IASL online Forum. JAEGER: Schriftsteller als Intellektuelle

IASL Diskussionsforum online
Geschichte und Kritik der Intellektuellen

Leitung: Britta Scheideler


Georg Jäger
Schriftsteller als Intellektuelle

3.2.1 DDR


Die historischen Bedingungen der DDR ließen den spezifischen Spätfall einer Intellektuellenkultur entstehen. Bei seiner Rekonstruktion kann man zum einen dem parteiideologischen Diskurs folgen und auf die Idee der "Kulturnation" abheben. In diesem Rahmen erhielt der Schriftsteller einen (volks)erzieherischen Auftrag. Zum anderen kann man von der Doktrin des Marxismus-Leninismus als der "offiziellen Wahrheit" 90 ausgehen, die durch die Intellektuellen als Ideologen ausgelegt und vermittelt wurde.

Neben Ideologen vom Schlage Alexander Abuschs oder Kurt Hagers gab es den wohl seltenen Typus des "kommunistischen Intellektuellen", 91 wie ihn Jürgen Kuczynski repräsentierte. Da die vom ZK der SED gehütete "Wahrheit" normative Geltung beanspruchte und doch mit der Erfahrung in Widerspruch geriet, konnte der kritische Intellektuelle entstehen, der die Wirklichkeit an der Idee (und später auch umgekehrt die Idee an der Wirklichkeit) maß. Für den Typus des kritischen Intellektuellen in der DDR stehen exemplarisch Rudolf Bahro oder Robert Havemann. Wie beider Schicksal verdeutlicht, hatten unter Bedingungen der Diktatur kritische Intellektuelle die Konsequenzen ihrer Rede persönlich zu tragen (Beglaubigung durch Verfolgung). Unter einer gewissen Schwelle, wo sich für die Parteikader die "Machtfrage" stellte, bestand jedoch ein – je nach kulturpolitischer Situation mehr oder weniger großer – Spielraum für kritische Äußerungen. 92 Bedeutende Autoren wie Volker Braun, Stephan Hermlin, Stefan Heym oder Christa Wolf haben sie genutzt, die Bohemiens des Prenzlauer Berges konnten ihrem Nonkonformismus sogar unter Aufsicht der Stasi frönen. 93

Erste Argumentationslinie: Die "sozialistische Kulturnation" bzw. die "Kulturnation DDR" fungierte als staatlicher Gründungsmythos und war dazu gedacht, "den politischen Diskurs durch den Erziehungsdiskurs abzustützen und die Künstler als Künstler-Erzieher in das Machtsystem zu integrieren". 94 In diesem Sinne fungierte der Kulturbund als eine "politisch-moralische Anstalt", der die verschiedenen Gruppen der Intelligenz – Lehrer und Professoren, Pfarrer und Geistlichkeit, Literaten – zu gewinnen und umzuerziehen suchte. 95

Zu den wichtigsten Formationsbedingungen des Mythos von der Kulturnation zählte der Antifaschismus. Er verpflichtete die Bürger auf das Erbe des Humanismus und der Exilliteratur, das die heimkehrenden Exilanten verwalteten:

Die Geschichten von den gemordeten Antifaschisten waren die Heldensagen der DDR [...], und die Überlebenden erfüllten deren ideelles Vermächtnis – schon deshalb mußten sie im Recht sein. 96
Die Gegenbegrifflichkeit von Faschismus und Antifaschismus = Sozialismus verhinderte eine Auseinandersetzung mit dem Stalinismus und erwies sich als "Loyalitätsfalle". 97

Die Autorengruppe, "die sich in Ostberlin in einem bekennenden Antifaschismus zusammenfand," identifizierte sich "generell mit der Zielsetzung der Machtausübung"; Becher "hatte ein Bild der >neuen Kultur<, in dessen Zentrum der Dichter stand, umgeben von einer Aura und berufen, das Gewissen der Nation zu sein, also ein moralisches Amt auszuüben". 98 Damit war eine Intellektuellenschicht etabliert, der eine volkspädagogische und "sozialaktivistische" (Uwe Johnson) Aufgabe zuerkannt wurde.

Alexander Abusch 99 sprach von der "volkspädagogischen Aufgabe für alle Kulturschaffenden: mitzuwirken an der Erziehung neuer, von fortschrittlichem Geist beseelter, von einem Ethos der Arbeit erfüllter Menschen", Otto Grotewohl 100 pries in seiner Rede zur Eröffnung der Deutschen Akademie der Künste die Kunst als "die Hohe Schule der moralischen Erziehung der Nation". In dieses "Bündnis von Geist und Macht" war die Bevölkerung nicht eingeschlossen" "ihr blieb die Rolle des Unmündigen, für den andere die Vormundschaft übernahmen." 101

Die Vormachtstellung der Intelligenz in der DDR entsprach "dem vormodernen Systemstatus der volkspädagogischen Einbindung der Literaten und dem ideologisch sanktionierten Verharren in der Schriftkultur". 102 Stellt sich die DDR somit als "Spätfall des medialen Buchmonopols" (Jochen Hörisch) dar, das auf der "Textidolatrie" des Marxismus (Vilem Flusser) fußte? 103

Die zweite Argumentationslinie geht von der Konvergenz von Wahrheit, Moral und Macht in den sozialistischen Staaten aus:

Die Schaffung einer offiziellen Kultur wurde auf der Idee von einer offiziellen Wahrheit begründet, die alle Aspekte des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens organisieren sollte. 104
Schorlemmer spricht davon, daß in der sozialistischen Gesellschaft "staatsoffiziell Moral und Macht identisch" geworden seien, "so daß das Rütteln an der Macht als das Amoralische schlechthin galt":
Die Moral der guten Macht machte alles einfach. Die Frage hieß stets Wer – Wen? Wem zum Vorteil? Freund – Feind, fortschrittlich – rückschrittlich, friedenssichernd – kriegstreibend und so fort. 105
In dem Maße, wie die "Welt ideologischer Definitionen" zur "Lebenswelt" in Widerspruch geriet, wurde die "Wahrheit als gelebte Erfahrung" zur "Grundlage des Widerstandes gegen die totalitären Forderungen." 106
Die Grundlage der Antipolitik war die menschliche Erfahrung, die die kritischen Intellektuellen wahrnehmbar machten. 107
Für die kritische Intelligenz im ehemaligen Ostblock (= "Dissidenten") hat Václav Havel 108 diesen Deutungsansatz mit den folgenden Argumenten entwickelt:
  • Die Ideologie ist "die Hauptgarantie für die innere Konsistenz der Macht" (20) und ihrer Kontinuität. Mit ihr verfügt die Machtstruktur über "eine gewisse >metaphysische< Ordnung", die alle Glieder verbindet und "einer einheitlichen Art der >Selbstausweisung< unterordnet" (19). Sie prägt sich als "eine Art Kodex von >Verkehrsvorschriften< und >Orientierungstafeln<" für alle Interaktion und Kommunikation aus (19).

  • "Verstand und Gewissen" werden an die politisch Vorgesetzten delegiert, so daß es zum "Prinzip der Identifizierung des Machtzentrums mit dem Zentrum der Wahrheit" (12) kommt. Die Frage der Ideologie ist somit immer auch eine der Macht.

  • Indem sich zwischen der totalitären Ideologie und den "Intentionen des Lebens" eine Kluft auftut, kommt es zu einem universellen System der Lüge. Im Unterschied zu einer >klassischen< Diktatur führt die Grenze zwischen Herrscher und Beherrschten "de facto durch jeden Menschen, denn jeder ist auf seine Art ihr Opfer und ihre Stütze" (25; "Prinzip der gesellschaftlichen >Autototalität<"). "Die tiefe Krise der menschlichen Identität, die das >Leben in der Lüge< bewirkt", hat eine "moralische Krise der Gesellschaft" zur Folge. (33) Der Moral wächst eine das System bedrohende politische Bedeutung zu.

  • Die "Ideologie als Machtinterpretation der Wirklichkeit" hat die Tendenz, "sich von der Wirklichkeit zu emanzipieren, eine Welt des >Scheins< zu schaffen, sich zu ritualisieren." (19) Das ">Diktat der Phrase<" (21) vergewaltigt die authentische Erfahrung.

  • Die Dissidentenbewegungen haben einen "Abwehrcharakter": "Sie verteidigen den Menschen und die wirklichen Intentionen des Lebens gegen die Intentionen des Systems" (59) und stellen sich in den "Dienst an der Wahrheit" (70). Die "Perspektive einer umfassenden >existentiellen Revolution<" (84) zielt auf eine "sittliche Rekonstitution der Gesellschaft" (87), d.h. auf eine "Rehabilitation solcher Werte wie Vertrauen, Offenheit, Verantwortung, Solidarität, Liebe." (87)
Welche Punkte dieser Diagnose lassen sich auf die DDR übertragen? So konstatiert z.B. Jens Reich 109 daß "die behauptete Wahrheit" der "großen Lüge" von der Diktatur des Proletariats und der Klassenmacht der Arbeiter und Bauern "jede kleine Wahrheit so gefährlich, so brisant", "jeden Liedersänger und Schriftsteller potentiell zum Zerstörer des Systems" machte. "Kleine Wahrheiten waren systemsprengend", wenn sie den Widerspruch zwischen zwei Welten, einer "normal wahrer" und einer "deklariert wahrer Sätze", aufzeigten. 110

Wieso fehlte eine, den Verhältnissen in der Tschechoslowakei vergleichbare Dissidentenbewegung in der Schriftstellerszene der DDR? Liegt es hauptsächlich an der "deutsch-deutschen" Dissidentenproblematik 111 und der Praxis der Ausbürgerung?


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3.2.2 BRD

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1. Zielsetzung und Leitlinien der Argumentation
2. Zur Phänomenologie des Intellektuellen
2.1 Die Definition des Intellektuellen ist die Diskussion um seine Definition
2.2 Der Intellektuelle als Spezialist für das Wort
2.3 Der Intellektuelle als Sprecher allgemeinverbindlicher Werte
2.4 Der kritische Intellektuelle als Moralist
3. Der Schriftsteller als Intellektueller
3.1 Die Geburt des Schrifstellers als Intellektueller in der Dreyfus-Affäre
3.2 Zu Funktion und Rolle der literarischen Intelligenz in Deutschland nach 1945
4. "Intellektuellendämmerung?"
Ausblick auf die Mediengeschichte des Intellektuellen

(Anschrift des Autors, Copyright)
5. Literatur


Anmerkungen

Die mit der Angabe "in diesem Band" zitierten Aufsätze finden sich in dem Sammelband Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg.

90 Jeffrey C. Goldfarb: Intellektueller, heile dich selbst. Die politische Kultur und die Rolle der Intellektuellen in den neu entstandenen Demokratien. In: Ästhetik & Kommunikation, Jg.23, H.84, 1994, S. 65-75. Hier S.66. zurück

91 So der Nachruf von Holger Becker: Hemmungsloser Optimist. In: Junge Welt, 7.August 1997. zurück

92 David Bathrick: The Power of Speech. The Politics of Culture in the GDR. Lincoln, London: University of Nebraska Press 1995. Für ein historisches Verständnis der "Handlungsmöglichkeiten innerhalb der gegebenen politischen und institutionellen Rahmenbedingungen" s. auch ders.: Die Intellektuellen und die Macht. Die Repräsentanz des Schriftstellers in der DDR. In diesem Band. zurück

93 Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin: Ch.Links 1996, S.639-646 über Sascha Anderson und Rainer Schedlinski. zurück

94 Lutz Winckler: Kulturnation DDR – ein intellektueller Gründungsmythos. In: Argonautenschiff 1 (1992), S.141-149. Hier S.142. zurück

95 Wolfgang Schivelbusch: Vor dem Vorhang. Das geistige Berlin 1945-1948. München: Hanser 1995, S.129 und 121. zurück

96 Annette Simon: Versuch, mir und anderen die ostdeutsche Moral zu erklären (Reihe "edition psychosozial") Giessen: Psychosozial-Verlag 21996, S.41. zurück

97 Dazu Wolfgang Emmerich, der auch auf die Generationsfrage eingeht: Die Risiken des Dafürseins. Optionen und Illusionen der ostdeutschen literarischen Intelligenz 1945-1990. In diesem Band. Der Stalinismus markiere "das zentrale Tabu des verordneten DDR-Antifaschismus als Staatsdoktrin und Lebenslüge" (S. l). zurück

98 Ursula Heukenkamp: Becher fuhr nicht nach Wroclaw. In diesem Band. zurück

99 Alexander Abusch: Die Schriftsteller und der Plan (1948). In: A.A.: Literatur und Wirklichkeit. Beiträge zu einer neuen deutschen Literaturgeschichte. Berlin: Aufbau 1952, S.139-149. Hier S.140. zurück

100 Otto Grotewohl: Die Regierung ruft die Künstler (1950). In: O.G.: Im Kampf um die einige Deutsche Demokratische Republik. Reden und Aufsätze. Bd. II: Auswahl aus den Jahren 1950 und 1951. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin: Dietz 1959, S.5-26. Hier S.12. zurück

101 Hartmann: Schriftsteller als kulturpolitische Kader, S.l. zurück

102 Wolfgang Emmerich: Zwischen Hypertrophie und Melancholie. Die literarische Intelligenz der DDR im historischen Kontext. In: Intellektuellen-Status und intellektuelle Kontroversen im Kontext der Wiedervereinigung. Institut für kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien an der Universität Bremen, Materialien und Ergebnisse aus Forschungsprojekten des Institutes, H.4, 1993, S.5-21. Hier S.10. zurück

103 Zitate ebd., S.9 f. Vgl. ders.: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausg. Leipzig: Kiepenheuer 1996, S.13 und 456 f. zurück

104 Goldfarb: Intellektueller, S.66. zurück

105 Schorlemmer: Zu seinem Wort stehen, S.143 und 144. zurück

106 Goldfarb: Intellektueller, S.73. zurück

107 Ebd., S.74. zurück

108 Václav Havel: Versuch, in der Wahrheit zu leben (rororo aktuell Essay) Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1989 (entstanden 1978). Die Zitate werden im fortlaufenden Text in Klammern nachgewiesen. zurück

109 Reich: Abschied von den Lebenslügen, S.24. zurück

110 Ebd., S.65 f. zurück

111 Bathrick: Die Intellektuellen und die Macht, S.l, erinnert an "die Rolle des Westens in der Schöpfung dieses Idealtypus >Dissident<" und die unterschiedlichen "Projektionen auf die Dissidentenkultur in der DDR". zurück

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