IASL Diskussionsforum online Georg Jäger
2. Zur Phänomenologie des Intellektuellen Wer sich über Intellektuelle kundig macht, konsultiert Texte von Intellektuellen, welche die Figur entwerfen und ihr Eigenschaften, eine Rolle sowie Funktionen und Leistungen zuschreiben. "Über Intellektuelle sprechen in der Regel Intellektuelle;" 2 mithin hat man es mit einem sich selbst (re)produzierenden Diskurs zu tun. Was immer auch die Intellektuellen sind - sie und sie allein waren es, die ihre jeweiligen Definitionen entwarfen und verwarfen. Jeder Versuch, Intellektuelle zu definieren, ist ein Versuch der Selbstdefinition; jeder Versuch, den Status eines Intellektuellen zu gewähren oder zu verweigern, ist ein Versuch der Selbstentwerfung. Definieren und über Definitionen zu streiten sind das Kernstück der Produktion und Reproduktion des intellektuellen Ich. 3Die semantische Füllung des Begriffes ist Teil des gesellschaftlichen Kampfes um die ideologische Bestimmung und werthafte Besetzung zentraler weltanschaulicher Begriffe. In diesem Sinne spricht Dietz Bering, der die deutsche Wortgeschichte untersucht hat, von einem politischen "Wortkampf", d.h. von einem "Kampf um den Sieg bestimmter politischer Konzepte und Realitätsinterpretationen." 4 Dieser Kampf spitzt sich im Begriff des Intellektuellen zu, da er im Namen allgemeinverbindlicher Werte spricht und die Interpretation der Realität bzw. die symbolische Ordnung der Dinge betreibt (s. Kap. 2.3) Die "Verbalwaffe" Intellektueller wird durch Werturteile strukturiert: Von allen präzisen Definitionen verlassen, treten die Vor-Urteile selber als Definitionen auf, so daß man schließlich zum >Intellektuellen< erklären kann, wen man will. 5Zum Beleg stellt Bering ein "Hieb- und Stichwortverzeichnis" zusammen, in dem man die Synonyma, Unterscheidungen und (vorwiegend negativen) Konnotationen zum Begriff Intellektueller nachlesen kann. 6 In den jeweiligen politischen und weltanschaulichen Auseinandersetzungen wird der Begriff situationsspezifisch entfaltet.
Bis weit nach Ende des Zweiten Weltkrieges war der Begriff des Intellektuellen in der BRD vorwiegend negativ besetzt. 7 Gesellschaftspolitisch wurde er auf lange Zeit als kritisch, oppositionell und links eingestuft ("heimatlose Linke" der 50er, "intellektuelle Linke", "Linksintellektuelle", "Intellektuellenopposition" der 60er Jahre). Erst spät im Rahmen der Spiegel-Affäre 1962 8 oder auch erst der Schleyer-Affäre und Sympathisantendebatte im Herbst 1977 9 setzte sich in der BRD "ein Ensemble positiver Definitionselemente und Assoziationen" 10 durch. Intellektuelle galten demnach als Menschen, "die kritische Distanz zu den Mächtigen in den Staatsapparaten halten, Abstand halten auch zu den erstarrten Ideologien, Menschen, die sich faschistoider Denk- und rollenspezifischer Lebensweise entziehen, um streng an demokratischen Ideen und den Menschenrechten orientiert in der Stunde der Gefahr ihre Stimme öffentlich zu erheben." 11 Themen des Intellektuellen-Diskurses: Wer ist ein Intellektueller? Links-, Rechtsintellektuelle. Der Intellektuelle als Kritiker oder Ideologe. Beschimpfung des Intellektuellen, "Selbsthaß" von Intellektuellen. Gehen Sie zum nächsten Kapitel ... ... lesen Sie den kritischen Kommentar von Britta Scheideler ... ... oder springen Sie zu einem anderen Kapitel:
1. Zielsetzung und Leitlinien der Argumentation Anmerkungen Die mit der Angabe "in diesem Band" zitierten Aufsätze finden sich in dem Sammelband Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg. 2 Wolf Lepenies: Das Ende der Utopie und die Rückkehr der Melancholie. Blick auf die Intellektuellen eines alten Kontinents. In: Martin Meyer (Hg.): Intellektuellendämmerung? Beiträge zur neuesten Zeit des Geistes (Edition Akzente) München: Hanser 1992, S.15-26. Hier S.19. zurück 3 Zygmunt Bauman: Unerwiderte Liebe. Die Macht, die Intellektuellen und die Macht der Intellektuellen. In: Ute Daniel / Wolfram Siemann (Hgg.): Propaganda. Meinungskampf, Verführung und politische Sinnstiftung 1789-1989 (Fischer Tb. 11854) Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1994, S.172-200, 237-239. Hier S.172. zurück 4 Dietz Bering: "Intellektueller" in Deutschland ein Schimpfwort? Historische Fundierung einer Habermas-Lübbe Kontroverse. In: Sprache in Wissenschaft und Literatur 54 (1984), S.57-72. Hier S.68. Vgl. die grundlegende Untersuchung Berings: Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes. Stuttgart: Klett-Cotta 1978. zurück 5 Bering: "Intellektueller", S.64. zurück 6 Bering: Die Intellektuellen, S.464-478. zurück 7 Vgl. beispielhaft die Kontroverse zwischen Joseph O. Zöller (Heimatlose Kritik. Versuch einer Begriffsbestimmung des Intellektuellen. In: Die politische Meinung, H.41, 1959, S.43-50) und Walter Dirks (Heilige Allianz. Bemerkungen zur Diffamierung der Intellektuellen. In: Frankfurter Hefte, 1961, S.23-32). zurück 8 So Jürgen Habermas: Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland. In: Ders.: Eine Art Schadensabwicklung. Kleine Politische Schriften VI. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S.25-54. Zur Spiegel-Affaire vgl. Jürgen Seifert: Die Spiegel-Affäre. 2 Bde. (Texte und Dokumente zur Zeitgeschichte) Olten, Freiburg i.Br.: Walter 1966; David Schoenbaum: Ein Abgrund von Landesverrat. Die Affaire um den "Spiegel". Wien u.a.: Molden 1968. zurück 9 Freimut Duve / Heinrich Böll / Klaus Staeck (Hgg.): Briefe zur Verteidigung der Republik (rororo aktuell) Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1977. zurück |