bzw. Intervention) oder politisch wirksame autonome Kunst vorzuziehen sei, wird von Ivanova mit ihrem Plädoyer für Letztere erneuert. Statt durch eine Diskussion von Strategien in und für eine durch Social Media veränderte Medienlandschaft Perspektiven zu gewinnen, argumentiert Ivanova mit Begriffen wie "Ontologie" und "Wert", die sie nicht definiert, sowie mit fragwürdigen Rekonstruktionen eines "conceptual/post-structuralist turn" (S.94) (1/2020).
  • Lotti, Laura: Contemporary Art, Capitalization and the Blockchain: On the Autonomy and Automation of Art's Value.
    In: Finance and Society, Vol.2/No.2, 2016, S.96-110. Lotti skizziert die enge Verzahnung zwischen zeitgenössischer Kunst und Kapital: Den digitalen Organisationsweisen des Finanzwesens korrespondieren neue Distributionsweisen der Kunst, die künstlerische Strategien der sozialen Intervention an die Peripherie des Kunstbetriebs drängen (S.100). Die Plattformen ArtRank und Artsy (und das Art Genome Project) dienen Lotti als Belege für die Durchdringung von digitalen Organisationsformen des Kapitals und des Kunstbetriebs. Die Automatisierung der Bewertung von KünstlerInnen und Werken ist eine der Folgen: "...the 'value' of contemporary art becomes subsumed into pricing mechanisms and loses any ontological primacy."
    In dieser Situation erscheinen Blockchain und Bitcoin KünstlerInnen Wege aus finanziellen Abhängigkeiten zu bieten, da hier Geld nicht materiell verfügbar ist und sich sein Wert nur aus den "dynamics of the network" (S.102) ergibt. Einerseits versucht das Bankensystem Blockchain zu integrieren, andererseits gibt es Erwartungen, für "online commons" neue Anwendungen zu finden.
    Wie Blockchain in aktuelle Kunstprojekte integriert wird, untersucht Lotti an den Beispielen Monegraph und Plantoid. Ersteres bietet KünstlerInnen die Möglichkeit, digitale Werke mit einem "authorship layer" zu versehen, durch den die Wege des Werkes verfolgbar werden und Gebühren abgerechnet werden können (S.102f.), ohne auf Galerien angewiesen zu sein. Tatsächlich werden alte Abhängigkeiten durch neue – jetzt von "an algorithmic third party" (S.103) – ersetzt.
    In Plantoid des französischen Kollektivs OKhaos wird ein Roboter von freiwilligen Beiträgen via "smart contracts" in Ethereum bezahlt, mit denen weitere Roboter finanziert und dann entwickelt und ausgeführt werden. Lotti sieht die Ausführenden in der Funktion von "'Mechanical Turks'" (S.104).
    Die Projekte "Plantoid" und "Monegraph" spiegeln nach Lotti "the dynamics of contemporary markets" und tragen zur "'commodification of everything'" bei (S.105) (1/2020).
  • Peraica, Ana: Culture of the Selfie: Self-Representation in Contemporary Visual Culture.
    Theory of Demand Nr. 24. Institute of Network Cultures, Amsterdam 2017. Peraica skizziert die Möglichkeiten der Selfies über Vorgeschichten: die Geschichte des Selbstporträts sowie der Darstellungen im Spiegel in den Medien Malerei und Fotografie.
    Die Möglichkeiten der Malerei, mittels Spiegel Personen im Bildraum sichtbar werden zu lassen, liefern Peraica Anlässe, die Integration des Beobachters/der Beobachterin in den Bildraum zu thematisieren.
    Der Debatte des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts über das Medium Fotografie als Spur des Vergangenen und damit als Memento Mori (S.72) stellt Peraica die zeitgenössische Inszenierung von Toten – häufig mit offenen Augen – mit Familienangehörigen (Post-Mortem Photographie) gegenüber: Die heute übliche Rücksicht auf die Toten musste erst etabliert werden.
    Einerseits wird in Selfies über Selbstdarstellungen im Spiegel (S.66,92, Image 9,18) die in der Geschichte der Malerei entwickelte Integration des Wahrnehmenden in einen seinen Standort eingrenzenden Bildraum wieder aufgenommen und Tote werden teilweise respektlos gezeigt, als solle die analoge Post-Mortem Photographie wiederbelebt werden (S.77, Image 11f.). Andererseits verändern die Distributionsbedingungen, die Social Media für Fotografie schaffen, den Status der Bildproduzentin/des Bildproduzenten und die Möglichkeiten der Bildrezeption. Die/der Fotografierende verliert den Schöpferstatus und der private Kontext von Familienalben, der für die Post-Mortem Fotografie wichtig war, wird durch die Öffentlichkeit des Web 2.0 ersetzt.
    Die drei "spaces" der/des Bildschaffenden, der/des Dargestellten und der Rezipientin/des Rezipienten verschränken sich als Folge dieser Veränderungen neu. Die "Selfie Olympics", die sich mit Hashtag in Twitter (#selfieolympics) abrufen lassen, sind ein Wettbewerb, der 2014 (zum zweiten Mal 2018) zum Fotografieren von Selbstporträts mit Spiegel im Bad aufrief. Peraica nutzt die Beiträge zu diesem Wettbewerb, in denen sich die Teilnehmer in ungewöhnlichen Posen zwischen Spiegeln und anderen Teilen des Bads fotografierten, um aufzuzeigen, wie das objektivierende Spiegelbild im Selfie subjektiviert wird, um wiederum durch die Reaktionen der Twitter-TeilnehmerInnen objektiviert zu werden: Dieser "subject-object loop" (S.99. Vgl. S.50f.) hat Parallelen in der zeitgenössischen Kunstfotografie, in der die Kunstgeschichte der Malerei aufgegriffen wird: Die Spiegel in Gemälden von Jan Van Eyck (S.35, Image 6), Parmigianino (S.40, Graph 3), Diego Velazquez (S.39, Graph 2) und René Magritte (S.98, Graph 9) greifen Miguel Angel Ganeca und Joan Fotcuberta (S.94 mit Image 19, S.100 mit Image 20) in (auf der Ebene der Technik digitaler Fotografie) konstruierten Bildräumen auf, während in Selfies sich FotografInnen im abgebildeten Raum und damit im Moment der Bildentstehung präsentieren, und die Resultate sich dann über Social Media ohne Kontrolle der/des Urheberin/Urhebers verbreiten: "...selfies are unstable...ephemeral and non-important." (S.88f.)
    Malerei ist nach Peraica das Medium für "the portrait of self", in dem es der/dem KünstlerIn um "internal reflection" gehe, während Fotografie das Medium des "self-portrait" sei, in dem die "time-gap between recording and posing, as well as between shutting and developing the film" (S.100) von UrheberInnen zur beobachtergerechten Umsetzung einer Intention genutzt wird. In Selfies dagegen finde "a willing destruction of privacy" statt, "that subverts the endless public display of the self" (S.105, Henry A. Giroux zitierend).
    Peraica bezieht sich in ihrer Geschichte des Selbstporträts bis zum "Selfie" auf Michel Foucaults Vorträge über "The Culture of the Self" 1983 an der University of Berkeley, die auch die Anregung zum Titel lieferten (S.56). Um ihre Rekonstruktion der Dispositiva, die die Kulturen des Selbst konstituieren, mit der Geschichte der Medien Malerei, Fotografie und Selfie kreuzen zu können, stellt Peraica die Mythen Narziß und Perseus in Interpretationen von Psychologen und die Rolle der Fototherapie in der psychologischen Praxis vor (S.62f.,81). Michel Foucault, Sigmund Freud, Erich Fromm, Julia Kristeva, Christopher Lasch und Marshall McLuhan (S.45f.,52) liefern Peraica Bausteine zur Rekonstruktion des psychologischen Diskurses.
    Mit diesen und anderen akademischen Referenzen gelingt Peraica eine beeindruckende Kulturgeschichte der Selbstdarstellung in den genannten Medien. Auffallend ist allerdings an Peraicas Geschichte die Absenz der touristischen Fotografie mittels analoger Kamera, die Pierre Bourdieu in «Un art moyen. Essais sur les usages sociaux de la photographie» (Paris 1965) vorstellte, und die ihre Fortsetzung im zeitgenössischen Selfie erfährt. Der Wandel der Selbstdarstellung vor einem Reisemotiv (Bourdieu, Pierre u.a. (Hg.): Eine illegitime Kunst. Frankfurt am Main 1983, S.48f.) ist ein Teil einer "Culture of the Self[ie]" (1/2020).
  • Lotti, Laura: Financialization as a Medium: Speculative Notes on Post-Blockchain Art.
    In: Gloerich, Inte/Vries, Patricia de/Lovink, Geert (Hg.): MoneyLab Reader 2: Overcoming the Hype. Institute of Network Cultures, Amsterdam 2018, S.87-100. In der "Financialization", durch die aus Kunst Handelsware wird, treten Spannungen bei der Bestimmung von Preisen auf, da sich kulturelle und ästhetische Werte einer Quantifizierung auf der Basis von Standards widersetzen. Kunst erscheint in einer digitalisiert vermittelten Kultur in einer Weise sozial und ökonomisch bewertet, die nach Lotti Vergleiche mit Derivaten der Finanzmärkte provoziert.
    Eine Kunst, die mit Blockchain sich eines digitalen Systems bedient, das eine Unabhängigkeit von Institutionen des Finanzsystems zulässt, und für dieses System neue Anwendungsweisen vorschlägt, erscheint Lotti zwei Jahre nach Ihrem kritischen Beitrag über "Contemporary art, capitalization and the blockchain" (2016, s.o.) plausibel: Durch Appropriierung und Reprogrammierung der "current logic of financial derivatives" (S.96) liessen sich "new horizons for the creation of autonomous milieus" (S.97) gewinnen.
    Die Affirmation bestehender kultureller, technischer und ökonomischer Bedingungen in Post-Internet Art könne eine Post-Blockchain Art überwinden, die "the art of money making" (S.98) durch die Programmierung von "cryptographic tokens" (s. Lotti, Laura: Cryptoeconomics And/As Practice (2018), s.u.) in "the art of making offers" (S.98) wendet.
    Die Projekte BitchCoin (2015) und terra0 (2016) dienen Lotti als Beispiele für neue Anwendungen von Blockchain, die sich "toward the creation...of many possible, interoperating art worlds" (S.99) entwickeln können.
    Bei "BitchCoin" werden Teile fotografischer Drucke von Sarah Meyohas in einem System vertrieben, das die Werte laufend neu generiert. Diese "'liquid commodity'" löst nach Lotti das etablierte "art object as a store of value" ab. Wie diese "liquid commodity" mit Blockchain über Bedingungen des Warenhandels hinausführen soll, dieses Ziel ist nach Lotti durch Überwindung der Grenzen aktueller Blockchains erreichbar. Sie erkennt Grenzen "in terms of scalability (due to low consensus speed and high entrance costs, so that only big investors can enter the space)" (S.98f.): Die Möglichkeiten zur Programmierung von "smart contracts", wie sie Ethereum bietet, müssen also erweitert werden (1/2020).
  • Manovich, Lev: 100 Billion Data Rows per Second. Media Analytics in the Early 21st Century.
    In: International Journal of Communication, Nr.12/2018, S.473-488. Manovich beschreibt einmal mehr die Veränderungen des Internet durch wachsende Datenspeicherung und Fähigkeiten von Plattform-ProgrammiererInnen, auf UserInnenverhalten zu reagieren. Er plädiert für "computational media studies", um die Auswirkungen unter Anderem von Empfehlungen in Social Media und Sites für Internethandel untersuchen zu können: Führen sie zur Verstärkung der Aufmerksamkeit auf einige wenige Angebote oder zur Erweiterung der Interessen und Einkäufe?
    Während Theodor Wiesengrund Adorno und Max Horkheimer 1944 in "Dialektik der Aufklärung" eine Entwicklung in der Medienlandschaft der vierziger Jahre zur Entdiversifikation erkannten und Manovich dies mit Resultaten der Forschung über die Spielfilmproduktion der Hollywoodstudios belegt, sind für die Gegenwart Untersuchungen von "large volumes of media content" noch nicht die Norm der Medienwissenschaften (S.483).
    Untersuchungen von Bildplattformen wie Instagram und Flickr lassen für die auf Präferenzen der UserInnen reagierenden Filter nur geringe Differenzen in verschiedenen Regionen erkennen. Manovich erwähnt eine Studie, nach der die Ambitionen, die Flickr-UserInnen bei der fotografischen Bildgestaltung erkennen lassen, und die Clickrates, die Flickr erzeugt, keine Zusammenhänge aufweisen. Ambitionierten Fotografen gelingt es nur dann, Aufmerksamkeit für ihre Fotos zu wecken, wenn sie zugleich viel über Social Media kommunizieren.
    Plausibel erscheint deshalb der Vorschlag, ein Empfehlungssystem zu installieren, dass die Aufmerksamkeit auf die am wenigsten besuchten Bilder und deren Eigenschaften lenkt (S.484; Schifanella, Redi & Aiello): Soll mit diesem via algorithmischer Selektion provozierten Verfahren eine fotografische Bildgestaltung in Plattformen, in denen Beispiele für ihre Anwendung unbeachtet blieben, RezipientInnen finden?
    Anders als in den vierziger Jahren ist die "Kulturindustrie" heute nicht mehr bildschaffend, sondern "is focusing on organizing, presenting, and recommending content created by others" (S.484). Neben Filmstars etablieren sich unter den so geschaffenen Bedingungen "social-media mini-celebrities" (S.485). Mit "computational methods" soll die "variability of this content" (S.485) erkennbar werden (1/2020).
  • Marres, Noortje: Why We Can't Have Our Facts Back.
    In: Engaging Science, Technology, and Society, Nr.4/2018, S.423-443. Für BesucherInnen, die Social Media-Angebote mit Fake News besuchen, gibt es nur sehr wenig Angebote, die den Wahrheitsgehalt von Informationen zu hinterfragen erleichtern. Die Polarisierung in an "knowledge" interessierten und "anti-knowledge" (S.432) bevorzugenden Gruppen ("politics of demarcation", S.431) wird nach Marres durch "fact checking services" (S.431) nur verstärkt. Die ProduzentInnen dieser Tools nehmen eine Evidenz beweisfähiger Tatsachen an, die eine statische Informationslandschaft voraussetzt, in der Maßstäbe für Evidenz durchgesetzt sind (S.428).
    Wie kann eine "knowledge democracy" in "dynamic information environments" (S.434) praktiziert werden?
    Die Dynamik in "information environments" wird von Algorithmen gestützt, um in Social Media Aufmerksamkeit zu wecken. Mit der so geschaffenen "truth-less public sphere" (S.435) wird eine "dissolution of the modern fact" (Sergio Sismondo, S.434) betrieben.
    Dynamische Informationslandschaften erfordern nach Morres "to test public media for 'experimental facts'" (S.438). Der einseitigen Entwicklung zu immer breiterem Publikum für Fake News und Gegenentwicklungen, durch welche die Trennung zwischen "knowledge" und "anti-knowledge" verschärft wird ("demarcationism", S.437,440), soll durch "formulation and re-formulation of new empirical truths" via "different actors" und "new alliances" (S.440) entgegen gewirkt werden: "...epistemic authority will also have to be earned the hard way, through an exchange between epistemically diverse viewpoints." (S.441) Auf diesem Weg soll der Wechsel von der "politics of demarcation to a politics of selection" gelingen, die "progressively establishes a referent for claims through an iterative process of locating and evaluating statement-networks in formation." (S.441, Anm.28) Bevor über eine wieder erlangte "epistemic authority" nicht die "knowledge democracy" wieder hergestellt sei, "to want your facts back will amount to empty nostalgia." (S.441) (1/2020).
  • Tifentale, Alise/Manovich, Lev: Competitive Photography and the Presentation of the Self.
    In: Eckel, Julia/Ruchatz, Jens/Wirth, Sabine (Hg.): Exploring the Selfie: Historical, Analytical, and Theoretical Approaches to Digital Self-Photography. Basingstoke 2018, S.167-187. Tifentale plädiert im ersten von ihr (bis S.15) geschriebenen Teil für eine Kenntnis der Fototechnik als Teil der "general literacy", der Allgemeinbildung der "global majority" (Nicholas Mirzoeff). Gegen Untersuchungen, welche die Fotopraxis mit Smartphones erforschen, als gäbe es keine Kontinuitäten von analoger zu digitaler Fotografie, wendet sich Tifentale mittels Zitaten von Werner Gräff und Franz Roh, die 1929 auf die Zusammenhänge zwischen erwerbbaren und billiger werdenden tragbaren Kameras, vorausgesetzter technischer Kenntnis und Anwendungsmöglichkeiten verwiesen (S.4).
    Die entscheidende Trennung der Fotopraxis verläuft nach Tifentale nicht zwischen AmateurIn und BerufsfotografIn, sondern zwischen "competitive photography" (S.5 mit Anm.12) mit im Vergleich zu anderen FotografInnen erkennbaren stilistischen Charakteristika einer Fotografin/eines Fotografen und "non-competitive photography" (S.9). Die Motive Letzterer – wie zum Beispiel Familientreffen – sind für den engeren Freundeskreis relevant, während nicht-avantgardistische "competitive photography" "likeability" steigert, indem sie Kriterien eines Kanons folgt, wie er sich in Anleitungen zur Fotopraxis ausgebildet hat, und diese Kriterien mit stilistischer Kohärenz und Erkennbarkeit zu erfüllen hofft (S.11ff.). Hier gibt es Kontinuitäten von Anleitungen zum Fotografieren von 1954 – zitiert werden Henri Cartier-Bresson, Willy Ronis und Heinrich Freytag (S.12f.) – zur Fotopraxis für die Verbreitung über Social Media. Auf Instagram gibt es nach Lev Manovich einen "80/20 split between non-competitive and competitive photography" (S.18).
    Manovich konzentriert sich auf Selfies, die zwischen Dezember 2013 und September 2015 ca. ein Zehntel der Fotobeiträge auf Instagram umfassten (S.19f.). Im Unterschied zu gemalten Selbstporträts, die die Dargestellte/den Dargestellten häufig isoliert zeigen, ist nach Manovich bei Selfies die Relation zwischen Dargestelltem und Umgebung entscheidend: Ein wichtiger Teil der Bildbotschaft ergibt sich daraus, wo ("situation selfies", S.19) und mit wem ("group selfies", S.20) sich die/der Dargestellte fotografieren ließ.
    In "anti-selfies" (S.19) wird die Selbstdarstellung zur Nebensache: Statt des Gesichts sind nur noch Körperteile – häufig Hände – zu sehen (S.22 mit Fig.4): "...they [die Fotos] and the author's life are supposed to be the same in terms of values, interests and aesthetics." (S.23)
    In "visual narratives" auf Instagram können Fotosequenzen einen "viewpoint character" (S.23) bilden, der charakteristische Eigenheiten aufweist, mit denen AutorInnen ihre Bildstrecke von anderen unterscheidbar machen. Für Tifentale sind diese Kriterien vor allem die formalen der "competitive photography" ("an aesthetic statement", S.10). Berühmtheiten dagegen müssen in ihren Bildbeiträgen keine guten Fotografen sein und sind dennoch "competitive" im Sinne von "likeability" (S.10).
    Beiträge, die eher "emotionalen" als ästhetischen Kriterien folgen und "likeability" nicht berücksichtigen, sind nach Manovich "non-competitive": "These authors ...use Instagram for documentation and communication with people they know." (S.17 mit Fig.3). Die Frage bleibt, ob das Unterscheidungskriterium formal und emotional für die Differenzierung von Selfies tragfähig ist (1/2020).
  • Lotti, Laura: Cryptoeconomics And/As Artistic Practice: Sketches for New Design Imaginaries.
    In: Schloss-Post, Issue No. 0, October 2018. Blockchain ist ein Peer-to-Peer-System, das dezentralisierte "autonome Systeme" ermöglicht, da Transaktionen unveränderbar auf verschiedenen Rechnern gespeichert sind. Auf Blockchain basieren Bitcoin und Ethereum. Im Unterschied zu Bitcoin werden mit Ethereum "smart contracts" möglich, die Programme enthalten, durch die Anweisungen jeder Art ausführbar sind. Als "Tokenisierung" ("Tokenization") werden "smart contract tokens" bezeichnet, durch die Zugänge unter Anderem zu "gold, computing power, artworks or more generally, an alluring proposition for a decentralized ecosystem" möglich werden.
    Nach Lotti lässt sich durch Tokenisierung "with a unique ID" eine digitale Parallele zum Unikat als Kunstwerk schaffen. Im Unterschied zum Kunsthandel und zum Finanzsystem erfolgt dies dezentral und ohne institutionelle Bindung.
    Systeme wie Maecenas verwenden für "the tokenization of physical art objects...the rent model characteristic of financial capitalism and current internet platforms." Lotti verweist auf die Parallelen zu Finanzsystemen und Kunstbetrieb: Einerseits erscheinen Blockchain-Systeme im Kunstbetrieb wie die Konsequenz aus der aktuellen Phase der "financialization of art", andererseits ermöglicht die Tokenisierung via "cryptography" Alternativen zur "financialization", wie sie nicht nur in der Kunst forciert wird ("financialization in general"). Diese Alternativen vergleicht Lotti wiederum mit Derivaten im Finanzsystem: Was dort durch fehlende Regulierung zum Problem werden kann, kann mittels Tokenisierung in Blockchain auch Alternativen zur "financialization" eröffnen: "...through the engagement with new interactive protocols, based on tokens as conduits to the experience of a decentralized ecosystem."
    Als Beispiele für den gegenwärtigen Stand von Blockchain Art, die Ausblicke auf deren Möglichkeiten erlauben, erwähnt Lotti terra0 und 0xOmega. Charakteristisch für diese Beispiele ist die Interaktion durch "economic incentives", um einen "common will to project" (Hui, Yuk/Halpin, Harry: Collective Individuation 2013) entstehen zu lassen.
    Im Vergleich zu ihrem Beitrag über "Contemporary art, capitalization and the blockchain" (2016, s.o.) verschiebt Lotti in "Cryptoeconomics And/As Artistic Practice" den Schwerpunkt ihrer Analyse von einer generell kritischen Sicht der Kombination Blockchain und Kunst, die der "commodification of everything" nicht entgeht, zu "affordances", die KünstlerInnen im "design of cryptosystems" berücksichtigen sollten (1/2020).
  • Kelkar, Shreeharsh: Post-Truth and the Search for Objectivity: Political Polarization and the Remaking of Knowledge Production.
    In: Engaging Science, Technology, and Society, Nr.5, 2019, S.86-106. Zur Untersuchung der medialen Konstellationen, die in USA zu dem Phänomen "post-truth" geführt haben, verknüpft Kelkar zwei Forschungsansätze – die "institutional political science" und "science, technology and sociology" (STS) –, indem er die Untersuchungen der Geschichte der "political polarization" Ersterer mit den "analyses of 'objectivity' in science and public life" Letzterer verbindet (S.86,90). Erstere verfolgt den Aufbau einer konservativen Gegenöffentlichkeit zu akademischen, faktenorientierten Diskursen, während Letztere einer Reduktion der "knowledge democracy" auf Evidenz durch Beweise widerspricht und die institutionellen Voraussetzungen dieser "knowledge democracy" untersucht.
    Für die STS-Forscherin Noortje Marres (in "Why We Can't Have Our Facts Back", s.o.) führen Versuche, "political polarization" durch "fact checking" aufzuheben, zu einer Verstärkung der "demarcation" (S.99) zwischen den Publika, die an faktenorientiertem Wissen interessiert sind, und den Publika einer konservativen Gegenöffentlichkeit. Nach Steve Hoffman ("The Responsibilities and Obligations of STS in a Moment of Post-Truth Demagoguery") sind die Bedingungen von "post-truth" vielfältiger als dies Marres erkennt: Die historischen Ursachen der "demarcation" liegen vor den Social Media. Letztere aber haben das "alternative fact-making universe" (S.99) gefördert.
    Während nach Marres die "demarcation" zwischen faktenoriertem Diskurs und "mystification and propaganda" verläuft, erkennt Hoffman zwei sich voneinander unabhängige Ideologien. Nach Kelkar ist aber Marres' "true/false demarcation" so weit zuzustimmen, als Bemühungen der "social media giants", durch "journalistic fact-checkers" (S.99) Lügen zu entlarven und als solche zu kennzeichnen, einen Weg zu einer Wiederinstandsetzung der "knowledge democracy" unter Bedingungen des "post-truth" weisen. Während Marres in "fact-checking" nur eine Verschärfung der "demarcation" sieht, und der Weg zu einer Lösung nur über die Diskussion führt, soll nach Kelkar die Ausgrenzung der Erzeuger von Fake News institutionell verankert werden: "A new knowledge-producing `center´ of researchers, journalists, and platforms" soll in der Lage sein, Institutionen zu begegnen, die "white nationalism, conspiracy theories, and hate speech" (S.101) verbreiten. Entscheidend für ein solches Center und die Bildung von "new civic epistemologies" (S.102) sind die Exklusionskriterien, welche Institutionen in den Kreis der akzeptierten ForscherInnen aufgenommen und welche explizit ausgeschlossen werden sollen. Als Beispiel, wie durch solche Ausschlüsse den Fake News verbreitenden Plattformen die Öffentlichkeit entzogen werden kann, weist Kelkar auf die Exklusion des Portals Infowars von den Social Media Facebook, YouTube und Twitter (S.101f.).
    Dem konservativen Machtdispositiv soll also ein Machtdispositiv antworten, das stark genug ist, um eine "knowledge democracy" zu reinstallieren, die ihre Legitimität aus dem Unterschied zwischen "fact-checkers" und Fake News bezieht, diesen Unterschied aber nicht ohne institutionelle Prozesse behaupten kann, die Exklusionen durchzusetzen in der Lage sind. Werden hier nicht Demarkationslinien wieder gesetzt, die seit den Revolten der sechziger Jahren abgebaut werden sollten? Haben wir nur die Wahl zwischen einer die Meinungsfreiheit beschränkenden und einer sie aufhebenden Politik? Mit Marres bleibt offenbar die Wahl einer offenen Diskussion divergierender Auffassung als einziger Weg politischer Öffentlichkeit (1/2020).
  • Calovizza, Giovanni/Finucane, Blake/Franceschet, Massimo/Smith, T’ai u.a.: Crypto Art. A Decentralized View.
    In: Researchgate, June 2019. Dieses “decentralized position paper“ erklärt die Blockchain-Methode und ihre Anwendungen in der Kunst aus verschiedenen Perspektiven. Nach einer Einleitung in die Blockchain-Technologie als Aufteilung der Information in Blöcke, die miteinander verbunden sind (“cryptographic hash function“) und über Peer-to-Peer verbreitet werden, folgen Aspekte aus kunsthistorischer und künstlerischer Perspektive sowie aus der Sicht von PlattformbetreiberInnen. Auf der Suche nach Vorläufern der “Crypto Art“ glauben T’ai Smith und Blake Finucane bei Marcel Duchamp und Conceptual Art Anknüpfungspunkte finden zu können (Stichwort „Dematerialisation“), müssen dann aber resümieren: “...crypto art inverses the critique of art‘s economic value that was initiated by Duchamp and espoused by practitioners of conceptual art.“ Die Berichte der Galeristen Jonathan Perkins und James Morgan aus den frühen Tagen der NFT-Plattformen könnten für Geschichten des NFT-Kunsthandels zu Dokumenten werden, die nicht übersehen werden sollten (9/2022).
  • Garcia, David: Beyond the Evidence.
    In: New Tactical Research, 9/2019. In einer BBC-Radiosendung (Andrew McGibbon: Evidently Art, 2019) sowie in Texten von Tatiana Bazzichelli (2016) und Paolo Cirio (2017) wird die Bedeutung hervorgehoben, die der Evidenz in einer sozialkritischen Kunst zukommt. Forensic Architecture's Untersuchung der Umstände des Mordes an Halit Yozgat (The Murder of Halit Yozgat, 2017) hebt David Garcia als Beispiel einer "investigative installation" hervor: Während des neunten NSU (Nationalsozialistischer Untergrund)-Mordes 2006 war ein V-Mann (geheimer Informant) des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz (Andreas Temme) in dem Kasseler Internetcafé, der von dem Mord nichts mitbekommen haben will. Forensic Architecture's genaue Rekonstruktion der Tat und des Standortes des V-Mannes vor, während und kurz nach der Tatzeit belegen das Gegenteil. Mitglieder der hessischen CDU bezweifelten dieses Resultat und schützten so den V-Mann.
    Neben Forensic Architecture lassen nach Garcia auch Projekte von KünstlerInnen wie Erica Scourti, Michael O'Connell, Jonas Staal, Lawrence Abu Hansen, Wachter & Judt, Trevor Paglen, !Mediengruppe Bitnik und Anderen einen "Evidentiary Realism" (Cirio) als zeitgenössische Strömung erkennen.
    Als Dokumentationsformen sozialkritisch einsetzende Tendenz sollten ihre VertreterInnen `Evidenz durch Fakten´ auch erkenntnistheoretisch begründen, weil sich dann ihre Strategien der Aufdeckung von Strategien der "misinformation" abgrenzen lassen.
    Wie kann der Wahrheitsgehalt von "rival narratives" geprüft werden? Garcia erwähnt den Standpunkt der Soziologin Noortje Marres (in "Why We Can't Have Our Facts Back", 2018, s.o.), für die "epistemic authority" sich nur im Diskurs über "epistemically diverse viewpoints" gewinnen lässt. Doch die "knowledge democracy", in der solche Auseinandersetzungen möglich sind, wird von PopulistInnen unterwandert. Dagegen können engagierte BürgerInnen "knowledge assemblies" bilden. Die Erweiterung des Einflusses von "knowledge assemblies" auf politische Meinungsbildung ist für Garcia ein entscheidendes Mittel gegen Populismus (1/2020).
  • Quaranta, Domenico: Code as Law. Contemporary Art and NFTs.
    In: Orizio, Zaglio e Associati (Hg.): I, Lawyer. Innovation Lawyer Project. O.O. 2021, S.31-37. Domenico Quaranta führt in Blockchain und NFT (Non Fungible Tokens) ein. Er dämpft Erwartungen an hohe Gewinne und zeigt, dass nur wenig KünstlerInnen höhere Erlöse erzielen (20% erzielen $100 - $200). Außerdem verweist er auf die Wiederkehr der “middlemen and gatekeepers“ (S.36) im NFT-Handel. Statt sich dem NFT-Handel zu verweigern, rät der Autor: “Choosing the right mode to engage is key.“ (9/2022)
  • Quaranta, Domenico: L’estetica dei Non-Fungible Token/The Aesthetics of Non-Fungible Tokens.
    In: Civiltà delle macchine, 4/Dicembre 2021, S.66-71,89ff. Der italienische Kunstkritiker widerspricht der Auffassung, dass es eine Ästhetik der Crypto Art gäbe. Als Beispiel dient ihm Beeple (Mike Winkelmann), dessen Illustrationsstil mittels digitaler Animation sich mit dem Verkauf mittels NFT nicht grundlegend geändert hat. Quaranta sieht in Okhaos‘ Plantoid (2016, s. Tipps), also in Kunst aus Prozessen mit Blockchain, Möglichkeiten für “una fenonomenologia specifica dell’arte basata su blockchain (S.70).“ (9/2022)
  • Kasprzak, Michelle: Ethical Engagement with NFTs – Impossibility of Viable Aspiration?
    In: Cheang, Shu Lea/Stalder, Felix/Chaudronnet, Ewen: From Commons to NFTs. Makery Media for Labs, 2022. Michelle Kasprzak stellt zuerst Reaktionen auf die ökologischen Probleme der Proof of Work-Methode von Ethereum (vor der Umstellung auf das Proof of Stake-Verfahren) vor, um dann von Projekten zu berichten, in denen der Ethereum voraussetzende NFT-Handel zwar ebenfalls als Cash-Maschine eingesetzt wird, aber jetzt als Mittel für gute Zwecke dient. Das Golden NFT-Projekt des Peng! Kollektiv nutzt die Versteigerung von digitalen Werken (via OpenSea), die KünstlerInnen für diesen Zweck schufen, um Geld zu beschaffen, mit dem für ImmigrantInnen Europäische Pässe besorgt werden. Diese Art der Passbeschaffung war bisher nur für reiche Nicht-Europäer möglich, die mit den Folgen des ökologischen Wandels leben können und teilweise MitverursacherInnen waren bzw. sind. Jetzt sollen die Menschen Europäische Pässe (in ironischer Ausnutzung des ungerechten, Investoren begündstigenden Verfahrens der Vergabe "Goldener Pässe") erhalten, die in ihren Heimatländern die Grundlagen ihrer Arbeit verloren haben. Die Kunst-Liga der Kongolesischen Plantagenarbeiter CATPC (in der Demokratischen Republik Kongo) kooperiert in Balot NFT (ab 14.6.2022) mit dem holländischen Künstler Renzo Martens, um 306 Teilsimulationen einer 1931 im Kongo geschaffenen Holzplastik des belgischen Kolonialbeamten Maximilien Balot zu versteigern, um mit jedem der 306 Token ein Hektar Plantagenland kaufen zu können. Die Holzskulptur entstand anläßlich eines Aufstandes der Pende gegen das Plantagensystem von Unilever und die belgische Kolonialmacht. Zusatzinformationen: Die Holzskulptur gehört heute als Leihgabe zur Sammlung des Virginia Museum of Fine Arts (VMFA) in Richmond (Sie wurde 1970 von den Pende an den jetzigen Besitzer verkauft, um Dorfkinder in die Schule schicken zu können. In: Woodward, Richard B.: Visions from the Congo. Kap. A Rising of the Wind. Art from a Time of Rebellion in the Congo. In: Blackbird Archive. Vol.11/No.1, Spring 2012). Das VMFA streitet mit Martens um die Rechte der Fotos, die in der Simulation eingesetzt wurden (Boffey, Daniel: Row about Congolese Statue loan escalates into Legal Battle over NFTs. In: The Guardian, 19.2.2022). Anfragen an das Museum zur Ausleihe der Holzskulptur in den von CATPC geschaffenen White Cube im Gebiet der Unilever-Plantagen blieben unbeantwortet (9/2022).
  • Tanni, Valentina: The Great Algorithm.
    PostScriptUM #43. Aksioma – Institute for Contemporary Art, Ljubljana 2022. Valentina Tanni stellt Gebrauchsweisen von Social Media vor, die deren Algorithmen unterlaufen. Da diese proprietär sind, können sich UserInnen lediglich durch Hypothesen erklären, weshalb bestimmte Meinungen häufig und andere selten verbreitet werden, und sich überlegen, wie sie die der Auswahl zugrunde liegende Regeln nutzen oder umgehen können. Die Kombination von in Social Media beliebten Themen wie Kosmetik mit politischen Themen kann dazu dienen, ein “algorithmic censoring system“ auszuhebeln (S.10). Aus Wortbildungen entsteht “Algospeak“ (“to unalive“ statt töten), um bei bestimmten Inhalten die algorithmische Selektion auszuschalten (Taylor Lorenz; S.12 mit Anm.11). Vor diesem Hintergrund erläutert Tanni die Verfahren Ben Grossers in den Projekten Go Rando (2017) und Not For You (2020), die Auswahlsysteme von Social Media durch zufallsgenerierte Clicks (“automated confusion system“, S.14) irritieren und die Entstehung von Filterblasen auf der Basis gesammelter Daten über Präferenzen von UserInnen erschweren. So werden nach Tanni Kontrollstrategien der Social Media-Unternehmen von UserInnen-Taktiken ausgetrickst: Taktiken gegen Strategien (9/2022).
  • Slocum, Paul: NFT Problems.
    In: Paul Slocum‘s Qotile, 17.6.2022. Nach Paul Slocum sollten Plattformen für den Handel mit NFT folgende Probleme lösen:
    • Prüfungsverfahren gegen Fälschungen (1),
    • gehackte KünstlerInnenkonten (2).
    Der Echtheits-Nachweis (1) und die Authentifizierung (2) sind ohne Abhängigkeiten von externen Strukturen nicht möglich. Das gleiche Problem wirft der Weiterverkauf auf anderen Plattformen auf. Der dezentrale Charakter der Blockchain geht durch die Lösungen mit externen Sicherungssystemen verloren. Slocum weist auf technische Probleme der Blockchain-Technologie, das Zertifikat auch über längere Zeiträume zu sichern und schlägt deshalb eine parallele Zertifizierung auf Papier vor. Den Risiken der Cryptowährungen entgehen auch NFTs nicht: Warnungen von Software-EntwicklerInnen und Ökonomen werden in Diskussionen über NFT-Handel überhört. Leider begünstigt der NFT-Handel bestimmte Dateiformate, während andere Arten Digitaler Kunst nicht gehandelt werden. NFT kann den Begriff Digitale Kunst nicht ablösen, wohl aber den Blick auf Letztere einengen (9/2022).

Besprechungen von Büchern über elektronische Medien, Hypertext und Hyperfiction in IASLonline Rezensionen:

Blogs (B), Portale (P), Mailing Lists (M; mit Archiv: P, M) und Newsgroups (N) mit Diskussionsbeiträgen und/oder aktuellen Meldungen zu NetArt (NA), Netzbedingungen (NB), Apps für Mobiltelefone (MA) und Aktivismus (AK):

Databases über und mit (Werken der) Intermedia Art:

Seit April 2002 weisen Links auf Texte, die über die Geschichte der NetArt und webspezifische, NetArt tangierende Probleme informieren. März 2003 wurde die Liste um Links zu Plattformen, Portalen, Databases und IASLonline Rezensionen erweitert. Als Plattformen gelten thematisch ausgerichtete Websites, die mehrere künstlerische Projekte auf dem Server enthalten und damit mehr sind als kuratierte Links. Im Februar 2004 kamen die Links zu Texten über aktuelle Aspekte der NetArt hinzu. Die Zeitpunkte der Fertigstellung der Einträge stehen in Klammern (Monat/Jahr). Seit Mai 2015 erscheinen die Links nicht nur in alphabetischer, sondern auch in chronologischer Reihenfolge.



[ Home | Anfang | Index NetArt ]