IASL online Forum. JAEGER: Schriftsteller als Intellektuelle

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Geschichte und Kritik der Intellektuellen

Leitung: Britta Scheideler


Georg Jäger
Schriftsteller als Intellektuelle

2. Zur Phänomenologie des Intellektuellen

2.3 Der Intellektuelle als Sprecher allgemeinverbindlicher Werte, dessen Tätigkeitsfeld die symbolische Ordnung der Dinge ist


Der Intellektuelle ist der "Wissenshalter" und "Wissensverwalter" einer Gesellschaft, 24 als Träger der Gesellschaftsentwürfe ist sein Tätigkeitsfeld die symbolische Ordnung der Dinge. Von den universellen Ideen, den großen geschichtlichen Erzählungen (Lyotard), den gesellschaftlichen Grundwerten und Menschenrechten her legitimiert er seine Rede. Der Intellektuelle stellt "Fragen wie: Was ist gut? Was ist böse? Was sollen wir tun?" 25 Er verfügt über ein "sozial-teleologisches Wissen", es "orientiert und reguliert das Verhalten der Gesellschaftsmitglieder entlang kultureller Normen und Werte und legt die gesellschaftlichen Zwecke und Zielsetzungen fest". 26 Mit Hilfe dieses Wissens stellt der Intellektuelle die aktuellen Ereignisse und Erfahrungen in den Horizont übergreifender Ordnungen.

Diese Funktion des Intellektuellen wird in den klassischen Schriften immer wieder betont, aber unterschiedlich konzeptualisiert: Nach Julien Benda 27 ist das Amt der Intellektuellen ("clercs") die Verteidigung ewiger, universeller und interessefreier Werte wie Gerechtigkeit, Wahrheit und Vernunft. Vom Verrat der Intellektuellen – so der Buchtitel – spricht er, wo die Intellektuellen sich zugunsten einer exklusiven und partikularen National-, Volks-, Rassen- oder Klassenidentität engagieren. Der Intellektuelle als Priester von Diesseitsreligionen, als Ideologe säkularer Heilslehren sind Grundfiguren im kritischen Diskurs über den Intellektuellen.

Jean-François Lyotard 28 hebt die "Idee der Universalität" als Legitimationsbedingung des Intellektuellen hervor. Intellektuelle sind

Geister, die vom Standpunkt des Menschen, der Menschheit, der Nation, des Volks, des Proletariats, der Kreatur oder einer ähnlichen Entität aus denken und handeln. Sie identifizieren sich mit einem Subjekt, das einen universellen Wert verkörpert; sie beschreiben und analysieren von dieser Position aus eine Situation oder Lage und folgern, was getan werden muß, damit dieses Subjekt sich verwirkliche oder wenigstens seine Verwirklichung voranschreite. 29
Als Vertreter allgemeiner Werte, zeichne den Intellektuellen ein Hang zum Prinzipiellen aus. Von der symbolischen Macht der Intellektuellen spricht Pierre Bourdieu und meint damit die Herrschaft über die "Weltsicht", "das heißt die Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien von Welt, die Konstruktionsprinzipien von sozialer Welt, die Definition dessen, was wesentlich und was unwesentlich ist, was würdig ist, repräsentiert, dargestellt zu werden, und was nicht". 30

Der Anspruch der Intelligenz auf Vertretung eines Ganzen gründet sich auf unterschiedliche und wechselnde ideologische Positionen. Lyotard führt die Ideologiegeschichte der Moderne auf drei große Meta-Erzählungen zurück:

  1. die Emanzipation der Menschheit (Aufklärung),
  2. die Teleologie des Geistes (Idealismus) und
  3. die Hermeneutik des Sinns (Historismus).
Diese Meta-Erzählungen waren das Thema der Intellektuellen, im Namen dieser universellen Subjekte legitimierten sie ihre Rede.

Der Anspruch auf eine Sprecherrolle erhielt sich in so unterschiedlichen ideologischen Formationen wie dem Marxismus und Nationalsozialismus, wenngleich er unterschiedlich begründet wurde. Im Marxismus, der das Klasseninteresse des Proletariats zum Gesamtinteresse der Menschheit erklärt, machte sich die Intelligenz "zum Fürsprecher des in der Arbeiterklasse verkörperten Gesamtinteresses". 31 Die nationalsozialistische Rhetorik feierte den Künstler als "begnadeten Sinngeber", dessen "göttliche Mission" – das war das entscheidend Andere – "aus dem Volk" stamme und nur in ihm sich erfüllen könne. 32 Gegenüber der Partei waren die Intellektuellen in beiden Fällen in der "Stellung von beherrschten Herrschenden". 33

Mit dem Anspruch auf Universalität stellt sich der Intellektuelle dem Experten gegenüber. Der Experte kann sich auf fachspezifische Fähigkeiten und Kenntnisse berufen, die er in der Regel in einer Ausbildung erworben und durch Prüfungen nachgewiesen hat. Gegenüber den Spezialisten sind die Intellektuellen "Fachleute eines integrierenden Dilletantismus". 34

Da der Intellektuelle mit universellen, also unspezifischen Normen arbeitet, entbehrt seine Rede der sozialen Kompetenzsicherung; sie erfolgt nicht im Rahmen einer Profession, sie ist fachlich nicht gedeckt und insofern inkompetent. Der Soziologe Rainer Lepsius 35 bezeichnet in diesem Sinne die "inkompetente, aber legitime Kritik" als das Feld der Intellektuellen. Im politisch-sozialen Bereich ist das Bestehen von öffentlich anerkannten Grundwerten (Freiheit, Gleichheit, Menschlichkeit u.a.) die Voraussetzung derartiger Kritik.

Die Herrschaft der Intellektuellen über die Weltsicht ist der Stein des Anstoßes für ihre Kritiker. Auf soziologisches Niveau brachte die Argumente Helmut Schelsky 1975 in dem Pamphlet Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen. 36 Darin bezeichnet er die Intellektuellen als "Reflexionselite", deren Wirkungsmacht den "meinungs- und glaubenshaften Letztwerten" entstammt, mit denen sie "die Heilsherrschaft über alle Wirklichkeit" beanspruchen. 37 In ihrer Polemik ist die Argumentation Schelskys durch die Frontstellung gegen die Frankfurter Schule und die linke Intelligenz zeitgeschichtlich geprägt. Richard Löwenthal 38 kritisierte überzeugend folgende Grundannahmen:

  • den unzulässigen Gebrauch des Klassenbegriffs,
  • die Gleichsetzung von Einfluß, den allein die Intellektuellen ausüben, mit Macht (= Verfügung über Zwangsmittel) und
  • die Verwechslung von diesseitigen Heilsverheißungen mit Religionen.

Themen des Intellektuellen-Diskurses: Der Intellektuelle als Sprecher im Namen universeller Werte, seine "Sendung" und "Statthalterattitude". 39 Sein "Verrat" an diesen Werten, der Intellektuelle im Dienst partikularer Ideologien. Die Intellektuellen als Priester von Diesseitsreligionen. Das Legitimationsproblem, der Intellektuelle und der Experte. Der Intellektuelle und die Welt der Arbeit, seine Weltfremdheit.


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Der kritische Intellektuelle als Moralist

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1. Zielsetzung und Leitlinien der Argumentation
2. Zur Phänomenologie des Intellektuellen
2.1 Die Definition des Intellektuellen ist die Diskussion um seine Definition
2.2 Der Intellektuelle als Spezialist für das Wort
3. Der Schriftsteller als Intellektueller
3.1 Die Geburt des Schrifstellers als Intellektueller in der Dreyfus-Affäre
3.2 Zu Funktion und Rolle der literarischen Intelligenz in Deutschland nach 1945
3.2.1 DDR
3.2.2 BRD
4. "Intellektuellendämmerung?"
Ausblick auf die Mediengeschichte des Intellektuellen

(Anschrift des Autors, Copyright)
5. Literatur


Anmerkungen

Die mit der Angabe "in diesem Band" zitierten Aufsätze finden sich in dem Sammelband Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg.

24 Jens Reich: Abschied von den Lebenslügen. Die Intelligenz und die Macht. Berlin: Rowohlt 1992, S.33 und 26. zurück

25 György Konrád / Iván Szelényi: Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht (st 726) Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S.52. Das Wissen, für das die Gesellschaft "Intelligenzstatus und -macht" verleiht, wird von den Autoren als "transkontextuell" gültiges Orientierungswissen qualifiziert (Kap.I 3 b). zurück

26 Hans-Willi Weis: Arbeiterbewegung und Intelligenz. Eine unbewältigte Problematik der sozialen Emanzipation. In: forum ds 8 (1979), S.103-133. Hier S.112. zurück

27 Julien Benda: Verrat der Intellektuellen. Frankfurt a.M. u.a.: Ullstein 1983 (erstmals 1927, mit Zusätzen 1946). zurück

28 Jean-François Lyotard: Grabmal des Intellektuellen (Edition Passagen 2) Graz, Wien: Böhlau 1985, S.18 (La Condition postmoderne, 1979). zurück

29 Ebd. S.10. zurück

30 Pierre Bourdieu: Das intellektuelle Feld: Eine Welt für sich. In: P. B.: Rede und Antwort (es 1547) Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S.155-166. Hier S.165. zurück

31 Weis: Arbeiterbewegung und Intelligenz, S.118. zurück

32 Joseph Goebbels: Die deutsche Kultur vor neuen Aufgaben. Rede zur Eröffnung der Reichskulturkammer am 15.11.1933 in Berlin. In: J.G.: Reden 1932-1945. Hg. von Helmut Heiber. Bindlach: Gondrom 1991, S.131-141. Hier S.134. zurück

33 Pierre Bourdieu: Die Intellektuellen und die Macht. Hg. von Irene Dölling. Hamburg: VSA-Verlag 1991, S.63. Reich (Abschied von den Lebenslügen, S.40) beschreibt "sozialistische Intelligenz" und Nomenklatura der DDR als "verfeindete Brüder". Er weist der Intelligenz eine Stellung "zwischen Herrschenden und Beherrschten" zu und arbeitet den Widerspruch zwischen "der herrschenden Klasse und ihrem hegemonialen Stand" heraus (S.24f.). zurück

34 Dirks: Heilige Allianz, S.29. zurück

35 Rainer M. Lepsius: Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen. In: Kölner Zs. für Soziologie und Sozialpsychologie 16 (1964), S.75-91. Hier S.88. – Wiederabdruck: R.M.L.: Interessen, Ideen und Institutionen. Opladen: Westdeutscher Verlag 1990, S.270-285. zurück

36 Helmut Schelsky: Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen. Opladen: Westdeutscher Verlag 1975. Weniger klar auf den Punkt bringt die Kritik an den Linksintellektuellen Kurt Sontheimer: Das Elend unserer Intellektuellen. Linke Theorie in der Bundesrepublik Deutschland. Hamburg: Hoffmann und Campe 1976. zurück

37 Schelsky: Die Arbeit tun die anderen, S.106 und S.94. zurück

38 Richard Löwenthal: Neues Mittelalter oder anomische Kulturkrise? Zu Helmut Schelsky's "Priesterherrschaft der Intellektuellen". In: Merkur 9 (1975), S.802-818. Wiederabdruck: R.L.: Gesellschaftswandel und Kulturkrise. Zukunftsprobleme der westlichen Demokratien. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1979, S.37-57. Schelskys Kennzeichnung als "Kardinal und Märtyrer" wies Böll ebenso zurück wie die ihm zugewachsene Rolle als "Gewissen der Nation": Heinrich Böll / Christian Linder: Drei Tage im März. Ein Gespräch (pocket 65) Köln: Kiepenheuer & Witsch 1975, S.104-112. zurück

39 Frank Trommler: Intellektuelle und Intellektuellenkritik in Deutschland. In: Basis 5 (1975), S.117-131. Hier S.118. zurück

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