IASL online Forum. JAEGER: Schriftsteller als Intellektuelle

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Geschichte und Kritik der Intellektuellen

Leitung: Britta Scheideler


Georg Jäger
Schriftsteller als Intellektuelle

3.1 Die Geburt der Figur des Schrifstellers als Intellektueller in der Dreyfus-Affäre


Der Begriff des Intellektuellen und die Figur des Literaten als Intellektuellen gehen auf die Interventionen Emile Zolas in der Dreyfus-Affäre zurück. 71 Der Offene Brief an den Staatspräsidenten J'accuse (L'Aurore vom 13.1.1898, auch an Plakatsäulen angeschlagen und als Broschüre vertrieben) wurde "zum Prototyp engagierten schriftstellerischen Handelns." 72 Zola machte "den Fall Dreyfus zu einer Angelegenheit der persönlichen Moral, der republikanischen Religion und ihrer drei Tugenden Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit". 73

Am Tag nach J'accuse (L'Aurore vom 14.1.1898) erschien unter der Überschrift Une protestation ein Aufruf, der unter der Bezeichnung "Manifeste des Intellectuels" in die Geschichte einging.

Zola gelang es, die Masse zu aktivieren und die Obrigkeit zu provozieren.

Seit Zolas Flugschrift greift die Öffentlichkeit unmittelbar selbst ein. Sie schreibt Protest- und Glückwunschbriefe an den Verfasser, sammelt Unterschriften und reicht Petitionen an die Regierung ein, sie organisiert sich, sie geht auf die Straße. 74
Zola wird in dem gegen ihn geführten Prozeß (7.-23. Februar 1898) wegen Diffamation verurteilt und flieht nach London.

Die damals aufkommende Gruppenbezeichnung "Les intellectuels", erstmals 1886 belegt, wurde als pejorativer Fremdbegriff von den Antidreyfusarden eingeführt und "von den engagierten Schriftstellern und Wissenschaftlern als positive Selbstbezeichnung aufgenommen". 75

Die Intervention Zolas kann als Gründungsakt der Figur des Schriftstellers als Intellektueller gelten. Der prototypische Charakter der Geschehnisse ergibt sich aus folgenden Merkmalen:

  • Ein Schriftsteller setzt sein Ansehen ein, um sich in einem konkreten Fall politisch zu engagieren.
  • Er tut dies im Namen allgemeiner aufklärerischer Werte wie der Wahrheit (in dem Artikel im Figaro vom 25.November 1897 heißt es: "La veritè est en marche, et rien ne l'arrêtra.") und der republikanischen Grundwerte (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit).
  • Der Schriftsteller bedient sich der Medien, um Öffentlichkeit herzustellen, und setzt dabei spezifische publizistische und rhetorische Mittel ein (Offener Brief, Appell, Erklärung, Resolution, Gruppenmanifest).
  • Der Schriftsteller bewährt sein Engagement, indem er persönlich die Konsequenzen trägt (Verurteilung, Exil).
Dieses kulturelle Muster verbindet sich von der Dreyfus-Affäre an mit dem Begriff des kritischen Intellektuellen.

Unter Bezug auf das Vorbild Zola wird von Heinrich Mann mit dem Essay Geist und Tat 76 "die Figur des tagespolitisch aktiven Intellektuellen" 77 1910 in Deutschland eingeführt. Der programmatische Text skizziert Grundlinien einer "Geistpolitik" und entwickelt eine argumentative und begriffliche Grundlage zur Legitimation der Führer- und Sprecherrolle des Schriftstellers in öffentlichen Angelegenheiten. Als oberster Normgeber gilt eben der "Geist", er ist Quelle aller positiven Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Menschenliebe oder Demokratie. Zum wichtigsten korrelativen Begriff des "Geistes" wird das "Volk", zum wichtigsten Attribut das "Schaffen".

Auf die Begriffe von "Geist" und "Leben" (für die Rolle des vitalistischen Lebensbegriffs vgl. das Manifest Der Dichter greift in die Politik von Ludwig Rubiner 1912 78) stützt sich zu Teilen der Diskurs der literarischen Intelligenz in der zeittypischen "intellektuellen Gemengelage" der Weimarer Republik. 79 In Rahmen dieses Intellektuellen-Diskurses, der nach dem Zweiten Weltkrieg für wenige Jahre wiederauflebte, 80 firmieren die Intellektuellen als "die Geistigen", "die geistig Tätigen" oder "Geistesarbeiter".

Institutionell begleitet wurde dieser Diskurs von Versuchen zur "Organisation der Intelligenz", 81 wie sie vor allem durch Franz Pfemferts Zeitschrift Die Aktion 82 und im Rahmen des Aktivismus von Kurt Hiller 83 in Deutschland und von Robert Müller in Österreich erfolgten. Der Aktivismus, "die handlungstheoretische Variante des Expressionismus", vollzog "den Schritt von der Utopie zur Politik, vom >Geist< zur >Tat<" und glaubte, von der Kunst und Literatur aus eine gesellschaftspolitische Neuorientierung erreichen zu können. 84


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3.2 Zu Funktion und Rolle der literarischen Intelligenz in Deutschland nach 1945

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1. Zielsetzung und Leitlinien der Argumentation
2. Zur Phänomenologie des Intellektuellen
2.1 Die Definition des Intellektuellen ist die Diskussion um seine Definition
2.2 Der Intellektuelle als Spezialist für das Wort
2.3 Der Intellektuelle als Sprecher allgemeinverbindlicher Werte
2.4 Der kritische Intellektuelle als Moralist
3. Der Schriftsteller als Intellektueller
3.2.1 DDR
3.2.2 BRD
4. "Intellektuellendämmerung?"
Ausblick auf die Mediengeschichte des Intellektuellen

(Anschrift des Autors, Copyright)
5. Literatur


Anmerkungen

Die mit der Angabe "in diesem Band" zitierten Aufsätze finden sich in dem Sammelband Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg.

71 Dazu grundlegend Christophe Charle: Naissance des >intellectuels< (1880-1900). Paris: Les Éditions de Minuit 1990. Zur Begriffsgeschichte William M. Johnston: The Origin of the Term >Intellectuals< in French Novels and Essays of the 1890s. In: Journal of European Studies, 1974/4, S.43-56, sowie Bering: Die Intellektuellen, Kap.2. Zum Intellektuellen-Diskurs in Frankreich vgl. Joseph Jurt: "Les intellectuels": ein französisches Modell, in diesem Band; Jean-François Sirinelli: Intellectuels et passions françaises. Manifestes et pétitions. Paris: Fayard 1990. zurück

72 Joseph Jurt: Agitation und Aufklärung – Die Bedeutung der öffentlichen Meinung, der publizistischen und schriftstellerischen Intervention bei der Affäre Dreyfus. In: Mainzer Komparatistische Hefte 3: Jüdische Literatur, 1979, S.29-48. Hier S.39. Vgl. ders.: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1995. Darin: Die Geburt der Intellektuellen aus dem Geist der Dreyfus-Affäre, S.209-225. zurück

73 Ebd., S.38. zurück

74 Ebd., S.39. zurück

75 Ebd. zurück

76 Heinrich Mann: Macht und Mensch. Essays. Zus.gest. von Peter-Paul Schneider (Studienausg. in Einzelbänden, Fischer Tb. 5933) Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1989, S.11-18. Zur Genese der "Geist-Tat"-Problematik s. Reinhard Alter: Die bereinigte Moderne. Heinrich Manns "Untertan" und politische Publizistik in der Kontinuität der deutschen Geschichte zwischen Kaiserreich und Drittem Reich (STSL 49) Tübingen: Niemeyer 1995, Kap. I 5. Dokumentation des Intellektuellen-Diskurses: Michael Stark (Hg.): Deutsche Intellektuelle 1910-1933. Aufrufe, Pamphlete, Betrachtungen (Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt 58) Heidelberg: Lambert Schneider 1984. zurück

77 Trommler: Intellektuelle, S.123. zurück

78 Ludwig Rubiner: Künstler bauen Barrikaden. Texte und Manifeste 1908-1919. Hg. von Wolfgang Haug (Sammlung Luchterhand 630) Darmstadt: Luchterhand Literaturverlag 1988, S.61-73. zurück

79 Manfred Gangl: Interdiskursivität und chassés-croisés. Zur Problematik der Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. In diesem Band. Der Autor versucht den komplexen, in Gegenbegriffen wie progressiv / regressiv, rational / irrational, modernistisch / antimodernistisch u.ä. schwer erfaßbaren Äußerungen mit Modellen von "Interdiskursivität" und "Austauschdiskursen" gerecht zu werden. Vgl. M.G. / Gérard Raulet (Hgg.): Die Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage. Frankfurt a.M.: Campus 1993 sowie Michael Stark: Für und wider den Expressionismus. Die Entstehung der Intellektuellendebatte in der deutschen Literaturgeschichte. Stuttgart: Metzler 1982. zurück

80 Vgl. z.B. Peter Suhrkamp: Forderung an die Geistigen. In: Nordwestdeutsche Hefte 2 (1948), S.22 f. zurück

81 So der Titel einer Schrift Viktor Huebers, die 1910 in 3. Auflage erschien. zurück

82 Franz Pfemfert: Ich setze diese Zeitschrift wider diese Zeit. Sozialpolitische und literaturkritische Texte. Hg. von Wolfgang Haug (SL 559) Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1985. zurück

83 Juliane Habereder: Kurt Hiller und der literarische Aktivismus. Zur Geistesgeschichte des politischen Dichters im frühen 20. Jahrhundert (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft / B 20) Frankfurt a.M.: Lang 1981. Vgl. die Dokumentation von Wolfgang Rothe: Der Aktivismus 1915-1920 (dtv 625) München: dtv 1969. zurück

84 Armin A.Wallas: >Geist< und >Tat< – Aktivistische Gruppierungen und Zeitschriften in Österreich 1918/19. In: Literatur, Politik und soziale Prozesse. Studien zur deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Weimarer Republik (IASL, 8. Sonderheft) Tübingen: Niemeyer 1997, S.107-146. Hier S.107. zurück

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