IASLonline Lektionen in NetArt


Thomas Dreher

Internationale Stadt Berlin
und sero.org (Blank & Jeron)


Joachim Blank (*1963) und Karl-Heinz Jeron (*1962) waren zwei der elf MitarbeiterInnen der Internationalen Stadt (IS) Berlin, die zwischen 1994 und 1998 das Internet als "digitalen Treffpunkt" - vergleichbar mit De Digitale Stad Amsterdam (seit Januar 1994) - einsetzte: "Der Mensch steht als aktiv Beteiligter und nicht als Verbraucher im Zentrum." (IS, Anfang 1995)

Informationen über Stadtereignisse sowie Websites von alternativen Gruppen und netzspezifische Kunstprojekte befanden sich unter einem Dach beziehungsweise unter einer Homepage:

Von Beginn an planten wir IS als Kontextsystem: Die Idee war es, mit Hilfe der Stadtmetapher einen Kontext zu entwickeln, der anderen Menschen aus unserem Lebensumfeld die Möglichkeit gibt, das Internet effektiver und komfortabler für eigene Zwecke zu nutzen, und es war ein Versuch, innerhalb und außerhalb des Internets ein kreatives Umfeld für Aktionen im Bereich Kultur und Neue Medien zu entwickeln. (Blank, Joachim/Jeron, Karl Heinz: Internationale Stadt Berlin. In: Institut für moderne Kunst Nürnberg (Hg.): Jahrbuch `98/`99. Nürnberg 1999, S.144)

Während "De Digitale Stad" auch über Terminals in öffentlichen Institutionen zugänglich ist, stießen in Berlin Planungen, die IS ebenso zugänglich zu machen, auf Vorbehalte der Stadtregierung gegenüber dem offenen Charakter des Netzsystems:

Berliner Senatspolitiker wurden auf uns aufmerksam, aber die Angst, einem System, bei dem Nutzer frei und unzensiert Inhalte einspeisen konnten, den politischen Segen zu geben, war zu groß - zumindest größer als das Vertrauen und das Geld, das Amsterdamer Stadtpolitiker in die "Digitale Stad Amsterdam" investierten. (Blank, Joachim/Jeron, Karl Heinz: Internationale Stadt Berlin. In: s. o., S.146f.)
So blieben öffentliche Zugänge im Rahmen der IS auf das Projekt Clubnetz beschränkt, das aus einem Chat-System für Terminals in Berliner Diskotheken bestand.

ISDN-Zugänge wurden extrem billig angeboten, dennoch haben nie mehr als 300 Kunden das Angebot genutzt. Das Bemühen um Reduktion der Zugangsschwellen zum eigenen Internet-Anschluß war 1995-96 noch dem Modell digitale Stadt adäquat, hat sich aber bei sinkenden Preisen erübrigt.

"De Digitale Stad" nimmt die Funktion des "Stadtinformationssystems" bis heute ernst, während sich die IS mit ihrem Experimentiercharakter und ihrem Selbstverständnis "als intelligente Hülle" (Blank, Joachim/Jeron, Karl Heinz: Internationale Stadt Berlin. In: s. o., S.145) offensichtlich in Informationsströme des Netzes auflöste, die mit Stadtmetaphern nicht mehr zu bündeln sind. Die Auflösung wurde "von den BetreiberInnen im Konsens getroffen" (Blank, Joachim/Jeron, Karl Heinz: Internationale Stadt Berlin. In: s. o., S.147) und der eigene WebServer >www.is.in-berlin.de< am 1. April 1998 eingestellt.

Die heutige Dokumentation ehemaliger Projekte der IS enthält auch "without addresses" (1997, s. u.) und Handshake (1993-94) von und mit Blank & Jeron. In "Handshake" befinden sich

  • FeldReise (1994), ein Projekt von 18 KünstlerInnen über das ehemalige, nicht öffentliche Kasernengelände in Krampnitz, und
  • Public Brain (1994) von Barbara Aselmeier, Joachim Blank, Armin Haase und Karl Heinz Jeron, eine aleatorische und mittels Eingaben beeinflußbare Kombination von bereits für andere Anläße geschaffenen Bildern zu Bildpaaren: Nur Klicks auf das obere Bild führen zum Fortschreiten in der Sequenz, während darunter ein zweites Bild erscheint. Bei Wiederkehr desselben Bildes oben erscheinen unten verschiedene Bilder aus einem nicht veränderbaren Bildarchiv. Das Bildmaterial stammt von älteren Projekten.
Das Kunstprojekt "Handshake" steht 1994 am Beginn der Geschichte der IS, während die Integration von "without addresses" 1997 in den Server der documenta X den Ausstieg der Künstler aus dem Projekt >virtuelle Stadt< vorwegnimmt.

Blank & Jeron eröffneten im September 1997 ihre eigene Website mit dem Titel sero.org, der den Namen der staatlichen Abfallverwertung der DDR und der nach der Privatisierung daraus hervorgegangenen SERO Entsorgung AG (Berlin) aufgreift.


without addresses

Without addresses (1997) war ein partizipatives Projekt von Blank & Jeron auf der Website der documenta X, die nach dem Ende der Ausstellung eingestellt wurde. Die CD-ROM Version auf der Website sero.org ermöglicht nur noch, 37.843 Dokumente abzurufen, die 35.000 User schufen, nicht mehr aber, neue hinzuzufügen.

Blank & Jeron: without addresses 1997 Blank & Jeron: without addresses 1997

Blank, Joachim/Jeron, Karl-Heinz: without addresses, 1997, Webprojekt (Illustrationen der Projektdokumentation von Blank & Jeron).

"Without adresses" zeigt auf der ersten Seite eine "Map", über der ein Fenster erscheint. Führt der User den Cursor über die in Felder geteilte Karte, so ändert sich die Textzeile im Fenster. Diese Textzeile besteht aus acht- bis zwölfstelligen Ziffern und den Eingaben eines virtuellen Bewohners der Gegend, für die die Ziffer steht.

Durch Mouseclick auf eines der Kartenfelder erscheint eine Seite mit farbiger Handschrifttypographie. Links oben ist das eingegebene Wort zu lesen und in vertikal gestellter Zeile steht am linken Rand eine Internetadresse. Viele Handschriftlinien sind meist nicht mehr lesbar und in einigen Fällen erscheinen in der Seitenmitte unverzerrte Bilder, Buttons oder Logos.

Unter "documentation" lassen sich Erklärungen zum concept der partizipativen documenta X-Version finden: Daraus geht hervor, daß in der CD-ROM-Version das Eingabe-Fenster mit der Aufforderung "Tell me who you are!" entfällt. Diese Aufforderung erklärt, warum so häufig Namen eingegeben wurden. Die Eingaben der documenta-User wurden als Vorgabe für eine Stichwortsuche in Altavista und Yahoo verwendet. Aus der Treffermenge wurde eine URL per Zufallsverfahren gewählt und nach Layoutvorgaben bearbeitet:

Website[-Adresse/URL,] von der die Daten übertragen wurde[n], in gelber Schrift, 90 Grad gedreht, Text als Handschrift in Blau, optional gefundenes Bild mittig unter den Text gelegt, wenn nötig gedreht und transparent gerechnet. (KH Jeron, e-Mail, 18.2.2000)

Ein User, der den Cursor über "Map" zieht, um die Relation zwischen wenigen Kartenregionen und vielen Eingaben zu eruieren, kann feststellen, daß Kartenregionen mehrfach mit Ziffern und zugehörigen Eingaben belegt sind. Nach Jeron ist die Zuordnung von Kartenregionen zu Ziffern in der CD ROM-Version starr. Es ist kein Archiv zugänglich, das die Zuordnungen >Kartenregion-Ziffer-Eingabe-bearbeitete Website< enthält. Deshalb haben User auf die Reihenfolge der Ziffern keinen Einfluß: Sie können nur die Websites abrufen, zu denen die Ziffern leiten, die gerade beim Führen des Cursors über die Kartenregionen erscheinen.

Die partizipative Version der documenta X hat alle 30 Sekunden die "Map" neu generiert und im Laufe dieses Prozesses die neuen Eingaben integriert:

The visitor´s pages are arranged on the map in randomized order.

Einerseits schaffen Blank & Jeron über die Zuordnung von bearbeiteten Websites zu Kartenfeldern Territorien für Netzdokumente, andererseits unterlaufen sie diese Territorialisierung in der documenta X-Version durch sich verändernde Zuordnungen und die Verfremdung der Dokumente.

Die Personalisierung durch den Satz "Someone from [Ziffer x]", der beim Abruf von geleisteten Eingaben erscheint, und die Territorialisierung durch Kartenfelder liefern narrative Verkleidungen für Funktionen. "Without addresses" führt einerseits zu Programmfunktionen hinter narrativen Verkleidungen, und stößt andererseits User durch die wenigen Schaltfunktionen und -flächen sowie durch zufallsbedingte Zuordnungen zwischen Kartenfeldern und bearbeiteten Websites auf Oberflächen zurück.


Scanner ++

Zur Installation Scanner++ (1998) liefern Ausstellung und Internet verschiedene Zugänge. In der Gruppenausstellung Body of the Message des Neuen Berliner Kunstvereins (4.7.-16.8.1998) waren 12 Scanner in einem Sockel zusammengefaßt. Glasplatten über den Scannern ermöglichten AusstellungsbesucherInnen das Betreten des Lichtbereichs der Scanner, die sich in aleatorischer Folge einschalteten.

Ein Beamer strahlte die gescannten Bilder an die Wand. Die Scans ergaben keine realistischen Bilder, sondern sie veranschaulichten den elektronisch gesteuerten bildnerischen Prozeß durch Farbverfremdung und durch den erkennbaren Verlauf des Bildaufbaus. Gleichzeitig waren die gescannten Bilder seitenverkehrt – gleichsam wie von der Rückseite der Projektionsfläche – im Internet zu sehen.

Wenn die Installation in Ausstellungen aufgebaut ist, "zeigt die Website die Scans zeitnah." (KH Jeron, e-Mail, 18.2.2000) In ausstellungsfreier Zeit werden in der Webpräsentation archivierte Scans auf- und abgebaut.

Blank & Jeron beschränken sich auf die nacheinander beobachtbaren Situationen im Ausstellungsraum und im Internet: Real- und Datenraumaktivitäten greifen nicht ineinander. Da die Einfachheit des Installationskonzeptes, wie Jeron versichert, einen störungsfreien Ausstellungsbetrieb ermöglicht, ist dann nicht "Scanner++" in der Ausstellungspraxis der Vorzug vor komplexen, aber auch wartungsintensiven, häufig über längere Zeiträume außer Kraft gesetzten Installationen zu geben?


Dump Your Trash

Dump Your Trash (1998) lädt den User ein, seine URL und e-Mail-Adressen einzugeben. Nach dem Klick auf den "recycle"-Button erscheint die Antwort

Thank you. We will send you an e-mail when your trash has been recycled!
Die bald eintreffende e-Mail verweist auf eine neue URL-Adresse im Archiv von "Dump Your Trash", die eine kaum bis nicht mehr lesbare Variante des Beginns der eingegebenen URL-Adresse zeigt. Beim Recyceln werden Bilder in den vorgegebenen URL-Adressen gesucht: "...wenn er [der Agent] auf der Homepage nicht fündig wird geht er tiefer." (KH Jeron, e-Mail, 18.2.2000) Außerdem wird eine Hardware-Version des virtuellen Reliefs aus Marmor für $1489 als "classic version" und mit 10$ Aufpreis als "mobile version" mit "shopping bag" angeboten: Eine Epitaphplatte mit Einkaufstasche!

"Dump Your Trash" behandelt einerseits die Daten der Websites als "Trash" und offeriert andererseits virtuelle und materielle Formen der Verherrlichung der User-eigenen URL-Adresse: Formen des Internet-Gebrauchs werden ironisch in einer zuerst herabsetzenden, dann glorifizierenden (aber auch Inhalte `verwischenden´) Weise thematisiert, die Einverständnis und Partizipation des Ironisierten voraussetzt.


re-m@il

re-m@il ermÖglicht das Übertragen/Forwarden von e-Mail-Eingängen über >re-mail@writeme.com< auf eine öffentliche Website, um sie von anderen Usern, die anonym bleiben, beantworten zu lassen. Im Archiv werden abgeladene e-Mails unter "Before" und an die e-Mail-Sender verschickte Antworten unter "After" aufbewahrt.

Die erstrebte Idealverwendung der Beantwortung vieler und unbeliebter e-Mail-Eingänge durch anonyme Dritte wird in der Praxis wenn nicht schon durch die abgeladenen e-Mails, dann häufig durch die Antworten unterlaufen.

Wo im Archiv unter "Before" zum Beispiel die Ankündigung einer neuen Ausgabe eines "Electronic Art Magazine" steht, lautet die Antwort - zu Recht - "Tell me something worth answering". Einige ausgestellte e-Mails enthalten Werbung und trafen beim ersten Empfänger offensichtlich auf Ratlosigkeit, was mit ihnen zu tun sei. Der zweite Empfänger in "re-m@il" beantwortet diesen Widerwillen, aber jetzt nicht für den Sender, den die Reaktion nur ratlos machen kann, sondern als Beobachter des Netzprojektes, der vor der Öffentlichkeit aller folgenden User die Plazierung dieser e-Mail in "re-m@il" kritisiert.

Das Verhältnis von der Einladung, unliebsame e-Mails zu forwarden, zur provozierten Erwartung an ihre Beantwortbarkeit ist das Problem in "re-m@il", auf das User durch Kommunikation im Leerlauf, wie sie viele Archiv-Before/After-Paare zeigen, reagieren. Außerdem kann das System das Forwarden von extra für "re-m@il" geschriebenen e-Mails nicht verhindern. All diese Probleme mindern nicht, sondern steigern die Bedeutung von "re-m@il" als Kommunikationsexperiment.


Dr. Thomas Dreher
Schwanthalerstr. 158
D-80339 München.

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