IASLonline Lektionen in NetArt
Internationale Stadt Berlin
und sero.org (Blank & Jeron)
Joachim Blank (*1963) und Karl-Heinz Jeron (*1962) waren zwei der elf
MitarbeiterInnen der Internationalen
Stadt (IS) Berlin, die zwischen 1994 und 1998 das Internet
als "digitalen Treffpunkt" - vergleichbar mit De Digitale Stad Amsterdam (seit
Januar 1994) - einsetzte: "Der Mensch steht als aktiv Beteiligter
und nicht als Verbraucher im Zentrum." (IS, Anfang 1995)
Informationen über Stadtereignisse sowie Websites von
alternativen Gruppen und netzspezifische Kunstprojekte befanden
sich unter einem Dach beziehungsweise unter einer Homepage:
Von Beginn an planten wir IS als Kontextsystem: Die Idee
war es, mit Hilfe der Stadtmetapher einen Kontext zu
entwickeln, der anderen Menschen aus unserem Lebensumfeld die
Möglichkeit gibt, das Internet effektiver und komfortabler für
eigene Zwecke zu nutzen, und es war ein Versuch, innerhalb
und außerhalb des Internets ein kreatives Umfeld für
Aktionen im Bereich Kultur und Neue Medien zu entwickeln. (Blank,
Joachim/Jeron, Karl Heinz: Internationale Stadt Berlin. In: Institut für moderne Kunst Nürnberg (Hg.): Jahrbuch `98/`99. Nürnberg 1999, S.144)
Während "De Digitale Stad" auch über Terminals in öffentlichen Institutionen zugänglich ist, stießen in Berlin Planungen, die IS ebenso zugänglich zu machen, auf Vorbehalte der Stadtregierung gegenüber dem offenen Charakter des Netzsystems:
Berliner Senatspolitiker wurden auf uns aufmerksam, aber die Angst, einem System, bei dem Nutzer frei und unzensiert Inhalte einspeisen konnten, den politischen Segen zu geben, war zu groß - zumindest größer als das Vertrauen und das Geld, das Amsterdamer Stadtpolitiker in die "Digitale Stad Amsterdam" investierten. (Blank, Joachim/Jeron, Karl Heinz: Internationale Stadt Berlin. In: s. o., S.146f.)
So blieben öffentliche Zugänge im Rahmen der IS auf das Projekt Clubnetz
beschränkt, das aus einem Chat-System für Terminals in Berliner
Diskotheken bestand.
ISDN-Zugänge wurden extrem billig angeboten, dennoch haben
nie mehr als 300 Kunden das Angebot genutzt. Das Bemühen um
Reduktion der Zugangsschwellen zum eigenen Internet-Anschluß war
1995-96 noch dem Modell digitale Stadt adäquat, hat sich aber bei sinkenden Preisen erübrigt.
"De Digitale Stad" nimmt die Funktion des "Stadtinformationssystems"
bis heute ernst, während sich die IS mit ihrem Experimentiercharakter und ihrem Selbstverständnis "als
intelligente Hülle" (Blank, Joachim/Jeron, Karl Heinz:
Internationale Stadt Berlin. In: s. o., S.145)
offensichtlich in Informationsströme des Netzes auflöste, die
mit Stadtmetaphern nicht mehr zu bündeln sind. Die Auflösung wurde "von den
BetreiberInnen im Konsens getroffen" (Blank, Joachim/Jeron,
Karl Heinz: Internationale Stadt Berlin. In: s. o., S.147) und
der eigene WebServer >www.is.in-berlin.de< am 1. April 1998
eingestellt.
Die heutige Dokumentation ehemaliger Projekte der IS enthält
auch "without addresses" (1997, s. u.) und Handshake (1993-94) von und
mit Blank & Jeron. In "Handshake" befinden sich
- FeldReise
(1994), ein Projekt von 18 KünstlerInnen über das
ehemalige, nicht öffentliche Kasernengelände in Krampnitz, und
- Public Brain (1994) von Barbara Aselmeier, Joachim Blank, Armin Haase und Karl Heinz Jeron, eine aleatorische und mittels Eingaben beeinflußbare
Kombination von bereits für andere Anläße geschaffenen Bildern zu Bildpaaren: Nur Klicks auf das obere Bild führen zum Fortschreiten in der Sequenz, während darunter
ein zweites Bild erscheint. Bei Wiederkehr desselben Bildes oben
erscheinen unten verschiedene Bilder aus einem nicht veränderbaren
Bildarchiv. Das Bildmaterial stammt von älteren Projekten.
Das Kunstprojekt "Handshake" steht 1994 am Beginn
der Geschichte der IS, während die Integration von "without
addresses" 1997 in den Server der documenta X den Ausstieg
der Künstler aus dem Projekt >virtuelle Stadt< vorwegnimmt.
Blank & Jeron eröffneten im September 1997 ihre eigene Website mit dem
Titel sero.org, der den Namen
der staatlichen Abfallverwertung der DDR und der nach der Privatisierung
daraus hervorgegangenen SERO Entsorgung AG (Berlin) aufgreift.
Without addresses
(1997) war ein partizipatives Projekt von Blank & Jeron auf der Website der documenta
X, die nach dem Ende der Ausstellung eingestellt wurde. Die CD-ROM
Version auf der Website sero.org ermöglicht nur noch, 37.843 Dokumente abzurufen, die
35.000 User schufen, nicht mehr aber, neue hinzuzufügen.
Blank, Joachim/Jeron, Karl-Heinz: without addresses, 1997, Webprojekt (Illustrationen der Projektdokumentation von Blank & Jeron).
"Without adresses" zeigt auf der ersten Seite eine
"Map", über der ein Fenster erscheint. Führt der User
den Cursor über die in Felder geteilte Karte, so ändert sich die Textzeile im Fenster.
Diese Textzeile besteht aus acht- bis zwölfstelligen Ziffern und den Eingaben
eines virtuellen Bewohners der Gegend, für die die Ziffer steht.
Durch Mouseclick auf eines der Kartenfelder erscheint eine Seite
mit farbiger Handschrifttypographie. Links oben ist das
eingegebene Wort zu lesen und in vertikal gestellter Zeile
steht am linken Rand eine Internetadresse. Viele
Handschriftlinien sind meist nicht mehr lesbar und in einigen
Fällen erscheinen in der Seitenmitte unverzerrte Bilder, Buttons oder Logos.
Unter "documentation" lassen sich Erklärungen zum concept der
partizipativen documenta X-Version finden: Daraus geht hervor, daß in der CD-ROM-Version das Eingabe-Fenster mit der Aufforderung "Tell me
who you are!" entfällt. Diese Aufforderung erklärt, warum so häufig
Namen eingegeben wurden. Die Eingaben der documenta-User wurden
als Vorgabe für eine Stichwortsuche in Altavista und Yahoo verwendet. Aus der Treffermenge wurde eine URL per Zufallsverfahren gewählt und nach Layoutvorgaben bearbeitet:
Website[-Adresse/URL,] von der die Daten übertragen wurde[n], in gelber Schrift, 90 Grad gedreht, Text als Handschrift in Blau, optional gefundenes Bild mittig unter den Text gelegt, wenn nötig gedreht und transparent gerechnet. (KH Jeron, e-Mail, 18.2.2000)
Ein User, der den Cursor über "Map" zieht,
um die Relation zwischen wenigen Kartenregionen und vielen
Eingaben zu eruieren, kann feststellen, daß Kartenregionen mehrfach mit Ziffern und
zugehörigen Eingaben belegt sind. Nach Jeron ist die Zuordnung von Kartenregionen zu Ziffern in der CD ROM-Version starr. Es ist kein Archiv zugänglich, das die
Zuordnungen >Kartenregion-Ziffer-Eingabe-bearbeitete Website< enthält. Deshalb haben User auf die Reihenfolge der Ziffern keinen Einfluß: Sie können nur die Websites abrufen, zu denen die Ziffern leiten,
die gerade beim Führen des Cursors über die Kartenregionen
erscheinen.
Die partizipative
Version der documenta X hat alle 30 Sekunden die "Map"
neu generiert und im Laufe dieses Prozesses die neuen Eingaben
integriert:
The visitor´s pages are arranged on the map in randomized order.
Einerseits schaffen Blank & Jeron über die Zuordnung von
bearbeiteten Websites zu Kartenfeldern Territorien für Netzdokumente, andererseits
unterlaufen sie diese Territorialisierung in der documenta X-Version durch sich verändernde
Zuordnungen und die Verfremdung der Dokumente.
Die
Personalisierung durch den Satz "Someone from [Ziffer x]",
der beim Abruf von geleisteten Eingaben erscheint, und die
Territorialisierung durch Kartenfelder liefern narrative Verkleidungen für
Funktionen. "Without addresses" führt einerseits zu
Programmfunktionen hinter narrativen Verkleidungen, und stößt
andererseits User durch die wenigen Schaltfunktionen und -flächen
sowie durch zufallsbedingte Zuordnungen zwischen Kartenfeldern und
bearbeiteten Websites auf Oberflächen zurück.
Zur Installation Scanner++ (1998)
liefern Ausstellung und Internet
verschiedene Zugänge. In der Gruppenausstellung Body
of the Message des Neuen Berliner Kunstvereins (4.7.-16.8.1998) waren 12
Scanner in einem Sockel zusammengefaßt. Glasplatten über den
Scannern ermöglichten AusstellungsbesucherInnen das Betreten des
Lichtbereichs der Scanner, die sich in aleatorischer Folge einschalteten.
Ein Beamer strahlte die gescannten Bilder an die Wand. Die Scans ergaben keine
realistischen Bilder, sondern sie veranschaulichten den elektronisch
gesteuerten bildnerischen Prozeß durch Farbverfremdung und durch
den erkennbaren Verlauf des Bildaufbaus.
Gleichzeitig waren die gescannten Bilder seitenverkehrt
gleichsam wie von der Rückseite der Projektionsfläche im
Internet zu sehen.
Wenn die Installation in Ausstellungen aufgebaut ist, "zeigt die Website die Scans zeitnah." (KH Jeron, e-Mail, 18.2.2000) In ausstellungsfreier Zeit werden in der Webpräsentation archivierte Scans auf- und abgebaut.
Blank & Jeron beschränken sich auf die nacheinander
beobachtbaren Situationen im Ausstellungsraum und im Internet: Real- und Datenraumaktivitäten greifen nicht ineinander. Da die Einfachheit des
Installationskonzeptes, wie Jeron versichert, einen störungsfreien Ausstellungsbetrieb
ermöglicht, ist dann nicht "Scanner++" in der
Ausstellungspraxis der Vorzug vor komplexen, aber auch wartungsintensiven, häufig
über längere Zeiträume außer Kraft gesetzten Installationen zu geben?
Dump Your Trash
Dump Your Trash (1998) lädt
den User ein, seine URL und e-Mail-Adressen einzugeben. Nach
dem Klick auf den "recycle"-Button erscheint die
Antwort
Thank you. We will send you an e-mail when your
trash has been recycled!
Die bald eintreffende e-Mail verweist auf eine neue
URL-Adresse im Archiv von "Dump Your Trash", die eine
kaum bis nicht mehr lesbare Variante des Beginns der eingegebenen URL-Adresse
zeigt. Beim Recyceln werden Bilder in den vorgegebenen URL-Adressen gesucht: "...wenn er [der Agent] auf der Homepage nicht fündig wird geht er tiefer." (KH Jeron, e-Mail, 18.2.2000) Außerdem wird eine Hardware-Version des virtuellen
Reliefs aus Marmor für $1489 als "classic version" und
mit 10$ Aufpreis als "mobile version" mit "shopping
bag" angeboten: Eine Epitaphplatte mit Einkaufstasche!
"Dump Your Trash" behandelt einerseits die Daten der
Websites als "Trash" und offeriert andererseits
virtuelle und materielle Formen der Verherrlichung der User-eigenen
URL-Adresse: Formen des Internet-Gebrauchs werden ironisch in
einer zuerst herabsetzenden, dann glorifizierenden (aber auch Inhalte `verwischenden´) Weise thematisiert, die Einverständnis und Partizipation
des Ironisierten voraussetzt.
re-m@il
ermÖglicht das Übertragen/Forwarden von e-Mail-Eingängen über >re-mail@writeme.com<
auf eine öffentliche Website, um sie von anderen Usern, die
anonym bleiben, beantworten zu lassen. Im Archiv werden
abgeladene e-Mails unter "Before" und an die e-Mail-Sender
verschickte Antworten unter "After" aufbewahrt.
Die erstrebte Idealverwendung der Beantwortung vieler und
unbeliebter e-Mail-Eingänge durch anonyme Dritte wird in der
Praxis wenn nicht schon durch die abgeladenen e-Mails, dann häufig durch die Antworten unterlaufen.
Wo im Archiv
unter "Before" zum Beispiel die Ankündigung einer neuen Ausgabe
eines "Electronic Art Magazine" steht, lautet die
Antwort - zu Recht - "Tell me something worth answering". Einige
ausgestellte e-Mails enthalten Werbung und trafen beim ersten
Empfänger offensichtlich auf Ratlosigkeit, was mit ihnen zu tun
sei. Der zweite Empfänger in "re-m@il" beantwortet
diesen Widerwillen, aber jetzt nicht für den Sender, den die Reaktion nur ratlos machen kann, sondern als Beobachter des Netzprojektes, der vor der Öffentlichkeit aller folgenden User die Plazierung dieser e-Mail in "re-m@il" kritisiert.
Das Verhältnis von der Einladung, unliebsame e-Mails zu forwarden, zur provozierten Erwartung an ihre Beantwortbarkeit ist das Problem in "re-m@il", auf das User durch Kommunikation im Leerlauf, wie sie viele Archiv-Before/After-Paare zeigen, reagieren. Außerdem kann das System das Forwarden von extra für "re-m@il" geschriebenen e-Mails nicht verhindern. All diese Probleme mindern nicht, sondern steigern die Bedeutung von "re-m@il" als Kommunikationsexperiment.
Dr. Thomas Dreher
Schwanthalerstr. 158
D-80339 München.
Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit ist given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact
IASLonline.
Wollen Sie dazu Stellung nehmen oder einen eigenen Tip geben?
Dann schicken Sie uns eine E-Mail.
Übrigens: Drehers Homepage bietet
zahlreiche kunstkritische Texte, u.a. zur Konzeptuellen Kunst und
Intermedia Art.