IASLonline Lektionen in NetArt
Interview Yourself! Amy Alexander
Amy
Alexander (*1965, lebt in Los Angeles) erregte 1997 (ISEA,
Prix Ars Electronica)
mit ihrem Webprojekt The
Multi-Cultural Recycler (1996) zum ersten Mal Aufsehen. Das Echtzeit-Kamerabildmaterial,
das verschiedene Sites anbieten, dient Alexanders "Recycler"
als Quelle. Ein bildverarbeitendes Programm generiert aus Echtzeit-Bildern
von zwei bis drei WebCams ein `Komposit´-Bild. Der User kann zwischen
(Sites mit) WebCams wählen und das Bildprogramm starten, nicht
aber kann er Programmfunktionen einstellen. Gefällt ihm das Resultat
nicht, dann kann er den "Recycler" neu starten. 1
Weitere Projekte auf Alexanders Website plagiarist.org
(seit 1998) beinhalten erstens Strategien der Appropriation
von Websites einschließlich Appropriationen von Appropriiertem
(.../plagiarist.org/www.0100101110101101.ORG/...
, Weihnachten 1999) 2 und zweitens
Programme, die Netzresourcen sowohl visuell als auch audiell verarbeiten
(theBot, 2000; netsong,
2000): User leiten mittels Eingaben von Begriffen die Suche nach Netzresourcen.
Die Daten der auffindbaren Quellen werden mit Software-Komponenten
verarbeitet, die Alexander mittels Freier Software (für LINUX)
zusammengestellt hat. Die Quellensuche im Netz wird fortgesetzt, während
die Netzadressen mittels Stimmprogramm vorgetragen werden. Weitere
gefundene Daten werden visuell oder audiell präsentiert.
Alexanders neuestes Projekt Interview
Yourself! reagiert auf die geringe oder ausbleibende Auseinandersetzung
von Kunstkritikern mit Netzkunst: Alexander schafft einen öffentlichen
Rahmen, in dem Künstler ihre eigenen Projekte, Vorgehensweisen
und Theorien präsentieren können. Künstler werden aufgefordert,
Interviews zu schicken, in denen sie sich die Fragen stellen,
die ihnen zur Präsentation ihrer Vorstellungen und Projekte am
geeignetsten erscheinen.
Zu den profiliertesten Kritikern der Netzkunst
zählt Tilman
Baumgärtel. Er stellt in "[net.art] Materialien zur
Netzkunst" nach einer Netzformen kurz skizzierenden
Einleitung (zwischen 1996 und 1999 entstandene) Interviews mit Künstlern
vor, die meist bereits im Netz oder in Druckmedien publiziert wurden.
3
In der Mailing List Nettime
äußerte sich Olia
Lialina kritisch über die Praxis der Interviews mit Netzkünstlern:
"The interview approach cultivates stars, not ideas." Interviews
ermöglichen es Künstlern, ihre Arbeit zu lancieren: Künstler
können Interpretationsweisen liefern, die einer kritischen Prüfung
der Relation Präsentationsform-Werkdeutung nicht standhalten
müssen. Dennoch können von Künstlern vorgetragene Interpretationen
den Rezeptionshorizont prägen: "Stars" können
"ideas" als angeblich adäquate Konzeptualisierungen
ihrer Werkformen lancieren, doch kann ihre Adäquanz in einem
kritischen Diskurs in Frage gestellt werden.
Nicht unproblematisch ist Lialinas Bemerkung "Ideas live longer",
da sie den Prozess des Ausfilterns von Ideen (beziehungsweise von
Konzepten) nicht skizziert, die ins "Gedächtnis" des
Kommunikationssystems (Netz-)Kunst 4 eingeschrieben
werden sollen: In welcher Weise sind dafür Künstler, Philosophen
und Kunstkritiker verantwortlich? Welche Rolle spielt das Künstlerinterview
in diesem Prozess?
Der Kunstkritiker Lawrence Alloway hat 1972 in "Network: The
Art World described as a System" die in den sechziger Jahren
steigende Aufmerksamkeit problematisiert, die Interviews mit Künstlern
in Druckmedien zukommt:
The failure to interpret has left us
with a backlog of unevaluated interviews...Contact with the artist
can produce information of an accuracy impossible to achieve in another
way, but it can also inhibit writers from taking the discussion in
directions that the artists resist or have not thought of. If the
critic´s interpretations are bound by the intentions of the artist,
there is a corresponding neglect of comparative and historical information.
5
In den sechziger Jahren wäre eine Erneuerung der methodischen Ansätze
für eine Kritik zeitgenössischer multi- und intermedialer
Kunst fällig gewesen. Es waren jedoch nicht Kunstkritiker, sondern
Künstler, die in Texten, die sowohl Statement als auch Kunstkritik
waren, Formen des Kunstdiskurses gegen die Intermedia abwertenden Ansätze
des paradigmatischen "modernism" (Clement
Greenberg, Michael Fried, frühe Texte von Rosalind
Krauss) entwickelten.
Lialinas Kritik an Interviews verweist auf das Problem, wie ein Diskurs
über methodische Ansätze für die Kritik von NetArt
zustande kommen soll. Allerdings ist es zur Zeit nicht so, dass wieder
Künstler diese reflexive Funktion, wie schon in den sechziger
Jahren, übernehmen. Künstler-Statements über eigene
Netz-Werke sind häufig eher Projektbeschreibungen bzw. Gebrauchsanweisungen,
als theoretische Ansätze zur Werkbeobachtung, während über
die eigenen Projekte hinaus gehende künstlerische Texte sich
meist Programmiersprachen, Copyrightproblemen und anderen netzspezifischen
Aspekten widmen. Diese Auseinandersetzungen sind häufig zu allgemein
für eine Bestimmung von Netzkunst, aber sie skizzieren immerhin
den Netzkontext: Diskussionen über Freie Software und die als
"Copyleft" bezeichnete Copyright-Regelung der GNU
GPL (General Public License für LINUX/Open Source), welche
kommerzielle Verwertungen verbietet und nichtkommerzielle Verwendung
erlaubt, sollen Voraussetzungen von Netzkunst auch dort sichern, wo
sie auf entgegengesetzte Interessen der Software-Industrie stößt.
IY-IY-IY-IY-IY!
Alexanders Reaktion auf Olia Lialinas Kritik der
Kunstkritik (s. o.) war der Vorschlag, Künstler sollten eigene
Aussagen in Form von fiktiven Interviews an Mailing
Lists schicken, oder in der von ihr zu diesem Zweck geschaffenen
Site IY-IY-IY-IY-IY! präsentieren.
Da den Netzartisten offenbar nicht nur kritische Texte, sondern auch
interviewende Kritiker fehlen, positionieren sich Künstler in
ihren Beiträgen für "Interview Yourself" auch
in der Funktion des fragenden Kritikers.
Vor dem Hintergrund der von Alloway skizzierten Funktion von Interviews
im Kunstbetrieb der sechziger Jahre muss Alexanders Vorschlag als
modifizierte Wiederaufnahme der künstlerischen Self Promotion
mittels Intreviews erscheinen. Dies kann als Kapitulation vor dem
Anspruch einer objektivierenden Kritik ausgelegt werden, die in den
sechziger Jahren zum Beispiel Künstler wie Mel Bochner, Dan Graham,
Donald Judd, Allan Kaprow oder Robert Morris vorlegten. Diese Künstler
stellten mit damals überraschenden Ansätzen die eigene Arbeit
im Kontext anderer zeitgenössischer Arbeiten vor. 6
Als Reaktion auf Alexanders "Interview Yourself"-Vorschlag
kam von einem User J
in Nettime der Gegenvorschlag, dass Künstler Werke anderer Künstler
kritisieren sollten. Nur hin und wieder fallen Netzkünstler,
zum Beispiel Matthew Fuller
und Joachim
Blank, als Kritiker der Webprojekte von Kollegen auf.
Alexanders Projekt reagiert auf die veränderte
Diskurssituation in offenen Mailing Lists, auf die Alloways Kritik
der Rolle künstlerischer Äußerungen im "Kommunikationsnetz"
der "Bewusstseinsindustrie" 7 nicht mehr
zutrifft: Seit User Informationen und Gedanken über Netzkunst
in Mailing Lists einbringen können, sind neben der Ein-Weg-Kommunikation
der klassischen Massenmedien auch Möglichkeiten der Zwei-Weg-Kommunikation
entstanden. Der Strom von Informationen, Kommentaren und theoretischen
Ansätzen lässt sich in den offenen Diskussionsforen der
Mailing Lists nicht oder nur bedingt durch redaktionelle Eingriffe
steuern. Auch Alexander kann die Reaktion von Usern auf ihren Aufruf
"Interview Yourself!" nicht steuern, da sie den offenen
Charakter ihres Projektes nicht durch eine klassische Redaktion ersetzen
will, die "top-down" entscheidet, was publiziert wird.
Antworten von Netzkünstlern auf selbst entworfene
Fragesets sind ein Mittel, auf eine Situation zu reagieren, in der
User NetArt ohne die Öffentlichkeitsarbeit finden sollen, die
im Kommunikationssystem Kunst Kritik, Handel und Museen/Sammler leisten.
Die Verflechtungen zwischen Kunstmuseen, Kunstkritik und Kunsthandel
ergeben sich aus der Abhängigkeit der Entscheidungen von Museen
für Ausstellungen und Ankäufe von Vorleistungen, die Kritik
und Handel durch ihre Öffentlichkeitsarbeit für zeitgenössische
Kunst leisten. Prozesse der Durchsetzung junger Künstler im etablierten
Starsystem verlaufen über erste Galerieausstellungen und erste
Ankäufe durch `Sammler der ersten Stunde´ zu ersten Kritiken
und dann zu ersten Ausstellungen in Museen, auf die schließlich
Ankäufe für öffentliche Sammlungen folgen. Wenn Künstler
versuchen, Diskursformen über Kunsttheorien und künstlerische
Präsentationsformen im Kommunikationssystem Kunst zu reetablieren,
ist das Risiko des Scheiterns hoch. Dies ist der Fall, wenn das kritische
Urteil sich nicht mit den im Kommunikationssystem Kunst zirkulierenden
Künstlernamen verträgt. Diese Zirkulation beeinflussen Käufer,
Händler und Sponsoren.
Aus Konzeptueller Kunst der siebziger Jahre wird in den achtziger
und neunziger Jahren eine Kontext Kunst, die Prozesse der Zirkulation
von Künstlernamen im Kommunikationssystem Kunst zum wiederholten
Male vorführt, ohne die soziologische Analyse und Praxis des
Kunstbetriebs entscheidend erweitern oder verändern zu können.
Vielmehr verliert Kontext Kunst ihren kritischen Charakter und thematisiert
ihre eigenen Rahmenbedingungen ohne erkennbare Suche nach Alternativen.
8
Mit den Möglichkeiten des Internet ergibt
sich für Künstler zwar eine weitere Gelegenheit neben Performance
und Video, sich von dem etablierten Kommunikationssystem der Kunst
zu distanzieren. Doch gehören zu den Kommunikationsmöglichkeiten,
die sich jetzt ergeben, vor allem Mailing Lists (Nettime,
Syndicate,
Rhizome u. a.). In Mailing
Lists kann sich ein Kreis von meist selbst Aktiven untereinander informieren,
wechselseitig kommentieren und kritisieren: Die von Joseph Kosuth
1970 durch Vergleich mit wissenschaftlichen und philosophischen Diskursen
beschworene ideale Diskurssituation der Konzeptuellen Kunst 9
wird in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre zum Normalfall
für Netzkünstler. Dies führt zu Fragen, wie mit der
(jetzt nicht mehr selbst geschaffenen, sondern medienbedingten) Ausgrenzung
von musealer Kunstöffentlichkeit umzugehen ist: Versucht wird
die Schaffung eines neuen Publikums bei gleichzeitiger Erhaltung der
neu gewonnenen Unabhängigkeit von kommerziellen Interessen.
"Interview Yourself!" kann auf diese Rezeptionssituation
nicht durch Schaffung eines neuen Starsystems reagieren, auch wenn
Alexander dies mit
ihrem Rekurs auf Andy
Warhols "Interview"-Publikationen vielleicht beabsichtigt.
Alexander kann mit ihrem Selbstinterview-Projekt nur dem engen Kreis
von Netzkunstbeobachtern weitere Informationen über künstlerische
Absichten und Reflexionen bieten.
Geert
Lovink, Koinitiator des Kontextsystems De
Digitale Stad Amsterdam und der Mailing List Nettime,
reflektiert in seinem Beitrag The
Art of Electronic Dialogue über sein bevorzugtes Medium Interview.
Für seine Reflexion wählt Lovink nicht nur wegen Alexanders
Projekt die Form eines Selbstinterviews: Die eigene Praxis als Interviewer/Fragender
veranlasst ihn zur Reflexion des Mediums Interview und dies tut er
mittels Teilung des Selbst in Fragenden und Antwortenden. Über
die so geteilte Reflexion wiederum thematisiert Lovink das Dialogische
im Internet.
Lovink schildert seine Dialogpraxis als eine Folge von Interviews
für holländische Piratensender zu e-Mail-Interviews:
Interviews are all about creating contexts,
together with chats and debates, reviews, links and other reference
systems. They are one amongst many sorts of imaginative text one can
use in creating common, networked discourses. 10
Das Selbstinterview wird bei Lovink zum Modellfall der eigenen Interview-Praxis
mit Aktivisten und Theoretikern, welche die Möglichkeiten des Netzes
nutzen, um über ihre Absichten informieren zu können, ohne
Druckkosten und umsatzorientierte Redaktionen berücksichtigen zu
müssen. Lovink praktiziert das Interview als Präsentationsform
für alternative Bewegungen, Alloway und Lialina dagegen kritisieren
es als Teil einer antikonzeptuellen und etablierten Spektaktel-Organisation.
Florian
Cramer ist Akademischer Mitarbeiter des Seminars
für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der
Freien Universität Berlin. Er mailte seinen Beitrag Anti-Post-Net
Art unter dem Namen seines Plagiats: Die Site www.0100101110101101.org
präsentiert Klone und Remixe anderer Websites. Diese Site verwandelte
Cramer in einen Klon mit der Webadresse www.0100101110110101.org.
11 Cramer paraphrasiert in "Anti-Post-Net Art"
einen neoistischen
Text über Anti-Post-Actualism
von 1986. Im Vorbild steht:
Post-modern artists have had to take a step back in order
to `rediscover´ the past, and then another step back to analyze the
first step. This way I use the term `Anti-Post-Actualism´ instead
of simply `Post-Actualism´. This term `precisely´ dictates a second
level of removal from the `real´ value of an action - it is not a
mind game, but instead a calculated revolutionary statement: We
are not willing!
Cramer macht daraus:
Net Artists have had to take a step back in order to reflect
the digital codes they appropriated, and then another step back to
analyze the first step. This is why we use the term `Anti-Post-Net
Art´ instead of simply `Post-Net Art´. This term precisely dictates
a second level of removal from the commodity value of digital art
- it is not a mind game, but instead a calculated revolutionary statement:
We are not willing!
Cramer überträgt in sein Selbstinterview
eine von ihm in "Anti-Copyright in künstlerischen Subkulturen"
recherchierte und vorgestellte Strategie des Plagiierens und Recycelns
von Manifesten, die zur Produktion weiterer Statements angewandt wird.
12 Er problematisiert im Selbstinterview die Entwicklung
plagiaristischer Bewegungen, die zunächst mittels erster Plagiate
Fragen der Originalität thematisierten und dann in weiteren Plagiatketten
die Referenz auf ein (abwesendes) Original mittels der Relation Plagiat
n - Plagiat n+1 kappten: Aus dem Originalitätsproblem wurden ursprungslose
Kopien- und Transformationsfolgen. Präsentationen von Appropriationen
des Appropriierten sind heute als "mind game" rezipierbar,
nachdem der konzeptuelle Anlass das Originalitäts- und Urheberproblem
abhanden gekommen ist.
Cramer weist mit plagiaristischen Mitteln auf das Problem des Plagiarismus:
Entweder er unterläuft alle Fragen nach möglichen Ursprüngen
einer Kopie (oder einer Transformation) durch endlos fortsetzbare
Plagiatserien, oder er positioniert die Grundidee, den Willen zum
Originalitätsverzicht.
Beiträge von Bunjap
Bunjapi, Cyril
und narcissus
thematisieren selbstbezüglich ihre Interviewform: Sie tun dies
verspielt, nicht reflexiv. "Interview Yourself!" enthält
auch kurze, wie Kabarettstücke geschriebene Dialoge (Curt
Cloninger, Stany
Genbrugge), stream of consciousness-Texte (NN)
und Webadressenlisten (pavu@papri.com).
Die Urheber dieser Beiträge fordern von Usern keine Reflexivität
ein, da sie keine nicht zur Konzeptualisierung von Medienbeobachtung
auffordern, sondern wollen im Datenstrom der Mailing Lists und Websites
über und mit NetArt sich treiben lassen und bestenfalls kleinere,
geringfügig abweichende Wellen erzeugen.
Auf die Unvermeidbarkeit, für reflexive Medienbeobachtung unergiebige
Beiträge akzeptieren zu müssen, reagiert Alexander in ihrem
Selbstinterview,
indem sie "Interview Yourself!" als "bottom up experiment"
ausweist und von "the traditional top-down media paradigm of
the interviewer/gatekeeper" unterscheidet.
Nach Alloway übten Kritiker und Kuratoren "gatekeeper"-Funktionen
aus, während sie die Entwicklung kunsttheoretischer Ansätze
vernachlässigten, mittels derer sie auf die Provokationen der
zeitgenössischen Kunst differenziert zu reagieren fähig
gewesen wären. So führten Entscheidungen, wer welchen Platz
in Feuilletons, Kunstzeitschriften, Katalogen, Galerien oder Museen
erhielt, nicht zu Diskursen, die diese Entscheidungen rechtfertigen
oder kritisieren, sondern dazu, dass Künstler diese Diskurslücke
durch Selbstdarstellungen in Interviews und eigene Konzeptualisierungen
zeitgenössischer Tendenzen füllten. In der Funktion des
"gatekeepers" wird der Kunsthistoriker/-kritiker im Kunstbetrieb
bzw. den Massenmedien zum Verwalter, der den Platz und den Zeitraum
zuteilt, der einem Künstler zur Verfügung gestellt wird:
Der diskursorientierte Kritiker tritt ab und überlässt dem
Spektakel organisierenden Verwalter den Kunstbetrieb.
Künstler, die in den sechziger Jahren Funktionen der Kritiker
in Texten über zeitgenössische Tendenzen übernahmen
(s. o.), füllten Funktionen aus, die von Kunsthistorikern nicht
besetzt wurden. Dies zeigt, wie sehr ungewöhnliche Werkformen
auf kritische Perspektiven angewiesen sind, die Rezeptionshorizonte
öffnen. Die Organisation des Spektakels beutet solche Horizonte
bestenfalls aus, trägt aber nicht dazu bei, Kommunikationsformen
für sie zu schaffen oder zu fördern.
Mittels Closed-Circuits in Videoinstallationen
und -performances begannen Künstler Ende der sechziger Jahre
mit ihrer Kritik der Ein-Weg-Kommunikation, die vor allem eine Kritik
der Spektakel-Organisation in Massenmedien (inklusive Museen und Kunstpublikationen)
war. Das Medium Internet ermöglicht die Fortführung der
Zwei-Weg-Kommunikation sowohl auf technisch und formal innovative
als auch auf konzeptuelle kunst- und medienkritische Weise. Der Antagonimus
der sechziger und siebziger Jahre entweder schlechte Ein-Weg-Kommunikation
der Massenmedien, die zum passiven Konsumentenverhalten (ver)führen,
oder gute Zwei-Weg-Kommunikation mit Beobachter-Feedback 13
muss heute einer Problematisierung weichen, die Zusammenhänge
zwischen einer allgegenwärtigen, Beobachtungsweisen prägenden
Unterhaltungskultur und der erweiterbaren Anwendung technischer
Möglichkeiten des Internet für den Aufbau einer <abweichenden>
Kultur der Zwei-Weg-Kommunikation reflektiert: Lovinks und Cramers
Beiträge für "Interview Yourself!" stellen eine
kritische Praxis vor, die sich auf diese Situation eingestellt hat.
Lovink stellt desillusioniert fest, dass der technische Fortschritt,
nicht der Diskurs, den Wandel bestimmt: "Technology itself is
the change." Zugleich plädiert er dafür, Reflexionszeit
wieder zu gewinnen und über die Möglichkeiten des mit der
technischen Entwicklung entstandenen Neuen adäquat zu urteilen.
Alexander nutzt mit "Interview Yourself" die Möglichkeiten,
die das Internet einer Zwei-Weg-Kommunikation bietet, für ein
Angebot zur Erweiterung der vorhandenen Kommunikation zwischen Künstlern
sowie zwischen Künstlern und Kritikern (Alexander fordert Kritiker
ebenfalls zu Beiträgen auf). Eine reflexive Nutzung der mit "Interview
Yourself" erweiterten Kommunikationsmöglichkeiten führen
bislang leider nur Lovink und Cremer vor.
Plagiierende und Plagiierte können sich
wechselseitig Publizität verschaffen, wie Alexanders und Cramers
Spiel mit Anticopyright-Strategien zeigt. Der beidseitige Gewinn von
Publizität setzt allerdings voraus, dass der Plagiierte das Plagiat
akzeptiert. Ein Kreis von Plagiierenden und Plagiierten führt
diese Praxis vor (s. o.). Plagiierte müssen hier mit negativer
Publizität rechnen und schaden sich selbst, wenn sie ihre Urheberrechte
einzuklagen drohen 14: Sie stören die konkretisierbare
Utopie einer urheberrechtsfreien Zone, in der Wissen zum Allgemeingut
wird. Lovink:
...ideas are tools. Some will design them, others will use
them. Claiming intellectual property doesn´t help much in this case.
It seems better to conceptualize and start building other economic
models for the distribution of content.
Nach Cramer soll diese urheberrechtsfreie Zone nicht
nur ein subkultureller Freiraum sein. Cramer kritisiert plagiaristische
Strategien, die in die Subkultur ausweichen und deshalb konzeptuell
hinter appropriation
art (Mike Bidlo, Elaine Sturtevant, Sherrie Levine, Richard Prince)
zurückfallen. 15 Diese Kritik provoziert die
Frage, wie Cramers Klon der Website www.0100101110101101.org im nicht
musealisierten Zusammenhang der NetArt zu verstehen ist: Seine Plagiierung
des Plagiats leitet die Aufmerksamkeit, die die Plagiierten mit Anticopyright-Strategien
in NetArt-Kreisen erhielten, um. Doch erweitert er damit das Publikum
für Anticopyright-Strategien über NetArt-Kreise hinaus? Cramer
bietet mit seinem Plagiat der Plagiierenden "mind game" und
präsentiert in seinen Texten nicht nur Rekonstruktionen der Ausgangspunkte
der Plagiat-Strategie, sondern auch eine Kritik des "mind game":
Doch kann Cramer in seiner Plagiat-Praxis den Problemen nicht entkommen,
die er auf theoretischer Ebene erkennt.
Lovink stellt Anticopyright-Strategien als Basis vor, um die Software-Entwicklung
vorantreiben zu können, während Plagiat-Strategien den Ideenverzicht
propagieren. Für Anticopyright-Strategien plädieren
von individuellem Urheberrecht zu Gunsten kollektiver Weiterentwicklung
absehende Progammierer und von Nutzungsrechten sich befreiende Anwender.
Die Ersten müssen ihren Erfindungsreichtum verschwenden, damit
die Zweiten für die so geschaffenen Kommunikationsmedien sich
möglichst unoriginelle Anwendungen ausdenken können - was
bestenfalls zu Strategien des originellen Versteckens von programmatischer
Nicht-Originalität führt.
Dr. Thomas Dreher
Schwanthalerstr. 158
D-80339 München.
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Übrigens: Drehers Homepage
bietet zahlreiche kunstkritische Texte, u.a. zur Konzeptuellen Kunst
und Intermedia Art.
Fußnoten
1 Amy
Alexander beschreibt weitere Aspekte von "The Multi-Cultural
Recycler" für "sub fiction", 3. Werkleitz Biennale
1998, Konsumgebäude Tornitz, Internetpräsentation 1, vorgestellt
von Joachim Blank und den KünstlerInnen. In: URL: http://www.werkleitz.de/events/biennale1998/.
Im Folgenden steht die maskuline Form von Begriffen wie "Künstler"
zugleich für die feminine, da "der/die KünstlerIn"
die Lesbarkeit von Sätzen erschwert. zurück
2 Die Gruppe anonymer Künstler, die die Website
www.0100101110101101.org mit Anticopyright-Strategien betreibt, hat
Websites unter anderem von Jodi und Olia Lialina geklont und teilweise
modifiziert (s. Anm.14). Amy Alexander hat in plagiarist.org einen
Teil der Site von 0100101110101101.org geklont:
"a prank on a prank" (Alexander, in: Mirapaul, Matthew:
The
Latest in Digital Art: Stunts and Pranks. In: New York Times,
6.1.2001. Vgl. Dreher, Thomas: Artivismo: www.0100101110101101.org,
Kapitel "A Prank on a Prank". In: URL: http://iasl.uni-muenchen.de/links/lektion11.html#Prank).
"Plagiarism": Cramer, Florian: Anti-Copyright in künstlerischen
Subkulturen (22.9.2000). In: URL: http://www.xcult.ch/texte/cramer/copyright.html;
Marchart, Oliver: "Neo-dadaistischer Retro-Futurismus" oder
wie Stewart Home die Avantgarde erfand. Kap. Plagiarismus als "revolutionary
tool" und multiple names. In: URL: http://netbase.t0.or.at/~oliver/sthome.htm.
zurück
3 Baumgärtel, Tilman: [net.art]. Materialien
zur Netzkunst. Nürnberg 1999. Baumgärtels Geschichte der
Netzkunst 1997 und 1998 (Immaterialien. In: Telepolis. 26.6.1997.
In: URL: http://www.ixmagazin.de/tp/deutsch/special/ku/6151/1.html;
Das Internet als imaginäres Museum. Wissenschaftszentrum Berlin
für Sozialforschung. Berlin 1998. In: URL: http://duplox.wz-berlin.de/texte/tb/)
haben die Erwartungen an das Buch hoch gesteckt. Doch 1999 konnte
Baumgärtel offensichtlich nur noch Schlaglichter durch Interviews
und grobe Systematisierungsversuche in der Einleitung und in der Gliederung
der Linkliste liefern. Die Linkliste stellt die begrenzte Anzahl an
Interviewpartnern in einen umfassenderen Zusammenhang. zurück
4 Nach Niklas Luhmann besitzen Systeme ein "Gedächtnis".
Anders ausgedrückt: In öffentlichkeitsrelevanten Medien
zirkulieren Unterscheidungskriterien, die als Merkmale des Gedächtnisses
eines Systems wieder erkennbar werden, aber auch modifizierbar sind
(Luhmann, Niklas: Die
Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1995, S.305,370,378,472f.,489f.).
zurück
5 Alloway, Lawrence: Network: The Art World described
as a System. In: Artforum. December 1972, S.30. zurück
6 Beispiele: Bochner, Mel: The Serial Attitude. In:
Artforum. December 1967, S.28-33; Graham, Dan: Carl Andre. In: Arts
Magazine. December 1967/January 1968, S.34f.;Judd, Donald: Specific
Objects. In: Arts Yearbook. No.8/1965, S.74-82; Kaprow, Allan: Some
Observations on Contemporary Art. In: Jackson, Martha (Hg.): New Forms
- New Media 1. Kat. Ausst. Martha Jackson Gallery. New York 1960,
o. P.; Morris, Robert: Notes on Sculpture. In: Artforum. February
1966, S.42ff.
Vgl. Alloway, Lawrence: Artists as Writers, Part Two: The Realm of
Language. In: Artforum. April 1974, S.31: "The artists´ statements
did not take the form of manifestoes, which are frequently geared
to future realization, but of articles that were focused on current
issues and problems." zurück
7 Alloway, Lawrence: Network, s. Anm.5, S.31: "The
support system of the knowledge industry was firmly lined up behind
the artists." zurück
8 Über den Kunstbetrieb: Dreher, Thomas: Spektakuläre
Kunstvermittlung und Alternativen. Kunstbetrieb der achtziger und
Chancen der neunziger Jahre. In: Gögger, Christian/Hoffmann,
Justin/Königer, Maribel/Metzger, Rainer (Hg.): Für die Galerie
Dealing with Art. Kat. Ausst. Künstlerwerkstatt Lothringer
Straße. München 1992, S.11-35; Huber, Hans Dieter: Über
das Starsystem in der Kunst (1990). In. URL: http://www.hgb-leipzig.de/artnine/huber/aufsaetze/starsystem.html.
Über die in England inzwischen auch von öffentlichen Institutionen
akzeptierte, alles andere als selbstlose Einflussnahme auf Prozesse
der Etablierung von Künstlern, die dem Sammler Charles Saatchi
mittels Sponsoring gelingt: Waser, Georges: "Ich ein Künstler?
Ich bin ein Markenname." In: Neue Zürcher Zeitung. 4.-5.8.2001,
S.66.
Über Kontext-Kunst: Weibel, Peter (Hg.): Kontext Kunst. Kunst
der 90er Jahre. Kat. Ausst. Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum.
Graz 1993/Köln 1994. zurück
9 Kosuth, Joseph: Introductory Note by the American
Editor. In: Art-Language. February 1970, S.3: "The audience of
conceptual art is composed primarily of artists which is to
say that an audience separate from the participants doesn´t exist.
In a sense then art becomes as `serious´ as science or philosophy,
which don´t have `audiences´ either. It is interesting or it isn´t,
just as one is informed or isn´t." zurück
10 Geert Lovinks Beitrag wird in "Interview
Yourself!" als Erstpublikation der Einleitung zu "Uncanny
Networks" ausgewiesen (Das Buch kann nach Lovink nicht, wie in
"Interview Yourself!" angegeben, 2001 bei Pluto Press in
Sydney erscheinen, sondern 2002 bei M.I.T. Press in Cambridge/Massachusetts).
zurück
11 Snafu: 0100101110110101.org opensources 0100101110101101.org...and
pull the plug. In: Rhizome, 30.5.2001. In: URL: http://rhizome.org/object.rhiz?2559.
zurück
12 Cramer, Florian: Anti-Copyright in künstlerischen
Subkulturen, s. Anm.2, Kap.1; Marchart, Oliver: Neo-dadaistischer
Retro-Futurismus, Kap. Die Koordinaten, s. Anm.2.
Zu "We are not willing" in den beiden Zitaten oben: vgl.
Hegel, Georg Wilhelm friedrich: Grundlinien des Rechts oder Naturrecht
und Staatswissenschaft im Grundrisse (1821). Frankfurt am Main 1986,
§44, S.107: "Sich zueignen heißt...nur die Hoheit meines
Willens gegen die Sache zu manifestieren..." Matthew Fuller weist
dieses Hegel-Zitat als Konzept für einen von zwei Ansätzen
von "the knot of problems pointed to by the terms appropriation/plagiarism/anticopyright"
aus, und beschreibt den anderen Ansatz als "the generation of
contexts in which the creation of dynamics of circulation and use
that have greater or lesser degrees of openness not the imposition
of will prevail." (Fuller, Matthew: Data-Nudism. An interview
with 0100101110101101.org about life_sharing (16.4.2001). In: URL:
http://bbs.thing.net/@1004587907psV5iK3Ar6CIjR@/reviews/display.forum?246
(Nicht direkt erreichbar: Auf der Homepage von "The Thing",
die mit obiger Adresse leider erscheint, als "guest" einloggen,
"review" anklicken, und dann "review-archiv" wählen.)
zurück
13 Lampalzer, Gerda: Videokunst. Historischer Überblick
und theoretische Zugänge. Wien 1992, S.23ff.,30-33,78f.,89,178,180f.
Vgl. Nam
June Paik 1971: "Communication means the two-way communications.
One-way communication is simply a notification...like a draft call.
TV has been a typical case of this non communication and mass audience
had only one freedom, that is, to turn on or off the TV...My obsession
with TV for the past 10 years has been...a steady progression towards
more differentiated participation on viewers." (Beeren, Wim (Hg.):
Sonsbeek `71. Kat. Ausst. Sonsbeek buiten te perken. Sonsbeek 1971.
Deel 1, S.84) zurück
14 Kenneth Aronson, Gründer von HELL.COM,
einer via Pay-per-view zugänglichen Site, äußerte
nach dem Plagiat seiner Website durch 0100101110101101.org:
"...in the final analysis, it is just simple theft" (Mirapaul,
Matthew: An Attack on the Commercialization of Web Art. In: New York
Times, 8.7.1999). Das Plagiat wurde möglich, weil HELL.COM für
48 Stunden mit einem Passwort für Rhizome-Abonnenten
zugänglich war. Aronsons Status quo-Argument überträgt
vorhandenes Copyright auf das Internet, während die Gruppe Luther
Blisset, die sich als Urheber des Plagiats auswies, darauf besteht,
"that information must be free", und den rechtlichen Status
quo im Internet durch eine Copyright-freie Zone ersetzen will. Das
HELL.COM-Plagiat blieb im Netz.
Aronsons neue Website NO-SUCH
gibt sich in einem kleinen Faltprospekt von ISLAND
8081.com als Nachfolger von HELL.COM zu erkennen, nicht ohne auf
die markanteste Änderung, den ungehinderten öffentlichen
Zugang, hinzuweisen: "...a paradigm shift to make the project
more accessible to the public." zurück
15 Cramer, Florian: Anti-Copyright in künstlerischen
Subkulturen, s. Anm. 2, Kap.3. zurück
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