IASL Diskussionsforum online Georg Jäger Auch für das westliche Nachkriegsdeutschland spricht Bernhard Giesen 112 von einem "Code der Kulturnation". Im Unterschied zur DDR, wo die Utopie des Kommunismus sich erstmals auf deutschem Boden verwirklichen sollte, fanden die meisten Intellektuellen in der BRD jedoch nicht oder nur schwer zu einem positiven Verhältnis zum Staat. Viele empfanden sich "als Einzelgänger und Außenseiter in einem neuen juste milieu"; 113 Schriftsteller wie Hans Werner Richter und Walter Dirks brachten die Restaurationsthese erfolgreich in Umlauf. 114 Haben Intellektuelle in dieser Lage ihr moralisches Projekt mit einer Grenzziehung zur Vergangenheit abgestützt, wie Giesen vermutet? Er konstatiert eine "Holocaustidentität" und beschreibt sie als "Konstruktion von kollektiver Identität durch Betroffenheit". 115 Die Besonderheit dieser Konstruktion nationaler Identität bestände (existentiell) in der Ausgrenzung des Bedrohlichen und (historisch) im Versuch einer Umerziehung der Deutschen. In beiden Rücksichten blieb das moralisch-kulturelle Projekt der Vergangenheit verhaftet und mußte deshalb im Fortgang der Geschichte an Plausibilität verlieren. In der zeittypischen Broschürenflut der Nachkriegsjahre äußerten sich auch Schriftsteller wie Ernst Wiechert 116 zur Situation der Zeit. Wie die Geschichte des westdeutschen PEN-Zentrums nahelegt, ging es den meisten Autoren der älteren Generation jedoch nicht um eine dauerhafte Institutionalisierung eines kritischen intellektuellen Diskurses. Der durch Autoren wie Kasimir Edschmid und Erich Kästner geprägte Klub führte in den 50er Jahren die Existenz eines auf geselligen und freundschaftlichen Verkehr ausgerichteten "Wohnzimmervereins", der sich politisch kaum engagierte. 117 Formierte sich erst durch die "junge Generation" von Autoren und die Gruppe 47 ein "intellektuelles Gemeinwesen"? Die Daten und Fakten sind bekannt und brauchen hier nicht referiert zu werden: Schriftsteller gegen Wiederaufrüstung, Atomrüstung, die US-Politik in Vietnam, die Notstandsgesetze usw.; Schriftsteller als Aktivisten der Friedensbewegung und der ökologischen Bewegung; die öffentlichen Interventionen von Böll, Grass und anderen Autoren als Wahlkämpfer der SPD ... In diesen Auseinandersetzungen bewährten sich die Schriftsteller als "Gewissen der Nation", indem sie auf universelle Werte, auf Menschen- und Bürgerrechte pochten, in unterschiedlichem Maße auch noch einmal die großen "Meta-Erzählungen" (Lyotard) von der Aufklärung und dem "Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" aktivierten und die Utopien des Sozialismus und Kommunismus aufriefen. Im Rückblick erhält so auch die bundesdeutsche Phase der Intellektuellenkultur restaurative und spätzeitliche Züge (wie möglicherweise die "Erfindung des totalen Intellektuellen" durch Sartre in Frankreich 118). Die Intellektuellen pflegten die seit der Dreyfus-Affäre üblichen Formen der öffentlichen Intervention Reden, Offene Briefe, Appelle, Erklärungen, Manifeste, Begegnungen , öffneten sich jedoch nur zögernd den neuen aktionistischen Protestformen der außerparlamentarischen Opposition, 119 der Friedens- und Bürgerbewegung mit ihren Lichterketten, Ostermärschen, Menschenketten, Mahnwachen, Schweigemärschen, Sitzblockaden usw. Auf der Zweiten Berliner Begegnung Den Frieden erklären (1983) war man willens, sich künftig im Stationierungsgebiet von Atomraketen zu versammeln, d.h. aus den Tagungsräumen herauszugehen, um "bei den Leuten" zu sein, "die entschlossen sind, Widerstand zu leisten" bzw. sich "an Ort und Stelle zu bringen, dorthin, wo die Gefahr, die uns droht, anschaulich wird." 120 Welche Rolle spielten Schriftsteller in den überregionalen und regionalen Bürgerbewegungen? Wie brachten Intellektuelle, die sich wie Walter Jens oder Peter Härtling 121 an Besetzungen, Blockaden o.ä. beteiligten, ihr Kapital öffentliches Ansehen, Zugang zu den Medien, Verfügung über das Wort in diese Aktionsformen ein? Haben die Intellektuellen zur Entwicklung massenmedial inszenierter Protestformen mit Eventcharakter 122 wie sie etwa von Greenpeace praktiziert werden beigetragen, oder haben sie ihr widerstanden aus welchen Gründen und mit welchen Konsequenzen für ihre Stellung in der Öffentlichkeit? Gehen Sie zum nächsten Kapitel ... ... oder springen Sie mit Hilfe des Inhaltsverzeichnisses:
1. Zielsetzung und Leitlinien der Argumentation Anmerkungen Die mit der Angabe "in diesem Band" zitierten Aufsätze finden sich in dem Sammelband Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg. 112 Bernhard Giesen: Die Intellektuellen und die Nation. Eine deutsche Achsenzeit (stw 1070) Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. zurück 113 Emmerich: Die Risiken des Dafürseins. zurück 114 Als "Manifest der intellektuellen Opposition, die der jungen Demokratie hartnäckig die Identifikation verweigert hat," gilt Walter Dirks: Der restaurative Charakter der Epoche. In: Frankfurter Hefte, 5.Jg., H.9, 1950, S.942-954. Die Wertung entstammt dem Artikel von Klaus Harpprecht: Totgesagt und sehr lebendig. Bonn und die intellektuelle Verweigerung: Die Opposition gegen die zweite deutsche Demokratie begann mit einem grollenden Abmarsch aus der Wirklichkeit. In: Die Zeit, Nr.26, 21.Juni 1996, S.42. Zu Entstehung und Kritik der Restaurationsthese s. Helmuth Kiesel: Die Restaurationsthese als Problem für die Literaturgeschichtsschreibung. In: Zwei Wendezeiten. Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989. Hg. von Walter Erhart u. Dirk Niefanger. Tübingen: Niemeyer 1997, S.13-45. zurück 115 Ebd., S.248 und 238. zurück 116 Ernst Wiechert: Rede an die deutsche Jugend (Europäische Dokumente, 1). München: Desch 1945. Die weitverbreitete Rede (Erstausgabe in 97.000 Exemplaren) erschien auch im Aufbau-Verlag in Berlin (1947) sowie bei Artemis (Schriften zur Zeit, 11; 1946) und Rascher (1948) in Zürich. Für die "Instrumentalisierung" Wiecherts durch die Amerikaner vgl. Bernd Gruschka: Der gelenkte Buchmarkt. Die amerikanische Kommunikationspolitik in Bayern und der Aufstieg des Verlages Kurt Desch 1945 bis 1950. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 44 (1995), S.1-186. Hier S.117 f. .Die Welle der Broschören, wesentlicher Teil des Intellektuellen-Diskurses der Nachkriegszeit, ist m.W. nicht aufgearbeitet. zurück 117 Ausführlich dargestellt von Hanuschek: Die Geschichte des PEN-Zentrums (Bundesrepublik). zurück 118 So Pierre Bourdieu: Die Erfindung des totalen Intellektuellen. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 4 (1981), S.385-391. Zu "Jean-Paul Sartre und die Hegemonie im intellektuellen Feld nach 1945" vgl. Jurt: Das literarische Feld, S.283-295. zurück 119 Karl A. Otto: Vom Ostermarsch zur APO. Geschichte der außerparlamentarischen Opposition in der Bundesrepublik 1960-1970. Frankfurt a.M., New York: Campus 1977. Vgl. auch Wilfried van der Will: Critical intellectuals as Extra-Parliamentary Custodians of Democracy. In: Rob Burns / Wilfried van der Will: Protest and Democracy in West-Germany. Extra-Parliamentary Opposition and the Democratic Agenda. New York: St. Martin´s Press 1988, S.17-71. zurück 120 Zweite Berliner Begegnung, S.83 und 161 (Grass). zurück 121 Vgl. die Dokumente zu den Vorgängen um die Startbahn West des Frankfurter Flughafens in Peter Härtling: Zwischen Untergang und Aufbruch. Aufsätze, Reden, Gespräche. Berlin, Weimar: Aufbau 1990, Kap.V, u.a. mit einem Offenen Brief an Willy Brandt. zurück 122 Zu den gegenwärtigen Verfahren sozialer Bewegungen zur Mobilisierung von Massen und zur Gewinnung von Aufmerksamkeit vgl. Christian Lahusen: The Rhetoric of Moral Protest. Public Campaigns, Celebrity Endorsement, and Political Mobilization (de Gruyter Studies in Organization) Berlin, New York: de Gruyter 1996. zurück |