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Bewußtsein und Kommunikation

Leitung: Oliver Jahraus

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Oliver Jahraus
Bewußtsein und Kommunikation

9. Konzeptualisierungsvorschläge
Sinn und Medien

Wenn sich nun die strukturelle Kopplung als ein so produktives Theorieelement erweist, muß sich dies an den Anschlußmöglichkeiten zeigen. Und in der Tat ist strukturelle Kopplung hochgradig anschlußfähig. Zwei Beispiele will ich skizzieren: Sinn und Medien.

Zunächst stellt sich die Frage, wie ein Beobachter, der die Koproduktion von Ereignissen beobachtet, von einer strukturellen Kopplung sprechen kann, wenn doch gleichzeitig die operationale Geschlossenheit unverletzbar ist? Es muß also eine zumindest imaginäre oder virtuelle dritte Position geben, die die Ereignisse hier wie dort vermittelt und aufeinander beziehbar macht, obwohl bzw. gerade weil sie unterschiedlichen Systemtypen und jeweils operativ geschlossenen Systemen angehören. Diese Position nenne ich Medium. Das Medium leistet die strukturelle Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation.

Dieses Medium ist Sinn, denn Sinn ist das notwendige Korrelat der operativen Schließung. Nur mit Hilfe von Sinn können die sinnkonstituierenden Systeme Bewußtsein und Kommunikation ein Re-entry vollziehen und in sich selbst zwischen sich und dem anderen System, also zwischen Selbst- und Fremdreferenz unterscheiden und somit überhaupt erst die strukturelle Kopplung vollziehen. Sinn ist die Voraussetzung für jeden einzelnen Systemtyp, überhaupt bewußt und kommunikativ zwischen Bewußtsein und Kommunikation mittels Selbst- und Fremdreferenz unterscheiden zu können. (Diese Konzeption struktureller Kopplung durch Medien bleibt daher dezidiert >unterhalb< der Ebene von Subjekten, wie z.B. diejenige von S.J.Schmidt; siehe: Medien: Strukturelle Kopplung von Kognition und Kommunikation; bzw. Kognitive Autonomie und soziale Orientierung.)

Sinn ist somit das Supermedium für Kommunikation und Bewußtsein; Sinn ist "die Differenz der Einheit von Kommunikation und Bewußtsein," weil Sinn jeder Unterscheidung, nicht nur der zwischen Bewußtsein und Kommunikation, vorausgehen muß. (Baecker: Die Unterscheidung zwischen Kommunikation und Bewußtsein, S.247 ff.). Daher ist also auch Sinn unhintergehbar und uneinholbar, weil Sinn nur in, durch und mit struktureller Kopplung emergieren kann. Sinn und strukturelle Kopplung bedingen sich gegenseitig: "Das allgemeinste Medium, das psychische und soziale Systeme ermöglicht und für sie unhintergehbar ist, kann mit dem Begriff >Sinn< bezeichnet werden." (Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S.173).

Wenn man nun Sinn als ein Supermedium begreift, so ergeben sich daraus zwei gegenläufige Fragerichtungen, wenn nicht zwei theoretisch-konzeptionelle Driften: Totalisierung und Restringierung.

(1) Totalisierung: Die Begriffe scheinen auf einen Konvergenzpunkt zuzulaufen, an dem die Konzeptionen von struktureller Kopplung, Sinn und Medium ununterscheidbar werden, weil sie sich zu Totalbegriffen ausweiten, die selbst nicht mehr differenziert, also auch nicht mehr bestimmt und definiert werden können. Strukturelle Kopplung erzeugt Sinn, der wiederum die Voraussetzung für strukturelle Kopplung darstellt.

Hier deckt sich der skizzierte Medienbegriff mit Luhmanns Medienbegriff, wie er durch die Gegenüberstellung von Medium und Form bestimmt wird. Form ist demnach die strikte Kopplung von lose gekoppelten Elementen des Mediums. Jede Form kann ihrerseits wieder Medium sein für weitergehende Formbildungen. Überträgt man die Differenz von Medium und Form auf diese Totalbegrifflichkeit, so kann man sagen, daß strukturelle Kopplung die Formbildung im Medium Sinn - und zwar jeweils systemspezifisch - leistet. Wenn man also strukturelle Kopplung beobachtet, so beobachtet man die Konstitution von Sinn als Form im Medium Sinn. Sinn wird als die rigidere Kopplung, die gröbere Körnung in einem Medium verstanden, das selbst nichts anderes ist als diese Kopplung oder Körnung. In einem Supermedium ist Formbildung ohnehin nicht anders als rekursiv zu denken. Formen bilden sich aus Formen; die permanente Entstehung von Formen ist an den permanenten Zerfall von Formen gebunden; Entstehung und Verfall sind lediglich unterschiedliche Fokussierungen eines Beobachters auf ein und denselben Prozeß. Sinn ist somit sowohl Medium als auch Form, Ausgangspunkt und Produkt struktureller Kopplung. Am Medienbegriff wird sichtbar, daß jede weitere Konzeptualisierung jene Konstitutionsmomente des damit Konzeptualisierten übernimmt. So wird auch der Medienbegriff zu einem Totalbegriff, der in die Position einer letzten Unhintergehbarkeit rückt.

In einer letzten Engführung ließe sich denn fragen, ob denn >Unhintergehbarkeit< selbst ein unhintergehbarer Begriff sei. Und hier zeigt sich ein wesentlicher Vorteil systemtheoretischer Modellbildung auf der Basis von Auflösung und Rekombination. Denn diese Konzeption ist wiederum hintergehbar, und zwar mit den Konstituenten, die in struktureller Kopplung Unhintergehbarkeit erzeugen, nämlich Bewußtsein und Kommunikation. Unhintergehbarkeit ist das Resultat eines prozessualen Geschehens, das über die Prozeßmomente hintergehbar wird. (Eine Denkfigur, die in klassischen Subjekttheorien nicht denkbar ist!) Über die Auflösung dieses Prozeßgeschehens, das in einem Medium Sinn stattfindet, läßt sich auch der Totalbegriff des Supermediums auflösen, d.h. differenzieren.

In diesem Sinne (!) schlage ich daher folgende Definition vor, die beide Medienvorstellungen (Medium als vermittelndes Drittes und Medium als Gegenpart zur Form) zusammenführt: Das Medium Sinn leistet die strukturelle Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation. Sinn ist Medium insofern, als es Formbildungen in einem System erlaubt und erzwingt, die durch das Prozessieren des anderen Systems ausgelöst wurden.

(2) Restringierung: Damit wird die Totalität des Supermediums Sinn eingeschränkt. Was als Medium bezeichnet wird, wird immer nur dort greifbar, wo strukturelle Kopplung in Sinn umschlägt und umgekehrt, wo also strukturelle Kopplung Sinn erzeugt, der strukturelle Kopplung ermöglicht. Dabei wird davon ausgegangen, daß diese Kopplung sich zunächst virtuell, dann aber real konkretisierbar externalisiert. Das Medium ist die (zunächst virtuelle) dritte Position, die Bewußtsein und Kommunikation strukturell koppelt, d.h. überhaupt erst aufeinander beziehbar macht. Will man sich Sinn als Supermedium wie ein Fluidum vorstellen, das beide Systemtypen umgibt, so schlägt das Medium jene Wellen, die gleichzeitig, d.h. in demselben Phasenmoment, hier wie dort als Sinn anschlagen. Medien leisten die strukturelle Kopplung so, daß Sinn aus struktureller Kopplung und aus dieser wiederum Sinn hervorgeht.

Diese dritte Position ist konzeptionsnotwendig, weil weder Bewußtsein auf Kommunikation noch umgekehrt Kommunikation auf Bewußtsein irgendeinen Zugriff haben. Das Medium ist jene Position, in der eine Situation aufscheint, als ob ein solcher Zugriff möglich wäre. Jedes System aber greift rekursiv, angestoßen durch das andere, nur auf sich selbst zu, prozessiert und reproduziert sich selbst. Im nächsten Moment hat sich dieser virtuelle Zugriff als strukturelle Kopplung bereits vollzogen und kristallisiert. Da beide Systeme die Differenz zwischen Kommunikation und Bewußtsein, in der sie stehen, über eine Re-entry-Figur intern noch einmal reproduzieren und an diesem Re-entry die eigene Selbstreproduktion katalysatorisch initiieren, erscheint das eine System dem anderen jeweils als Medium. Kommunikation ist so Medium für Bewußtsein, Bewußtsein Medium für Kommunikation, wobei das Medium immer auch externalisiert werden kann (in sog. Medienangeboten, z.B. Texten). Bewußtsein und Kommunikation können sich also medial externalisieren, um unabhängig von der realen Präsenz das jeweils andere System prozeßunabhängig in eigene Prozesse einzubinden. Wo Sinn an die strukturelle Kopplung beider Systemtypen gebunden ist, kann ein Medium einen Systemtyp für den anderen substituieren. Virtuell oder imaginär ist das Medium insofern, als es nicht als eigenständiges System auftritt, sondern in der Form (!) des jeweils anderen Systems für das eine System.

Die Externalisierung des Mediums erlaubt es nun, Sinn disponibel zu halten und Kristallisationspunkte für die strukturelle Kopplung zu bestimmen, die weder dem Bewußtsein noch der Kommunikation angehören, wohl aber von beiden prozessiert werden können. An dieser Stelle ist der Begriff des Mediums konkretisierbar und auf technische Speicher- und Verbreitungsmedien bzw. auch auf soziale Mediensysteme als Kommunikationssysteme ausdehnbar.

Der Medienbegriff erhält eine zweifache Zweidimensionalität: Zuerst koppelt er Bewußtsein und Kommunikation strukturell, und in dieser Kopplung läßt er strukturelle Kopplung und Sinn ineinander übergehen. Nimmt man dies als Folie für Medienangebote, Speicher- und Verbreitungsmedien sowie Mediensysteme, so lassen sich daraus Funktionskomponenten ableiten. Besonders interessant dürfte dies für die Literaturwissenschaft sein, erlaubt doch eine entsprechende Rekonzeptualisierung der Literatur als Mediensystem eine Reformulierung bestehender methodologischer und literaturtheoretischer Problembestände.

Der Topos der unabschließbaren Interpretation erscheint vor diesem Hintergrund als Unhintergehbarkeit von Sinn; sie wird allerdings nicht mehr als methodologisches Defizit, sondern als spezifische Funktion der Literatur begreifbar. Literatur ist ein externalisiertes Medium, an dem sich strukturelle Kopplungen, mithin Sinnkonstitutionen auf spezifische Weise, beispielsweise ohne einen zwingenden Code eines bestimmten sozialen Subsystems, kristallisieren können. Literatur nutzt somit auf paradigmatische Weise strukturelle Kopplungen, um sowohl Bewußtsein als auch Kommunikation adressieren zu können, um hier zu irritieren, dort zu instruieren, um mitzuteilen oder zu informieren, wenn auch mit je gattungs-, genre- oder epochenspezifischen Gewichtungen und Präferenzen (siehe hierzu die Displacement-Theorie von Peter Fuchs: Moderne Kommunikation). Gerade in dieser Vielfalt, Sinn zu konstituieren und strukturelle Kopplung zu vollziehen, erweist sich Literatur - jenseits traditioneller Literaturwissenschaft - als das Mediensystem, das am wenigsten sozialen oder bewußten Restriktionen unterliegt und somit vielleicht auch am interessantesten ist, was das mediale Zusammenwirken von Bewußtsein und Kommunikation angeht.

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