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Bewußtsein und Kommunikation

Leitung: Oliver Jahraus

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Oliver Jahraus
Bewußtsein und Kommunikation

8. Die 'Ur-Differenz' von Bewußtsein und Kommunikation
als Fundament der Systemtheorie

Die symmetrische Konzeptualisierung der Differenz von Bewußtsein und Kommunikation betrifft nicht nur die jeweilige Konzeptualisierung der beiden involvierten Systeme, sie erlaubt auch - unmittelbar damit zusammenhängend - konträre Zugänge zur strukturellen Kopplung.

Die Systemtheorie bevorzugte bislang immer den Zugang über Kommunikation als Basiskategorie, was ihrer soziologischen Ausrichtung auf soziale Systeme entspricht. Aus dieser Blickrichtung tritt Bewußtsein ins Blickfeld, wenn man sich fragt (wie Luhmann in seinem programmatischen Aufsatz): "Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?" Diese Frage läßt sich auch genau andersherum stellen, und jedesmal muß die Antwort lauten, daß das andere System in der strukturellen Kopplung Impulse liefert, ohne die die Selbstreproduktion des einen Systems zum Erliegen käme. Als Metapher habe ich das Ticken zweier nebeneinanderstehender Uhren vorgeschlagen, von denen jede so ausgestattet ist, daß sie nur selber tickt, wenn sie über einen Sensor das Ticken der jeweils anderen Uhr hört. Natürlich bleibt die Metapher unterkomplex, weil sie die System-Umwelt-Differenzierung nicht mit erfaßt. Es wäre vielleicht eine große Uhr (Kommunikation) zu denken, die in einzelnen Laufwerken nur tickt, weil an ihren Rändern Uhren (Bewußtseine) angebracht sind, die ihrerseits ticken (und umgekehrt).

Man kann nun Bewußtsein die Funktion zusprechen, Kommunikation irritieren, anregen oder auch bestätigen zu können und - zu müssen! Man kann auch den umgekehrten Weg gehen, Kommunikation über Bewußtsein einzuführen, was unter anderem Peter Fuchs vorgeschlagen hat. Sein Ausgangspunkt ist eine kompromißlose Konzeption der Unerreichbarkeit und der Intransparenz des Bewußtseins. Bewußtsein kann weder ein anderes Bewußtsein erreichen, noch kann es, aufgrund seiner Systemeigenschaften im Rahmen dieser Konzeptualisierung, irgendein anderes System erreichen, natürlich auch Kommunikation nicht. Das gilt auch vice versa. Beide Systeme operieren völlig überschneidungsfrei. Das ist das katalysatorische Initialmoment für die Emergenz und Konstitution von Kommunikation:

Die Intransparenz eines Bewußtseins für ein anderes (die Undurchsichtigkeit der Schädelkalotten, die vollkommene Geschlossenheit psychischer Systeme) ist das katalytische Problem, an dem Kommunikation ihre Form gewinnt: als Rekonstitution der Unterscheidung von Kommunikation und Bewußtsein in Kommunikation mit Hilfe der Selektionstriade Information, Mitteilung, Verstehen. (Peter Fuchs: Moderne Kommunikation, S.135)
Die Emergenz von) Kommunikation ist also nichts anderes als eine aus der Intransparenz des Bewußtseins resultierende Lückenkonfiguration. (Vgl. Fuchs, Moderne Kommunikation, S.41 f.)

Erst wenn man die beiden Einführungsrichtungen gemeinsam betrachtet, sieht man den Konvergenzpunkt ihrer Gegenläufigkeit, der in der Wechselseitigkeit der beiden Systemdifferenzierungen liegt. Bewußtsein gewinnt seine post-hoc-Identität durch Differenz zur kommunikativen Umwelt gleichzeitig mit der Kommunikation, die ihre post-hoc-Identität durch Differenz zur bewußten Umwelt gleichzeitig mit dem Bewußtsein gewinnt. Das oben bereits angesprochene ausgezeichnete System-Umwelt-Verhältnis von Bewußtsein und Kommunikation in der strukturellen Kopplung erzeugt somit eine / die Differenz zwischen Identität und Differenz. Wir haben nun drei Differenzen, die von Bewußtsein und Kommunikation, System und Umwelt und Identität und Differenz. Zu einer der entscheidenden konzeptionellen Fragen gehört es, diese Differenzen wiederum in ein Verhältnis zu setzen bzw. in eine hierarchische Struktur zu stellen. Zunächst scheint es so zu sein, daß die Differenz von Identität und Differenz sich in der Differenz von System und Umwelt konkretisiert, die wiederum - und auf ausgezeichnete Weise dazu - in der Differenz von Bewußtsein und Kommunikation konkretisiert wurde. Nun ist aber die Differenzierung selbst eine entweder bewußte oder kommunikative Leistung, insofern nämlich, als sowohl Bewußtsein als auch Kommunikation Identität dadurch erzeugen, daß sie sich wechselseitig über Selbst- und Fremdreferenz differenzieren. Ihren Systemstatus gewinnen sie erst auf der Basis dieser Differenzierungsleistung, obschon ja bestimmte Systemeigenschaften vor der Differenzierung vorausgesetzt werden müssen.

Die Konzeptualisierung erlaubt daher eine völlig veränderte Begründungs- und Konkretisierungsrichtung, mithin die Aufhebung der Direktionalität von Begründung und Konkretisation. Man kann nach dem Ursprung im Verhältnis von Identität und Differenz fragen, also danach, ob die Identität oder die Differenz von Identität und Differenz ursprünglicher sei. Die systemtheoretische Vorentscheidung für die Differenz führt dann erst zur System-Umwelt-Differenzierung, so daß ein System als Differenz von System und seiner Umwelt definiert werden kann. Diese Frage mag vorderhand durch einen dezisionistischen Akt am Anfang der Theoriearchiktektur gefällt und seitdem operativ so weiter gehandhabt worden sein. In dem Moment allerdings, in dem das Differenzierungsspiel bei der Differenz von Bewußtsein und Kommunikation angelangt ist, werden die Fundamente des Theoriebaus schlagartig sichtbar. Daß überhaupt zwischen Identität und Differenz unterschieden wird, ist eine Folge davon, daß Bewußtsein und Kommunikation ihre Identität durch Differenz konstituieren. Daß man überhaupt zwischen System und Umwelt unterscheidet, ist eine Folge davon, daß sowohl Bewußtsein als auch Kommunikation sich als Systeme konstituieren und sich also solche sowohl selbst- als auch fremdbeschreiben können.

Mit anderen Worten: Im Komplexitätsaufbau der Systemtheorie erweist sich die Differenz von Bewußtsein und Kommunikation als Ur-Differenz, als Fundament der Systemtheorie. Mit der Differenz von Bewußtsein und Kommunikation kommt die Systemtheorie überhaupt erst eigentlich zu sich; die Differenz von Bewußtsein und Kommunikation ist die Startdifferenz von Systemtheorie insofern, als Systemtheorie diese Differenz als Startdifferenz jeglicher Theoriebildung, jeglicher Bewußtseins- und Kommunikationsprozesse ansetzen muß. Nur weil Bewußtsein und Kommunikation ihre Identität über Differenzierung gewinnen, geht Systemtheorie von Differenz und nicht von Identität aus, und nur weil sich Bewußtsein (nur) gegenüber der Kommunikation als System selbstbeschreiben kann (was auch umgekehrt gilt), geht Systemtheorie von einem Systemkonzept aus, das als Differenz von System und Umwelt gefaßt wird.

Die Bereitschaft, dieser Konzeptualisierungslinie zu folgen, wird m.E. zumindest mit einer Möglichkeit belohnt, das subjektphilosophische Erbe auf produktive Weise antreten zu können. So läßt sich die Formel durchaus bekräftigen: Wo das Subjekt war, da ist strukturelle Kopplung. Die >Entmachtung< des Subjekts hat sich schon lange vor der Systemtheorie vollzogen; das Subjekt wurde sowohl als Begründungs- wie auch als begründete Kategorie verabschiedet. Die Systemtheorie wiederholt diese Entmachtung auf eine zusätzlich radikalisierte Weise, weil sie das Subjekt auch dort, wo es als Mensch in letzten Residuen, wie z.B. in der menschlichen Kommunikation, noch heimisch war, exiliert.

Aber sie leistet mehr: Denn die Entmachtung des Subjekts beschränkt sich nicht, wie z.B. noch in der Dekonstruktion, auf die Ausbuchstabierung der Begründungsaporien, die am Subjekt manifest werden oder vom Subjekt ausgehen, so lustvoll und produktiv dies auch sein mag. Sie leistet statt dessen eine radikale Substitution, die bestenfalls noch mit einer prozessualen Autolegitimation beschrieben werden kann. Begründungsfiguren, wie sie sich um das Subjekt ranken, werden durch die strukturelle Kopplung entlarvt: Sie geben aposteriori-Effekte als apriori-Ursachen aus, wie insbesondere die Idee der Konstitution via Identität. Damit leistet die Systemtheorie die eigentliche Dekonstruktionsarbeit, weil sie in der strukturellen Kopplung Gedankenfiguren des Zusammenhangs von Identität und Differenz, Ursache und Folge, Anfang und Ende, Statik und Dynamik aufhebt, mithin: Identität(en) auf Differenz(en) zurückführt. Insbesondere beerbt die strukturelle Kopplung das Subjekt über das Bewußtsein als Begründungskategorie hinsichtlich der Momente von Unhintergehbarkeit und Uneinholbarkeit.

Doch wo der Referenzrahmen auf ein System allein diese Momente in paradoxale Aprorien münden läßt, gewinnt die strukturelle Kopplung mit ihrer Doppelreferenz gerade daraus ihren produktiven und progressiven Impuls. Um mit Kleist zu sprechen: Das Gewölbe trägt, weil alle Steine des Gewölbes zugleich fallen wollen. Bewußtsein und Kommunikation operieren in struktureller Kopplung, weil jedes System allein kollabieren würde.

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