IASL Diskussionsforum online Georg Jäger 4. "Intellektuellendämmerung?" Ausblick auf die Mediengeschichte des Intellektuellen Im Diskurs der Nachkriegszeit von Arnold Gehlen bis Hauke Brunkhorst und Wolf Lepenies wurden die schlechten Zukunftsaussichten, der "Fall" und die "Melancholie" der Intellektuellen unter gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen vielfach erörtert. Einige wenige zentrale Argumente stehen dabei im Vordergrund:
Die neue, der Sprecherrolle des Intellektuellen abträgliche Sozialstruktur läßt sich mit Gerhard Schultze als "Erlebnisgesellschaft" 126 oder mit Peter Fuchs und Niklas Luhmann als "polykontexturale Gesellschaft" 127 beschreiben. Muß man angesichts dieses gesellschafts- und mediengeschichtlichen Strukturwandels annehmen, daß der Kalte Krieg, mit seinem Legitimationsbedarf in beiden Lagern, den Bedeutungsrückgang des Intellektuellen-Diskurses vorübergehend aufgehalten hat? Nach der Auflösung des Ostblocks und der Wiedervereinigung wird jedenfalls allgemein mit der Verabschiedung des "Großintellektuellen" ein "Bruch der Intellektuellenrolle" konstatiert. 128 Geht man davon aus, daß der Intellektuelle medial sozialisiert ist und das "intellektuelle Gemeinwesen" (Dahrendorf) aus den textproduzierenden und -distribuierenden Institutionen besteht, hat man eine Mediengeschichte des Intellektuellen zu konzipieren. Der Wandel von der Druck- zur EDV-Kultur 129 läßt die als selbstverständlich angesehenen und deshalb nicht eigens thematisierten medialen Voraussetzungen seiner Sprecherrolle hervortreten: Die grundlegende Asymmetrie zwischen Sender und Empfänger, wie sie von Druckmedien (aber auch noch durchs Radio) hergestellt wird, gibt dem Intellektuellen die Möglichkeit, sich aus dem anonymen Publikum herauszuheben, sich als Individualität zu inszenieren und seine Botschaften zum Bezugspunkt anschließender Meinungsbildungen zu machen. Das Fernsehen hat die Asymmetrie aufrechterhalten, das Wort, das Arbeitsmittel des Intellektuellen, aber dem Bild untergeordnet. Grundsätzlich bricht mit dieser Asymmetrie, auf der "die imaginäre Macht der Intellektuellen" über "die symbolische Herrschaftsordnung" beruht haben dürfte, 130 sieht man vom Telefon ab erst die interaktive EDV-Kommunikation. Ich stelle mir vor: Ein Intellektueller im Internet. Was treibt er da? Irgendwann jedenfalls muß mit ihm eine Veränderung vorgegangen sein, denn ein Intellektueller kommt nicht so leicht in dieses Netz. Dazu muß er erst ein anderes Verhältnis zu seinen Büchern gewonnen haben. 131Der Rede von der "Intellektuellendämmerung" 132 widersprechen inzwischen Vertreter der neuen Mediengeneration: Tritt der traditionelle Intellektuelle als Produkt der Druckkultur ab, so entstehe im Gefolge der vernetzten EDV-Kultur der "Virtuelle Intellektuelle": In fact, the intellectual as opinion leader is slowly losing ground. What we see is the rise of the VI, the Virtual Intellectual. 133Ob der "Netz-Intellektuelle" eine gesamtgesellschaftliche Sprecherrolle, die über die Partialöffentlichkeiten von Diskussionsrunden auf dem Netz hinausgeht, überhaupt noch beansprucht und wie er sie wahrnehmen könnte, steht dahin. Das Projekt des Virtuellen Intellektuellen weist jedenfalls auf die mediengeschichtlichen Bedingungen und Wandlungen der Intellektuellenrolle. Gehen Sie zum nächsten Kapitel ... ... lesen Sie den kritischen Kommentar von Britta Scheideler ... ... oder springen Sie mit Hilfe des Inhaltsverzeichnisses:
1. Zielsetzung und Leitlinien der Argumentation Prof. Dr. Georg Jäger Copyright © by the author. All rights reserved. Anmerkungen Die mit der Angabe "in diesem Band" zitierten Aufsätze finden sich in dem Sammelband Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg. 123 Arnold Gehlen: Die Chancen der Intellektuellen in der Industriegesellschaft. In: Neue deutsche Hefte 1 (1970), S.3-15. Wiederabdruck: A. G.: Einblicke, S.25-38. Schon damals vermutete Gehlen, daß sowohl im Westen wie im Osten "die Epoche der großen diesseitigen Gestaltungsideologien, die im Jahre 1789 begann, wahrscheinlich abgeschlossen sei" (Einblicke, S.25). zurück 124 Hauke Brunkhorst: Der entzauberte Intellektuelle. Über die neue Beliebigkeit des Denkens (Sammlung Junius 19) Hamburg: Junius 1990. zurück 125 Luhmann: Soziale Systeme, S.325. zurück 126 Gerhard Schultze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. 5.Aufl. Frankfurt a.M.: Campus 1985. zurück 127 Peter Fuchs: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. Zur Konstruktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. Dazu jetzt umfassend Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. zurück 128 Klaus Hartung: Über das Ja und das Nein. Auch der Bundespräsident vermißt ihn bereits: Neue Überlegungen zur Rolle des Intellektuellen in der künftigen "Berliner Republik". In: Die Zeit, 19. Dezember 1997, Nr.52, S.41 f. Gegen das "Verabschiedungsszenarium", das dem "Wunschbild einer Gesellschaft ohne Alternativen" die kritische Intellektuellenrolle opfert, wendet sich Michael Stark: "Die jüdischen Intellektuellen". Antisemitischer Code und diskursive Interferenz. In diesem Band. zurück 129 Georg Jäger: Printkultur vs. EDV-Kultur. Zur Medialität des Textes. Typoskript zur Vorlesungsreihe Literaturwissenschaft Medienwissenschaft Medienkulturwissenschaft an der Universität Hamburg im WS 1997/98. Erscheint im Sammelband dieser Vorlesungsreihe. zurück 130 Geert Lovink / Pit Schultz: Academia Cybernetica. Ueber die Sintflut als Internet. URL: http://www.thing.or.at/thing/texte/loovink4.html (Stand: April 1998). zurück 131 Stephan Wehowsky: Notizen zu einer unmöglichen Daseinsform. Die Rolle des Intellektuellen nach dem Ende der Avantgarde. In: Neue Rundschau 106, 1995, H.4, S.93-107. Hier S.93. zurück 132 Meyer (Hg.): Intellektuellendämmerung? zurück 133 Geert Lovink: Portrait of the virtual Intellectual. On the design of the public cybersphere (July 13, 1997) Aufmerksamkeit erregte der Wechsel von Michael Kinsley der sich als Chefredakteur der Monatszeitschriften The New Republic und Harper's, "zwei Säulen der >denkenden< Presse in den USA", einen Namen gemacht hat zur Online-Zeitschrift Slate von Microsoft. Leo Jacobs: Der intellektuelle Diskurs wandert ins Internet ab. In: Berliner Morgenpost, 26. November 1996. zurück |