IASLonline Lektionen in NetArt


Thomas Dreher

Politics of Classification:
Matthew Fuller und Graham Harwood


In dieser IASL Lektion werden Projekte vorgestellt, die die Londoner Matthew Fuller und/oder Graham Harwood in Kollaboration mit weiteren Mitarbeitern seit 1996 realisiert haben. Das Arbeitsspektrum von Fuller und Harwood reicht von reaktiven Installationen über CD-ROMs bis zu Netzprojekten, die unter anderem ein vereinfachtes Multimediaprogramm, eine Suchmaschine und einen Browser enthalten. Das allen Präsentationsformen übergeordnete Thema expliziert das Zitat "politics of classification". 1

Der in Installationen und Websites von "Mongrel Media" problematisierten Systematik sozialer Exklusionskriterien der Rasse und Klasse steht ein alternativer Browser von I/O/D gegenüber, der dazu verhilft, die Systematik der etablierten Browser (von Microsoft und Netscape), ihre impliziten Restriktionen und die daraus folgende Pragmatik der Netzpräsentationen zu überprüfen. Harwood und Fuller vermitteln auf den Websites "Mongrel" (seit Juli 2000 nicht mehr im Netz) und "I/O/D" Medien- mit Sozialkritik: Sozialkritik als Medienkritik und Medienkritik als Sozialkritik ergänzen sich.


Harwood: Rehearsal of Memory

Während der Ars Electronica 1996 zeigte die Linzer Landesgalerie (des Oberösterreichischen Landesmuseums Francisco Carolinum) Graham Harwoods reaktive Installation "Rehearsal of Memory" (Mitarbeiter: Richard Pierre-Davis, Matthew Fuller u. a.). Im Rahmen einer Standardinstallation für reaktive Systeme – eine Leinwandprojektion und davor ein Trackball auf einem Sockel – konnte die Verbindung von Bild und Ton auf ungewöhnliche Weise Beobachteroperationen provozieren. Mit dem Cursor konnten >lange Bahnen< von Haut- und Haarzonen wie ein Filmband >gezogen< werden.

Der Beobachter bestimmte das Tempo des >Hautfilms< durch Bewegungen des Cursors mit dem Trackball. Außerdem konnte durch Cursorbewegungen und Klicks eruiert werden, welche Flächen mit Ton unterlegt sind: Aufzeichnungen von Stimmen einiger Anstaltspatienten, die eigene Erfahrungen schildern, waren an verschiedenen, grafisch nicht gekennzeichneten Filmstellen abrufbar.

Die Haut- und Haarzonen stammten von Patienten des Ashworth Maximum Security Hospital bei Liverpool. Kopfzonen der Patienten wurden einschließlich ihrer Narben und Tätowierungen im Winter 1994/95 abgelichtet. Dies geschah direkt vom Scanner. Darauf verweisen Druckspuren, die Gesichtsverzerrungen verursachten. Die Gesichter blieben anonym, da sie wegen Pressspuren auf der Glasplatte nicht identifizierbar waren.

Ein Teil der Patienten des Hospitals waren zurechnungsfähige Verbrecher, ein anderer Teil wurde von Sozialämtern und Gesundheitsbehörden überwiesen – Harwood: "Die durchschnittliche Dauer eines Aufenthalts beträgt acht Jahre." 2

Harwood speicherte mehr Bild- und Tonmaterial, als Beobachter in der üblichen Rezeptionszeit wahrnehmen konnten. Der Londoner Künstler gab die übliche Beobachtungszeit als zwischen 5 und 15 Minuten liegend an und fügte hinzu, dass diese häufig auf einen ersten, ca. 30 Sekunden dauernden Besuch folgt. 3 Auch Beobachter mit größerer Geduld konnten in der Linzer Installation nur an beliebigen Stellen in das Programm eintauchen und sich Vorstellungen von (einem) fiktiven Patienten bilden, indem sie Erinnerungen an vorbeiziehende Hautpartikel und an abgerufene Stimmen anonymer Patienten miteinander verbanden.

Die Bildspur und die Art, wie sie mit dem Cursor bewegt werden konnte, weckten taktile Assoziationen an verletzbare Haut, denen die Aussagen der Patienten über ausgeübte Gewalt zuwiderliefen. Es gab sowohl sensible Beobachter, die der >Hautspur< langsam folgten, als auch Beobachter, die lediglich ein funktionales System in der Bild-Ton-Kombination erkennen wollten und teilweise hastig die Bildfläche mit Klicks übersähten. Dies erweckte den Eindruck, als gingen sie mit dem filmisch-performativen Charakter in einer Haut >zerklickenden< Weise um, als wollten sie Haut zerstechen.

In der CD-ROM-Fassung (nur für Macintosh) 4 ist die filmische >Hautspur< mit abrufbaren Toninseln durch ein Nebeneinander von Bild- und Textfeldern ersetzt, in das abrufbare Videosequenzen und Klickstellen zu Stimmaufnahmen eingeblendet sind. Fortsetzungspfeile in vier Richtungen führen zu weiteren Feldern: Die >Hautspur< der Erstfassung wurde für die CD-ROM in Klicksequenzen mit grafisch gekennzeichneten Klickfeldern aufgelöst. Durch die Modifikationen für die CD-ROM wird der filmisch-performative Charakter der >Hautspur< der Linzer Fassung von einer Navigationsfläche aus Ton- und Bildfeldern abgelöst, wobei die Nahansicht von Hautzonen den Gesamteindruck prägt. Das Linzer Band, in dem die Hautoberfläche einziger Anhaltspunkt für die Navigation war, wird durch Felder ersetzt. Die Rezeptionsprozesse werden aufgeteilt in

  • direktive der Navigation von Feldrahmen zu Feldrahmen und
  • narrative des Umgangs mit Zeichenfunktionen von Bild-Text- und Filmsequenzen in den Feldern.

Der Thematisierung der (Wieder-)Erinnerung an Ausgeschlossene(s) durch eine maschinelle Präsentationsform dient auch die CD-ROM. Beide Fassungen - stärker allerdings die Urfassung - wecken Hautsensibilitäten und verweisen in der Kombination mit dem Gesprochenen auf ein Theater der Aggressionen, das sich auch als Theater der physischen und psychischen Wunden ausweist, die nach Harwood die Kehrseite der sozialisierten Form von "Normalität" und "Gesundheit" sind. 5

Harwood verknüpft die Absicht, dem im funktionalen Sinne Unreinen des Psychischen seinen Eigensinn zurückzugeben, mit der Geschichte des funktionalen Einsatzes von Maschinen (zum Beispiel zur Reinigung), wenn er schreibt:

For a long time we have assigned machines our dirty laundry while maintaining the image of their enamelled white veneers. Now is the time for filth. 6
Harwood behauptet in der oben zitierten, das Projekt "Rehearsal of Memory" erklärenden Äußerung eine Parallele zwischen etabliertem Maschinengebrauch und sozialem Umgang mit Dimensionen der Psyche: Wie durch Konstruktion und Gebrauch von Maschinen das nach sozialen Exklusionskriterien Unreine in materiellen Systemen beseitigt wird, so gibt es auch quasimaschinelle soziale Funktionen, die in psychischen Systemen Unreines ausscheiden.

In der Installation "Rehearsal of Memory" stellt Harwood diese Paralellführung von funktional und sozial Maschinellem in Frage, indem er computergestützte Maschinenfunktionen entgegen dem etablierten Maschinengebrauch im Sinne einer sozialen Wiedergewinnung von Unreinem, von psychischen Dimensionen, einsetzt.


Mongrel: National Heritage

Den Kern von Mongrel Media bilden seit 1998 Graham Harwood, Matsuko Yokokoji und Richard Pierre-Davis, die vorher bei Artec in Nord-London Langzeitarbeitslose in EDV-Anwendungen ausbildeten. Weitere wichtige Mitarbeiter von "Mongrel Media" sind Mervin Jarman und Matthew Fuller.

National Heritage (1998) besteht aus 32 Straßenplakaten, einem Installationsplan und einem Konzept für eine Website. Acht s/w-Porträtbilder in Frontalansicht, ("stereotypeheads") – ein weibliches und ein männliches pro Hautfarbe (weiß, gelb, braun, schwarz) – wurden aus – nach Angaben von "Mongrel Media" – ca. 100 Porträtfotos zusammengesetzt. Die Plakate führen Kombinationen von Masken vier verschiedener Hautfarben auf den acht s/w-Porträtbildern vor. Die Masken sind transparent: Sie kolorieren die Gesichtszüge der s/w-"stereotypeheads" zwischen Nähten um Augen, Mund und Maskenrand in einer der vier Hautfarben. Nähte und Kolorierung ergeben den Eindruck, als werden die "stereotypeheads" von Masken aus aufgenähter Haut bedeckt. Außerdem sind die Gesichter mit Spuckflecken überzogen. Spuckflecken und Nähte sind in allen Bildern gleich.

Die Website "Mongrel" präsentiert neben Erklärungen zum Konzept des Projektes "National Heritage" auch Texte mit Reflexionen von Graham Harwood und Matthew Fuller, die um scheinbare Liberalität, Klassifikationen und ihre soziale Gruppen ausgrenzende Wirkung kreisen. Vorgeführt wird dieses Problemfeld an Beispielen von "class"- und "race"-Kombinationen, deren implizite Mechanismen der sozialen In- und Exklusion skizziert werden. Die Kontexte EDV 7 und Kunst 8 liefern Fälle zur Veranschaulichung dieser Mechanismen.

Ein Pseudo-Fragebogen von Matthew Fuller unter dem Titel "The War of Classification" 9 integriert den Beobachter nur scheinbar durch Eingabefenster, weil Eingaben nichts bewirken und zu keiner Statistik führen. Der Fragebogen muß User, die hinter Fullers Fragen einen programmatischen Zusammenhang vermuten, durch die Art der Fragen und die ineffektiven Eingabefenster verwirren.

In "The War of Classification" werden Vollständigkeit implizit anstrebende enzyklopädische Versuche einer "classification" von Welt in Frage gestellt. Außerdem werden Medien der Präsentation von "classifications" – einschließlich ihrer Entwicklung vom Buch bis zu Suchmaschinen – sowie (auf dieser Basis) die Entwicklung und Darstellungsweisen rassistischer und nationalistischer Praktiken in ein kritisches Licht gerückt. Häufig geschieht dies mit Mitteln der Leserirritation.

Eine geplante Website soll Nationalisten und Rassisten in drei Wettbewerbe involvieren, indem sie diese dazu auffordert, den aus ihrer Sicht besten Tattoo, den größten Schandfleck und das beste Artefakt für die Repräsentation von Rassen- und Nationenzugehörigkeit (inklusive Begründungen für diese Auswahl) als "digitised samples" an "Mongrel Media" zu senden. Betroffene dieser Ausgrenzungsmechanismen, die in lokalen Gruppen kooperieren, sollen ihre Auswertung der Ergebnisse der Wettbewerbe im Netz publizieren. Die Betroffenen sollen Rassisten und Nationalisten zu einem Dialog über Ausgrenzungsen verführen, und versuchen, nationalistisch und rassistisch orientierte "belief systems" lächerlich zu machen:

The project involves current cultural strategies and uses of digital technology developed to undermine the expectations of racialisation in a manner which usurps them. 10
In den Massenmedien erscheint häufig Kritik an den im Internet kaum noch einschränkbaren Möglichkeiten, Verbotenes zu publizieren. Von dieser Kritik wird die Aufmerksamkeit auch auf rechtsextreme Websites gelenkt: Die Ausgrenzungsstrategien der ablehnende Ansichten äußernden Kritik in Massenmedien entziehen nationalistische und rassistische Sites nicht der Öffentlichkeit, sondern verschaffen ihnen Publizität. Im Gegensatz dazu suchen "Mongrel Media" den direkten Dialog mit den von Kritikern des Internet ausgegrenzten, nach nationalistischen und rassistischen Kriterien Ausgrenzenden – Harwood: "Successive governments have tried censorship and failed. This is another approach. – ridicule." 11 Das "ridicule"-Konzept greift die Suchmaschine "Natural Selection" (1998, s. u.) auf.

Dem verdeckten Rassismus eines "Artworld post-racism" 12, der bis heute von der weißen Mittelklasse gestützt wird, und dessen historische Basis nach Harwood eine von Rassismus geprägte Zivilisation ist 13, wird von "Mongrel Media" der Rassismus armer Bevölkerungsschichten als explizite Äußerungsform entgegengehalten, die Ansätze liefert, real existente Rassismen zu problematisieren und spielerisch durcheinander zu bringen:

...the politics of race and culture have changed. The idea of a narrow, self-righteous, art-loving post-racism is – frankly – laughable. The self-confidence of subordinate English street cultures to deal with racial issues is demonstrable in their endemic philosophy of mixing it up and in their mongrel anthems. 14

Ein Installationskonzept sieht vor, Besucher durch ein "electronic gate" zu führen, das mit einer Videokamera ausgestattet ist, die Eintretende aufnimmt. Das aufgenommene Porträt soll in der Installation hinter dem "gate" auf einen Monitor projiziert werden und durch Rechneranalyse einem der acht "stereotypeheads" (s. o.) zugeordnet werden.

Eine Infrarotkamera soll als Sensor für Körperwärme dienen und den Besucher orten können. Mittels dieser Ortung sollen zwei der Gesichtsbilder, die für die Poster vorbereitet wurden, mit ihren Augen den Bewegungen des Besuchers folgen können. Zunächst sollen die Gesichter ohne "depictions of abuse", also ohne Maske, erscheinen. Daraus folgt im Zusammenhang der im Installationskonzept beschriebenen Installationsteile, dass "stereotypeheads" zuerst ohne, dann mit Maske projiziert werden.

Besucher sollen beim Eintritt in den Installationsraum Projektionen von Spucke, die auf die erwähnten Präsentationen von Gesichtern fliegt, auslösen:

As the spit appears to hit the head´s faces, the faces themselves will react and begin to counter the abuse applied to them by playing video recordings prepared for the installation´s data bank during the process of consultation with local community groups prior to the show. The recordings will appear in the projected images as mouths moving within the mouth area of the image´s mask with an appropriate spoken. 15
Ob die Phasen der Augen- und Mundbewegungen zu zwei alternativen Projekten gehören oder in einer Projektrealisation simultan ablaufen oder nacheinander folgen sollen, wird in dem Konzept leider nicht expliziert.

Die Absichten des Installationsprojektes werden so vorgestellt:

...the audience members are made to experience a situation in which they have forfeited their rights to their self-images as the cost of entering the work. Additionally, once in the work, they have no choice but to be caught up in a series of racial dichotomies and racial representations with which they are now contractully complicit.
Ein vorgesehener "pool of information" in der Installation, der die Ergebnisse der Realisation der geplanten Website (s. o.) zeigen soll, demonstriert den Willen der Planer, die verschiedenen Projektebenen von "National Heritage" in der Installation auch dann vorzuführen, wenn dies nur zu Annexen zu deren reaktivem System führt.

Die CD-ROM Natural Selection wird in der Ausstellung Der anagrammatische Körper (Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe, 8.4.-27.8.2000) als reaktive Installation (mit Beamer) vorgestellt. Durch den Cursor über die Bildfläche ziehende Mousebewegungen können User die Kombinationen der "stereotypeheads" von "National Heritage" mit >Masken< verändern. Durch Mouseklicks lassen sich entweder Spuckebilder oder Tonsequenzen auslösen. Die Tondokumente enthalten Berichte von Betroffenen, die rassistisch motivierten Hassaktionen und Verfolgungen ausgesetzt waren. Zitate der Tondokumente sind in großen schwarzen Lettern auf Wänden zu lesen, die rechts (deutsch) und links (englisch) an die Projektionswand anschließen. Es geht in den Tondokumenten um die alltäglichen Spuren rassistisch motivierter Aggression. Die Aussagen der Tondokumente kommentieren die Spuckeprojektionen. Zugleich werden die Aussagen von der restriktionslosen Variation aller möglichen Hautfarben-Kombinationen der Gesichter mit Masken konterkariert. Zwischen Maskenpräsentationen erscheinen auch maskenlose "stereotypeheads".


Mongrel: Natural Selection

"Natural Selection" (1998) ist ein Projekt von Harwood und Fuller für die "Mongrel"-Website, das die Absichten von "National Heritage", besonders der geplanten Website, in Form einer Suchmaschine rekonzeptualisiert. Die Suchmaschine ersetzt (sie war schon im Juni 2000 nur noch in einer Archivfassung abrufbar) bei – nach Harwood – " an die 8000 Schlüsselwörter[n]" 16 die URL-Adressen der angezeigten Sites durch eigene Webadressen. Der User erhält statt rechtsextremer, nationalistischer und rassistischer Inhalte Websites von Autoren von und aus dem Umkreis von "Mongrel Media".

Die Website entstand, nachdem Fuller und Harwood Fördergelder für eine Suchmaschine zu rechtsextremen Websites von The Arts Council of England bewilligt bekamen:

...die Idee war, wirklich eine Suchmaschine zu programmieren und uns mit diesem ganzen Komplex der Klassifizierungssysteme im Netz zu beschäftigen. Wir wollten von den Leuten [die Teile beisteuerten], dass sie sich damit beschäftigen, wie Rasse, Rassismus, Rassifizierung, Eugenik, all diese unterdrückerischen gesellschaftlichen Institutionen nun in die Netze und die vernetzten Medien migrieren. 17
Politisch korrekt geben sich die Webseiten von "Mongrel Media" auch deshalb nicht, um – wie in "Natural Selection" – den Dialog über Nationalismus und und Rassismus stützende soziale Rahmenbedingungen offen zu halten. Dies geschieht absichtlich in einer Weise, die Konfrontationen mit Neonazis und anderen zeitgenössischen Formen des Nationalismus und des Rassismus nicht ausschließt: Die Suchmaschine "Natural Selection" ist auch als Falle für Nationalisten und Rassisten angelegt, indem sie deren Inhalte zwar aufgreift, sie aber nicht direkt negiert, sondern ins Lächerliche zieht.

In Star Sites von "Natural Selection" erscheinen pseudorassistische, ironische und antirassistische Websites. Die Suchmaschine "Natural Selection" führt scheinbar neutral ein Spektrum von Meinungen vor, lässt aber mit Sites von bekannten, politisch positionierten Autoren wie

sowie mit ihrer "Linkliste" zu antirassistischen und multikulturellen Websites die eigene Position in diesem Spektrum erkennen.

Home und das "Critical Art Ensemble" führen Anhänger von Nationalismen und Eugenik in die Irre, indem sie Leser im Unklaren darüber lassen, ob die dargestellte Position ernst gemeint ist oder eine konzeptuelle Zuspitzung von Problempunkten darstellt. Bei Home spielt Rechtsextremismus in der Musikszene eine wichtige Rolle, während Critical Art Ensemble die Zusammenhänge von Eugenik und Ökonomie mittels der Fiktion der Genfirma "BioCom Industries" thematisieren.

In ihrer Vorstellung von "BioCom" überspitzen "Critical Art Ensemble" die Probleme der Gewinnbarkeit gewünschter Geneigenschaften durch Selektion. Die Selektionsmöglichkeiten werden von "BioCom" durch Listen, die (Schein-)Charakteristika menschlicher Rassen und Rassenmischungen aufführen, vorgestellt: Auch so können die Absurditäten des "hard core genetic determinism", der Verbindung zwischen vorcodierter Rassentypologie (die hier als werbewirksames Revival des Casta-Modells von Rassen und Rassenmischungen vorgeführt wird, das zur Zeit der Kolonisierung von Lateinamerika verwendet wurde) und gewinnorientierter Genforschung, aufgezeigt werden. Einerseits versucht die Firma "BioCom" möglichst viele Mischlingstypen zu vermarkten und dazu Vorurteile abzubauen, andererseits werden Vorurteile auch zur Vermarktung genutzt und wird Genmutation zur Exkludierung unerwünschter Nebeneigenschaften angeboten: "BioCom" wird zum Modell der Strategien neuer Eugenik und weist die dabei auftauchenden sozialen und moralischen Probleme indirekt auf.

Hakim Bey dagegen thematisiert in "Islam and Eugenics" das Problem der eigenständig werdenden Mischlingskulturen am Beispiel einer Sufi-Variante der "Moorish Orthodox Church" in Amerika. Bey zeigt damit die vorhandene soziale Dynamik als Potential zum Abbau von Vorurteilen gegenüber Rassen und Rassenmischungen.

Richard Pierre-Davis steuert das Spiel "BlackLash" (nur als Macintosh-Version programmiert) bei. "BlackLash" offeriert Spielern Rollen fiktiver Agenten. Die Wahl der Rolle bestimmt, welche Wege durch eine "urban warzone" führen. Ziel aller fiktiven Agenten ist die Eliminierung von Polizisten-Icons. Dieses Ziel wird je nach Rolle auf verschiedene Arten verfolgt. Die Polizei wird als zu bekämpfender Teil von Bandenkriminalität und Rassendiskriminierung, nicht als Mittel zu deren Beseitigung behandelt.

"Heritage Gold" ist eine weitere "Star Site" in "Natural Selection". "Heritage Gold" ist ein einfaches Programm zur Bildverarbeitung, um die Gestaltung von Websites zu erleichtern. Mittels dieses Programms weisen "Mongrel Media" "Natural Selection" nicht als geschlossenes System, sondern als Durchgang zu weiteren Netzaktionen aus. Die Passage von vorgegebenen zu möglichen Websites, die Betroffene von rassistischen und nationalistischen Angriffen einrichten können, situiert "Natural Selection" und "Mongrel Media" im Problemfeld zwischen netzinterner und sozial vorcodierter Interaktivität:

We are in the middle of a war of classification. Hierarchically ordered technology and structural racism mesh too easily together. Natural Selection will help to make both meet an inelegant extinction. 18


Mongrel: Linker & Invisible Geographies

Die Anregung zur Produktion von "Linker" entstand in Workshops. "Linker" ist ein frei abladbares, in Lingo (einem Programmteil von Macromedia Director) geschriebenes Programm, das Multimedia-Funktionen der Programme "Photoshop" und "Director" in stark vereinfachter Form zugänglich macht:

Linker has an easy drag and drop structure. 19

Linker is the multimedia equivalent of a throw-away camera. 20

Linker verhilft Nicht-Experten, denen die Zeit zur Erlernung ausdifferenzierter Programme fehlt, sich mit Mitteln der Multimedia-Datenverarbeitung – Bild, Ton, Worte und Video – ausdrücken zu können. Mit Linker können zum Beispiel "a kind of miniature family album with sound recordings, photos and so on" 21 erstellt werden.

Linker besteht aus einer in 16 "hot areas" aufgeteilten "map". Jede dieser "areas" enthält "acht Funktionen": "sound; map; scale; text; video; jump; image; chat". Die erste Ebene des Interface enthält 3 x 3 Bildzellen. Im Ordner "Map" müssen neun Bilder abgelegt sein, bevor das Programm geöffnet wird. Linker enthält also eine "map" mit "9 x 16 x 8 = 1152" Möglichkeiten:

Constraining the number of image cells in the Linker allows it to be filled fast at a basic level. It also forces user to make choices, to discriminate about the use of a particular graphic in relationship to the others within the fixed number of cells available. 22
Die Installation "Invisible Geographies" (Watershed Media Centre, Bristol 1999) besteht aus einem Raum mit vier Projektionen von "digital maps" der Stadt Bristol und einem weiteren Raum mit Möglichkeiten für Besucher, das der Installation zugrunde liegende Programm "Linker" selbst bei der Schaffung neuer Karten anzuwenden.

Die "digital maps" bestehen aus mehrschichtigen Ansichten der Stadt Bristol: So gelangt der Besucher zum Beispiel von einer geographischen Karte zu Texten mit Stadtbeobachtungen sowie zu "demographics of class, race and gender and disregarded stories." Die mehrschichtigen Karten kombinieren mittels "Linker" 23 Bilder, Text, Video und Ton. Beobachter können ihre Kommentare hinzufügen.

Graham Harwood stellt im Kapitel "Subjective Cities" seines Textes zu "Invisible Geographies" die Relation Karten-Stadtrundfahrt (1) und die Relation Programm-Programmanwendung (2) als Analogie vor: Wie in "Invisible Geographies" die "digital maps" über die in versteckte(n) Sozialgeschichte(n) eines urbanen Kontextes enthaltenen Chancen und Restriktionen aufklären (1), so ergeben sich aus der Programmstruktur die Möglichkeiten und Beschränktheiten der Programmanwendung (2):

Software exists in some form of invisible shadow world of process something like the key we find in maps. 24
Software ist für Harwood nicht nur ein neutraler Lieferant von Funktionen, sondern ist "always culturally and politically positioned, and part of this positioning is the invisibility of the software´s construction." 25 Auch Software bildet unsichtbare "social geographies" durch die Art, wie sie User durch "menu items" führt:
It [Software] objectifies the invisible cultural constructs within the work, reducing it to a series of binary choices that are hierarchically defined. 26
Harwoods Kommentar, nach dem Software kulturelle Vorcodierungen umsetzt, trifft nur einen Teil des Zusammenhangs zwischen sozialisierten Codes und Programmierung: Da Software aus Selektionen und Kombinationen von Funktionsmöglichkeiten besteht, kann sie nicht nur Vorcodierungen rekonstruieren, sondern kann das begrenzte Möglichkeitsspektrum von Vorcodierungen auch (in)direkt erweitern. Als "a symbolic representation of creative processes" übersetzt Software nicht exakt "a culturally agreed set of symbols" in ihre Anlage von "menu items and processes of interaction" 27, sondern transformiert Vorcodierungen auch unbemerkt. Dieses elektronische Transformationspotential ergibt sich also aus der nur approximativ möglichen, immer schon Verschiebungen enthaltenden Rekonstruktion sozialisierter Codes durch Programme und Programmfunktionen. Doch die Verschiebung des Normalen durch Versuche der Rekonstruktion, die Um- und Neukonstruktionen zur Folge haben, ist zwar nicht Teil der Theorie, dafür aber, wie oben an den bisher dargelegten Projekten gezeigt, Teil der künstlerischen Praxis von Harwood und Fuller.

Ein Transformationspotential, das von Um- zu Neukonstruktionen fortschreitet, präsentieren Harwood 1996 in "Rehearsal of Memory" (s. o.) und I/O/D 1997 in der Browser-Konstruktion des "Web Stalker" (s. u.): "Rehearsal of Memory" thematisiert mittels maschinell errechneten und gespeicherten Funktionen die institutionalisierte Gewalt. Als Mittel dieser Thematisierung dient die Darstellung der normalerweise von Darstellung Ausgeschlossenen. Im Vergleich zu den gängigen Browsern von Microsoft und Netscape eröffnet "Web Stalker" andere Übersichts- und Zugangsweisen zum HTML-Datenstrom. "Web Stalker" zeigt Zusammenhänge zwischen Netzdaten, die bei den üblichen Browsern unerkannt bleiben. In "Rehearsal of Memory" wie in "Web Stalker" lassen Präsentationsweisen Ausgeschlossenes sichtbar werden und machen Zusammenhänge transparent. In "Web Stalker" wird das Internet selbst zum Handelnden, der – wie die sich selbst darstellenden Patienten in "Rehearsal of Memory" – sich im Werkrahmen mit Eigenschaften vorstellen kann, die in normalen Zusammenhängen ausgeklammert sind oder wenig beachtet werden.


I/O/D: Web Stalker

Die drei Künstler Matthew Fuller, Colin Green und Simon Pope arbeiten seit 1994 in London an gemeinsamen Projekten. Sie nennen sich I/O/D, ein Name, der "as an acronym...stands for everything it is possible for it to stand for." 28 Fuller, Green und Pope veröffentlichten eine Webzeitschrift, deren multimediale Ausgaben I/O/D 1 - 3 als Macintosh-Dateien aus dem "archive" der I/O/D-Website abladbar sind. Ihr Thema beschreibt Fuller:

...the culture of software and of interaction and its implicit political and phenomenological dimensions. 29
I/O/D 2 wird als "the first interactive publication navigated solely by sound" ausgewiesen. Dagegen bestehen viele Beiträge in I/O/D 1 und I/O/D 3 (1996) aus kurzen Animationen, teilweise mit anklickbaren Funktionen.

In Graham Harwoods Beitrag für I/O/D 1 können Bienen durch Klicks zu Bewegungen über wiederholte, aneinander gefügte und ineinander geblendete Gesichtsausschnitte mit rollenden Augen und Ohren aktiviert werden.

I/O/D 2 besteht aus Klangdateien, deren Kombination der User manipulieren kann, indem er die Maus über eine monochrom schwarze Fläche bewegt, die ihm keine grafische Hilfe gibt, sondern ihn zwingt, sich ausschließlich im Klangraum zu verorten. Hörer müssen eruieren, welche Tonfolgen vorprogrammiert und welche Klänge Reaktionen auf Mausbewegungen sind.

Die London Psychogeographical Association (Ralph Rumney) war neben dem «Mouvement Internationale pour un Bauhaus Imaginiste» (Asger Jorn u. a.) und der Internationale lettriste (Guy Debord u. a.) eine der Gruppen/Ideen/Konzepte, die am 28.Juli 1957 in der Situationistischen Internationale gebündelt wurden. Die 1992 neu gegründete und unabhängige London Psychogeographical Association stellt in "Limbo" auf I/O/D 3 "Dante´s Vision of Hell" als Serie von aufeinander folgenden (und sich selbst auf dem Desktop installierenden) Ordnern vor. Die Ordner enthalten die folgenden Ordner als leere Dateien. So bilden die Titel der Ordner einen Text, der zuerst den Umschlag von Quantität in Qualität in der Hölle als Umschlag von mechanischen Torturen in körperliche Schmerzen vorstellt. Anschließend wird der Umschlag von Quantität in Qualität bei Software als Umschlag von "digitised quantities" in "esthetic qualities" thematisiert.

Dann spaltet sich dieser Stamm der Ordnerfolge (dank zweier Dateien in einem Ordner) in zwei Äste auf, die paralell Umschläge von Quantität in Qualität (und umgekehrt) auf der Waren- sowie auf der Informationsebene thematisieren. Der die Warenebene (mit einem Zitat von Asger Jorn) thematisierende Ast lässt sich offensichtlich auch als sakralisierte, naturwissenschaftlich fundierte Fortsetzung der im Stamm erwähnten Torturen der Hölle verstehen. Da nach der Aussage der Titeltextmontage des anderen Astes sich auf der Informationsebene aus Bezügen zwischen Quantitäten wahrnehmbare Phänomene generieren lassen, die als ästhetische Qualitäten ausweisbar sind, lässt sich dieser Ast als Fortsetzung des zweiten Teils des Stammes verstehen. Es geht offensichtlich in "Limbo" in kursorsischer Form um Parallelen und Verschiebungen, die sich im Vergleich zweier aufeinander folgenden, sich überlagernden Phasen der Geschichte, im an Produktion orientierten Verhältnis von Gebrauchs- und Tauschwert und in der Informationsgesellschaft, erkennen lassen.

Zugleich kann die Präsentationsform von "Limbo" als Experiment mit ästhetischen Qualitäten von Software verstanden werden, die der Werktext thematisiert. "Limbo" stellt eine selbstbezügliche Variante digitaler Psychogeographie vor, die Beobachtern Anregungen zur Reflexion zuspielt.

Der Browser Web Stalker wurde von I/O/D Ende 1997 zum ersten Mal als I/O/D 4 vorgestellt. I/O/D 4 kann in Windows- und Macintosh-Versionen abgeladen werden. I/O/D 5 ist in Vorbereitung.

I/O/D: Web Stalker 1997

I/O/D: Web Stalker, 1997, Browser (Foto vom Bildschirm, August 2000).

Nach dem Öffnen von I/O/D 4 erscheint ein Fenster mit einer schwarzen Fläche. Als Farbe der Fläche kann auch lila oder blau mittels pop-up menu gewählt werden. Durch Mousebewegungen mit dem Finger auf der linken Mousetaste lassen sich Rechtecke öffnen und in der Fläche in gewünschter Größe plazieren. Während der Cursor in einem Rechteck steht, kann mit einem Klick der rechten Mousetaste eine Tabelle mit Indices für die Funktionen "Map", "Crawler", "Extract", "Dismantler", "HTML Stream" und "Stash" geöffnet werden. Jede Funktion lässt sich in je einem Rechteck installieren und die Rechtecke können nach Belieben auf der Fläche plaziert werden.

Wird unter "Crawler" mit einem weiteren Klick auf der rechten Mousetaste das Fenster "Open URL" geöffnet und eine Webadresse eingegeben, dann zeigt "Extract" die Einwahl-Adresse dieser Website, "Map" die durchgesehenen Unteradressen und "HTML Stream" den Quelltext. "Crawler" >wühlt< Unteradressen der eingegebenen URL >durch<, wie dies "Map" und "HTML Stream" anzeigen. Die Funktionen "Extract" und "Dismantler" erfordern es, entweder dieselbe URL-Adresse wie unter "Crawler" zu wiederholen oder andere Adressen einzugeben. "Dismantler" ordnet kreisförmig die >Hauptkapitel< einer eingegebenen Website an, während "Map" alle Unteradressen einer URL-Adresse und alle Adressen, auf die externe Links dieser Website referieren, als Kreise anzeigt und mit Linien ihre Zuordnung darstellt. Kreise mit mehr Linien (bzw. URL-Adressen mit mehr Links) erscheinen größer.

Bei externen Links durchforstet "Crawler" nicht nur die aus einer Hauptadresse gewählte Unteradresse eines externen Links, sondern alle Unteradressen dieser Hauptadresse. In "Map" werden auch diese Unteradressen mit Kreisen versehen: "Map" zeigt also nicht nur die Links einer Website zu Unteradressen einer anderen Website an, sondern bezieht die gesamte externe Website in ein Kreisdiagramm ein.

Wenn in "Dismantler" oder "Stash" Kreise angeklickt werden, wird die zugehörige Webadresse an der Oberseite des jeweiligen Rechtecks angezeigt. Kreise aus "Dismantler" und "Map" lassen sich in "Stash" einfügen. Die "Stash"-Graphik verbindet die eingebrachten Kreise mit Linien. Wird "Stash" abgespeichert und wird diese Datei mit einem der üblichen Browser aufgerufen, so wird eine Seite mit Links zu Webadressen angezeigt. Die Links lassen sich jetzt unter normalen Netzbedingungen aufrufen. "Web Stalker" ersetzt nicht die üblichen Browser, sondern integriert deren Linkfunktionen in "Stash".

Links zwischen HTML-Dateien geben dem HTML-basierten "Web Stalker" Material, das er bearbeiten kann – Simon Pope:

...as long as each html document contains a link to another html document, the stalker will live. Pitch it into a netscape, microsoft, macromedia or java-only space and it will soon perish. 30

Mit den grafischen Oberflächen des "Web Stalker", der Websites als Ganze in ihrem weiteren Netzkontext anzeigt, lassen sich Teile der Websites (Unteradressen) anders als mit den üblichen Browsern auswählen: Die Übersicht auf einer Monitorfläche ersetzt lineare Klickketten von Link zu Link, von Fenster zu Fenster.

"Web Stalker" weist auf den Mangel der etablierten Browser, die Struktur einer Website in einer Übersicht auf der Bildschirmfläche anzuzeigen. Das Diagramm der Netzfunktionen des "Web Stalker" ersetzt das übliche Neben- bzw. Hintereinander von Unteradressen und gibt dem Beobachter die Möglichkeit der Wahl zwischen Unteradressen verschiedener Website-Adressen in einer Weise, die es erlaubt, Grenzen zwischen Websites nicht zu beachten, während gleichzeitig die Linien Website-Zugehörigkeiten erhalten. Linien zeigen Links an, die eine Unteradresse mit der übergeordneten Website-internen Adresse verbindet. Weitere Linien zeigen Links zu externen sowie zu internen Adressen an, die nicht von der Website-internen Struktur vorgegeben sind. Sowohl die Website-interne Schichtung als auch die in- und externe Verflechtung zwischen Webseiten werden sichtbar gemacht, allerdings in keiner sehr übersichtlichen Weise. 31

Im Vergleich zu den üblichen Browsern (Internet Explorer, Netscape) zeigt "Web Stalker" sowohl einen verengten Kontext einer Website in "Dismantler" als auch einen erweiterten Kontext in "Map" an.

Das auf einen netzexternen Datenträger abgespeicherte geschlossene System "Web Stalker" benötigt die Wiedereinbettung in die Netzarchitektur, um seine Systemfunktionen vorführen zu können. "Web Stalker" zeigt eine andere als die mit üblichen Browsern beobachtbare Seite der Netzarchitektur nur, sobald es mit dieser verbunden wird und URL-Adressen geöffnet werden: Funktionen, die in Browser Art geschlossene Systeme schaffen, liefern auch die Mittel zur Kontextualisierung im Netz und damit zur Offenheit für Browser-Externes, für Fremdbezüge. Der "Web Stalker" ist ein Beispiel für ein kontextreflexives System im Netzkontext.

Zwischen Browser-Grafik und ausgewählter Website entsteht eine Verbindung, die wegen der anschaulichen Einbettung der Website durch die "Map" in den weiteren, über die direkten Links hinausführenden Netzkontext auch als Kontext Kunst ausgewiesen werden kann. Wegen der Verbindungen zwischen den Dateien dieses erweiterten Kontextes, die "Stash" ermöglicht, kann "Web Stalker" außerdem als netzspezifische Form einer zweifachen Intertextualität charakterisiert werden: Zur textinternen Intertextualität kommt die kontextrelative hinzu. Eine textinterne Form der Intertextualität (als Kombination von Textformen bzw. -gattungen im jeweiligen Text) einer HTML-Datei kann zu Dateien in ihrer Netzumgebung verschiedene Beziehungen – der Affirmation, der Negation, der Spannung (als wechselseitige Negation), des Gleitens und des indifferenten Nebeneinanders – aufnehmen.

Da "Web Stalker" meist einige Zeit bei der Durchsicht aller relevanten Websites benötigt, erscheint die kontextrelative Intertextualität als verfolgbarer Prozess im Rechner. Indem "Web Stalker" einen Teil des Zusammenhangs von Rechenprozess, Netzarchitektur und HTML-Datenströmen sichtbar macht, ist er ein "Meta-Browser" 32. Meta-Browser sind Modelle, die Relationen zwischen Netzdaten so vorführen, dass die Vorführung dazu provoziert, Weisen der Netzbeobachtung zu problematisieren.

Die Probleme impliziter Restriktionen in etablierten sozialen Klassifikationsweisen werden in "Rehearsal of Memory" (s. o.) und in "Mongrel"-Projekten in verschiedenen Präsentationsmedien (Plakate, reaktive Installationen, Netzprojekte) thematisiert, während von I/O/D in "Web Stalker" die internen >Klassifikations-Strukturen< eines (Inter- und Trans-)Mediums – des Internet – untersucht werden: Es geht bei I/O/D im Unterschied zu "Mongrel Media" nicht vorrangig um semantische Aspekte in Beobachtungsoperationen (impliziter und) realer Leser, sondern auch und mindestens gleichberechtigt um den internen Leser. Der interne Leser besteht aus User-Funktionen und damit aus den im Programm enthaltenen Möglichkeiten, auf Beobachteroperationen zu reagieren.

Im Unterschied zu den semantischen Fragen der Klassifikation und der Gliederung in Ebenen, auf die sich die Mongrel-Projekte konzentrieren, werden in "Web Stalker" funktionale Fragen – als Fragen der Browserfunktionen – betont, die neue Möglichkeiten für Querverbindungen zwischen Netzadressen bieten, und so Folgen für den Umgang mit Semantik / Bedeutungsfeldern haben können – Fuller:

...we hope that as a piece of *speculative software* it just encourages people to treat the net as a space for re-invention...The Web Stalker establishes that there are other potential cultures of use for the web. 33
"The War of Classification" erhält sein Komplement in "The Browser Wars", die "nie gewonnen werden, aber auch nie aufhören." "Mongrelization" basiert in Webprojekten von "Mongrel Media" auf "the truly bastard that is the internet." 34 Dieser "Bastard" wird von I/O/D auf seine ungenutzten und verhinderten Möglichkeiten überprüft.

Fuller diskutiert die möglichen Zuordnungen des "Web Stalker" zu "the categories art, anti-art and non-art" und schlägt "not-just-art" für "tactical software" wie den "Web Stalker" vor, die das Problem stellt, "how program design is taken forward." 35 "Not-just-art" liefert Programmmöglichkeiten und Denkanregungen, aus denen nicht nur Kunst werden muss: Sie liefert "polykontextural" 36 verwendbare Bausteine "by virtue of acknowledging its integration into other systems - of valorisation, decoration, sociality etc." 37

Es gibt beim "Web Stalker" zwei Möglichkeiten seiner Zuordnung zur Kunst: Als Meta-Browser ist er kontextkritische Netzkunst im Sinne eines Modells für Netzbeobachtung, das von Expertenfragen absieht, wie zum Beispiel von dem Anspruch auf ein alle Funktionen enthaltendes Substitut für die etablierten Browser. Im Sinne von "not-just-art" liefert "Web Stalker" mögliche Voraussetzungen für Präsentationen verschiedener Kontexturen, darunter Kunst. Als Modell für Netzbeobachtung ist der "Web Stalker" heteronome Kunst im Sinne der "Intermedia Art", Modelle für generalisierende Weisen der Weltbeobachtung jenseits von Expertenkulturen zu schaffen. Zugleich ist der "Web Stalker" als Vorstufe zu Expertenkulturen/autonomen Systemen, aus der unter anderem auch autonome Kunst entstehen kann, noch "not-just-art".

Die Diskussion über Browser Art verweist also auf ein Problem der Verwendung des Kunstbegriffs sowohl im Sinne einer Generalisierung von "Weltbeobachtung" 38 (inklusive Medienbeobachtung) als auch im Sinne einer Spezialisierung auf "Kunstbeobachtung" 39 (nicht nur als Beobachtung kunsteigener Medien, sondern auch als Beobachtung des künstlerischen Gebrauchs von kunstextern entwickelten Medien).

Nachtrag:

Um die Übersichtlichkeit (durch die drei Teile "Rehearsal of Memory", "Mongrel" und "I/O/D") dieser im Juni 2000 konzipierten "Lektion in NetArt" zu erhalten, wurde auf eine Vorstellung dieser neuen Netzprojekte verzichtet:

Beide Projekte sind in Telepolis vorgestellt worden.40


Dr. Thomas Dreher
Schwanthalerstr. 158
D-80339 München.

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Übrigens: Drehers Homepage bietet zahlreiche kunstkritische Texte, u.a. zur Konzeptuellen Kunst und Intermedia Art.


Fußnoten:

1 Mongrel/Fuller, Matthew: War of Classification. In: URL: http://www.mongrel.org.uk/Natural/Mongrel/woc.html (12.6.2000, seit Juli 2000 nicht mehr im Internet. Diese "Lektion in NetArt" wurde Juni-Juli 2000 fertig gestellt. Als sie ins Netz gestellt werden sollte, stellte sich heraus, dass jeder Link zur Website "Mongrel" (http://www.mongrel.org.uk) zu einer Fehlermeldung führt. Nach e-Mail-Rückfragen, Schweigen von Graham Harwood und einem Hinweis von Matthew Fuller (14.9.2000), dass eine Wiederaufnahme der Website geplant sei, entschied sich der Autor im Dezember 2000 nach vergeblichem Warten auf die Wiederaufnahme, die Links dieser "Lektion" zu überarbeiten und die Website "Mongrel" als historisches Dokument zu behandeln, das mit der Kollaboration von Graham Harwood und Matthew Fuller in "Mongrel" (ab 1998) auch den britischen sozialkritischen Kontext beleuchtet, der die von Fuller mitgetragenen Software-orientierte "I/O/D" (ab 1994) ergänzt oder erweitert. Die nach URL-Adressen in Klammern angegebenen Daten informieren über den letzten Besuch d. A. auf einer nicht mehr existenten Webseite.)
Nach Graham Harwood (München, 20.10.2001) verhindern es interne Auseinandersetzungen, Mongrel in seiner alten Form wieder ins Netz zu stellen. Es gibt inzwischen eine neue Mongrel-Website, die die alte nur noch dokumentiert: URL: http://www.mongrelx.org/index.html. Bei "Natural Selection"sind die neuen Adressen der Star Sites eingefügt worden. Die alte wie die neue Mongrel-Website enthielten bzw. enthalten Dokumentationen von "Natural Selection". zurück

2 Harwood, Graham: Rehearsal of Memory. In: Leopoldseder, Hannes/Schöpf, Christine: Prix Ars Electronica 96. Wien 1996, S.141. zurück

3 Hill, Michael u. a.: Panel: Time and Duration (1996). In: The Language of Interactivity. URL: http://www.afc.gov.au/resources/online/afc_loi/presentations/a-time-duration.html zurück

4 Harwood, Graham: Rehearsal of Memory. CD-ROM. Bookworks, 19 Holywell Row, London EC2a 4JB, England, ISBN 1 870699 27 0. In: URL: http://www.bookworks-uk.ltd.uk/books/rehersal.htm zurück

5 Graham Harwood about his CD-ROM production called ROM Rehearsal of Memory. In: Next 5 Minutes Journal. URL: http://www.dds.nl/~n5m/texts/graham.html (9.6.2000, nicht mehr im Internet) zurück

6 s. Anm. 5 zurück

7 Harwood, Graham: Ethnic Bleaching. In: URL: http://www.mongrel.org.uk/NHprop/ethnic.html (9.6.2000, seit Juli 2000 nicht mehr im Internet) zurück

8 Harwood, Graham: Cultural Prestige and English Art or ignorance and filth. In: URL: http://www.mongrel.org.uk/NHprop/EngArt.html (9.6.2000, seit Juli 2000 nicht mehr im Internet) zurück

9 s. Anm.1 zurück

10 Mongrel: Context in Brief. In: URL: http://www.mongrel.org.uk/NHprop/context.hmtl (9.6.2000, seit Juli 2000 nicht mehr im Internet) zurück

11 Mongrel: Press Information for Immediate Release. In: URL: http://www.mongrel.org.uk/Natural/Mongrel/press.html (9.6.2000, seit Juli 2000 nicht mehr im Internet) zurück

12 s. Anm. 8. Vgl. Harwood, Graham: De Mongrel Tate Collection. In: URL: http://www.tate.org.uk/webart/mongrel/collections/mong11.htm zurück

13 Medosch, Armin: Mongrel Media: Die Bastarde der Medienkunst. In: Telepolis, URL: http://www01.heise.de/tp/deutsch/inhalt/sa/3343/1.html. Vgl. Harwood, Graham: De Mongrel Tate Collection. In: URL: http://www.tate.org.uk/webart/mongrel/home/intro.htm zurück

14 s. Anm. 8 zurück

15 Mongrel: Stage 2(b): Interactive National Heritage...In: URL: http://www.mongrel.org.uk/NHprop/stage2b.html (9.6.2000, seit Juli 2000 nicht mehr im Internet) zurück

16 Medosch, Arnim: Mongrel Media, s. Anm.13 zurück

17 Medosch, Arnim: Mongrel Media, s. Anm. 13 zurück

18 Mongrel: Natural Selection. Company History. In: URL: http://www.mongrel.org.uk/Natural/About/about.html (8.6.2000, seit Juli 2000 nicht mehr im Internet) zurück

19 Clark [J. A. Clark Turst]/DA 2 [Digital Arts Development Agency]: Digital Bursary 1999. Watershed Media Centre, Bristol, 8.-31. October 1999. In: URL: http://www.da2.org.uk/invisiblegeographies/index.htm (nur erreichbar über URL: http://www.da2.org.uk/ , Link "Projects") zurück

20 Fuller, Matthew: MongrelSoftTM Linker 1.2. In: URL: http://www.mongrel.org.uk/Linker/backtxt.html (8.6.2000, seit Juli 2000 nicht mehr im Internet) zurück

21 s. Anm. 20 zurück

22 s. Anm. 20 zurück

23 s. Anm. 19 zurück

24 Harwood, Graham: Invisible Geographies. In: URL: http://www.mongrel.org.uk/Linker/activities.html (8.6.2000, nicht mehr im Internet) zurück

25 s. Anm. 24 zurück

26 s. Anm. 24 zurück

27 s. Anm. 24 zurück

28 Fuller, Matthew: A Means of Mutation. Notes on I/O/D 4: The Web Stalker. In: URL: http://bak.spc.org/iod/mutation.html zurück

29 Saint-Claire, Isla: Interview with I/O/D (17.6.1999). In: URL: http://bak.spc.org/iod/isla.html zurück

30 Lovink, Geert: Interview with I/O/D, the Makers of Web Stalker. In: Nettime, 24.4.1998. In: URL: http://nettime.khm.de/nettime.w3archive/199804/msg00072.html zurück

31 s. d. A.: Net Art: zur Einführung. In: IASL online. Lektionen in NetArt. In: URL: http://iasl.uni-muenchen.de/links/NAEinf.html#Schichtung, Kap. Schichtung und Verflechtung zurück

32 Wisniewski, Maciej: NetomatTM. In: URL: http://www.netomat.net (s. d. A.: Informationschoregraphie: Maciej Wisniewski. In: IASL online. Lektion 7, Kap. "Meta-Browser". In: URL: http://iasl.uni-muenchen.de/links/lektion7.html#Browser) zurück

33 s. Anm. 30 zurück

34 s. Anm. 28 zurück

35 s. Anm. 29 zurück

36 Günther, Gotthard: Life as Polycontexturality. In: Ders.: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. Bd. II. Hamburg 1979, S.283-306; Kaehr, Rudolf: The Glossary of Polycontexturality (1996). In: URL: http://www.techno.net/pcl/glossary/items.htm zurück

37 s. Anm. 28 zurück

38 "Weltbeobachtung": Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997, S.1114,1118. zurück

39 "Kunstbeobachtung": Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1995, S.227,395f. Vgl. o. A.: Zur Diskussion gestellt: Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft [Rezensenten: Michael Hutter, Boris Groys, Niels Werber]. In: Soziale Systeme, 2/1996, Heft 1, S.153-177. Auch URL: http://www.uni-bielefeld.de/sozsys/deutsch/leseproben/kunst.htm zurück

40 Fuller, Matthew: A Container as a Mobile Media Laboratory. In: Telepolis. 3.4.2000. In: URL: http://www.ctmagazin.de/english/inhalt/sa/3508/1.html

Medosch, Armin: Die Schattenseiten der Kunst. In: Telepolis. 29.5.2000. In: URL: http://www.ctmagazin.de/tp/deutsch/inhalt/sa/3528/1.html. zurück


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