IASLonline NetArt: Theorie


Thomas Dreher

Geschichte der Computerkunst


IV. Bilder in Bewegung
IV.3 Evolutionäre Kunst


in English

 

IV.3.1 Biomorphs

Der "synthetische Realismus" 1 der Computeranimation (s. Kap. IV.2.1.3 und IV.2.1.4) ergibt sich in Spielfilmen aus der Zusammensetzung von in ihren Ansichten verschiebbaren, dreidimensional programmierten Objekten nach Vorstellungen eines Storyboards: Die Ansichten der dreidimensionalen Elemente sind zwar errechnet und ihre Transformation folgt den Algorithmen das Animationsprogramms, zugleich aber werden sie in Detailarbeit nach Vorstellungen des aus Zeichnungen bestehenden Storyboard überarbeitet.

Mit diesem Patchwork-Charakter arbeiten William Latham und Karl Sims (s. Kap. IV.3.2) auf eine von Spielfilmen abweichende Weise: Mit der Filmhandlung entfällt auch die kinematografische Funktion des Storyboards. Die Filmhandlung ersetzen erkennbar algorithmisch strukturierte Entwicklungen der Computeranimation.

Latham und Sims entlehnen biologischen Vorstellungen der Entwicklung von Zellen und Lebewesen die Einschränkung möglicher Entwicklungen durch Umweltfaktoren. Ihre Animationsprogramme enthalten Entwicklungsmöglichkeiten und der Mensch – der Künstler oder der Beobachter – kann stellvertretend für die Funktionen der Umwelt wählend in Rechenprozesse eingreifen, die diese Möglichkeiten entfalten. Statt ihr Zusammengesetztsein hinter kinematografischen "Realitätseffekten" 2 zu verbergen, entwickeln Latham und Sims ihre dreidimensionalen Bildwelten aus dem Wechselspiel von programmiertem Verlauf und diesen beeinflussenden Eingriff.

Die Biologie lieferte Latham und Sims Anregungen für ihre Evolutionäre Kunst: Die Theoretische Biologie verwendet Modelle, die Konzepte von Evolution als Programme für Computer vorführen. Der Konzeptualisierung von Möglichkeiten für biologische Entwicklungen wird der Vorzug vor dem Labortest mit realen Zellen gegeben. 3

Richard Dawkins stellt im dritten Kapitel von "The Blind Watchmaker" (1986) eine Computersimulation vor, in der durch die Verzweigung "Bäume" entstehen. Durch wiederholte symmetrische Verzweigungen reduziert Dawkins die Codes beziehungsweise die "Gene", welche die Programmelemente für die Verzweigung enthalten. Durch die Kombination und Wiederholung dieser "Gene" entstehen "biomorphs" aus Formen, die Pflanzen und Tieren ähnlich sind. 4 Dawkins greift den Begriff "biomorph" des englischen Zoologen und Künstlers Desmond Morris auf. Morris bezeichnete die Tiere verwandten Figuren seiner spätsurrealistischen, von Yves Tanguy beeinflussten Bilder als "biomorphs". 5

Richard Dawkins: The Blind Watchmaker 1986 Fig.8

Dawkins, Richard: The Blind Watchmaker, 1986, Beispiele für ein Modell des "evolution game" (Dawkins: Watchmaker 1986, S.70, Fig.8).

Dawkins´ Modell führt die Relation zwischen genotypischen Codes ("genes") und den durch ihre rekursive Ausführung generierbaren phänotypischen Merkmalen ("biomorphs") vor. Die biologischen Entwicklungen verlaufen "bottom up" ohne übergeordnetes Ziel. Während der über Generationen entstandenen "cumulative selection" 6 ergeben sich auch kontextsensitive Reaktionen zwischen parallel zueinander auftretenden Entwicklungen. Diese Sensitivität ist ausschließlich "lokal-determiniert". 7

Einerseits gibt es ein "evolution game" mit den in den "genes" enthaltenen Entwicklungsregeln, die Elemente reproduzieren und durch Mutation variieren, andererseits lässt sich die Entwicklung von einem "human selector" 8 beeinflussen und von ihrer mehrsträngigen Vielfalt auf eine bestimmte Entwicklungslinie reduzieren. 9

Dawkins hebt den Unterschied zwischen nicht gelenkter Entwicklung in Artificial Life und den Welten simulierenden Computer Games hervor. Er unterscheidet "computer games" von "evolution games": Erstere sind "designed by a human programmer", während in letzterem Fall "the monsters that one encounters are undesigned and unpredictable." 10 Für Dawkins bestehen "evolution games" aus der Relation zwischen Entwicklungsregeln und Mutation erzeugendem Pseudo-Zufall.

 

IV.3.2 Evolution and Processing

1992 stellten William Latham und Stephen Todd in dem Buch "Evolutionary Art and Computers" ihre Arbeit an und mit einem Programm für die Generierung biomorpher Formen vor. Das von Todd erstellte Programm für den IBM 3081 Mainframe Computer (ab 1980) mit IBM 5080 (ab 1983) und 6090 Graphics Systems 11 des IBM United Kingdom Scientific Centres in Winchester erleichtert es durch Editoren dem Künstler Latham mit Eigenschaften der Software so zu arbeiten, dass er sich bei seiner Selektion von dreidimensionalen Elementen und Kombinationsweisen auf die visuelle Erscheinung konzentrieren kann. Die künstlerische Wahl findet in Phasen statt, während das Programm neue Möglichkeiten zuspielt. Die Editoren liefern Pläne aus Körpergrenzen und -kanten markierenden Linien, bevor Farben, Oberflächeneigenschaften und Schatten hinzugefügt werden. Mit einem "three space tracker" kann Latham das virtuelle Objekt im Bildraum bewegen. 12

William Latham: Form Synth 1989

Latham, William: Form Synth, 1989, Detail aus einer 10 Meter langen Zeichnung (Todd/Latham: Evolutionary Art 1992, S.5, Fig.1.6).

Die mit dem "ESME (Extensible Solid Model Editor) programming tool" von Todd entwickelte Software "Form Growth" baut auf von Latham gezeichneten "evolutionary trees" auf. Latham stellte diese Zeichnungen der Serie "Form Synth" 1989 vor. 13 "Form Synth" liefert ein Vokabular für dreidimensionale Elemente, die das CSG (Constructive Solid Geometry) Programm als Linienzeichnungen anzeigt. 14 So gibt es verschiedene Elemente, die zu "horns" kombiniert werden können. Durch Eingaben im Editor kann Latham die Mengen und Kombinationsweisen der Elemente bestimmen. 15 Die Elementkombinationen können wiederum Gruppen bilden, die in den "Mutations" (1991-92) auch in zufälliger Anordnung neben- und untereinander erscheinen. In "continuous evolutions" können "gene banks" zur weiteren Bearbeitung und Animationen mit "life cycles" entstehen, die bestimmen, wie lange "genes" leben beziehungsweise in der Animation wiederkehren. 16

William Latham: Horns, Structure Mutation

Latham, William: Horns, Structure Mutation mit der Software Mutator (Todd/Latham: Evolutionary Art 1992, S.99, Fig.5.26).

Latham und Todd erklären die Entwicklung ihrer Animationen:

In our earliest animation, "The Conquest of Form" [1987] , the view of the rigid forms moved but the forms themselves did not change – so called `view animation´. Later in "A Sequence from the Evolution of Form" [1989] the forms metamorphosed using a technique called "gene interpolation" 17, but only a single form was visible at any one time. Our latest animation "Mutations" [1991-92] illustrates the process of a surreal evolution, involving breeding and growth, with many forms animating with complex interactions. 18

William Latham: Mutations 1992

Latham, William: Mutations, Film, 1992
(Todd/Latham: Evolutionary Art 1992, o.P., Fig.31).

In Todds Programm nimmt Latham die Funktion des "human selector" (s. Kap. IV.3.1) ein. Latham bezeichnet sich als "artist gardener", der nach ästhetischen Kriterien und mit einer "parody" der Wissenschaft des Artificial Life arbeitet. 19 Als "Parodie" kann die Gleichgültigkeit der Formentwicklung von Lathams und Todds "Evolutionary Art" gegenüber den Problemen der Theoretischen Biologie verstanden werden, Computersimulationen als Rekonstruktion von Gesetzen der Entwicklung natürlicher Zellen zu programmieren (s. Kap. IV.3.1). Schon "Form Synth" zeigt, dass es sich bei der Auswahl von Grundelementen und Kombinationen nicht um ein biologisches Modell, sondern nur um Anregungen durch "biological forms" handelt: "Our systems...often bear no relation to biological reality." 20

Karl Sims: Panspermia 1990

Sims, Karl: Panspermia, Film, 1990.

Karl Sims stellt 1990 in dem Kurzfilm "Panspermia" eine künstliche Welt biologischer Formen als autonomen Kosmos vor, in dem Parallelen zur Evolution der Geologie und Fauna auf der Erde wiederkehren. In dieser Kunstwelt findet Sims für das Programm Particle Systems nach dem Kurzfilm "Particle Dreams" (1988, s. Kap. IV.2.1.4.1) eine neue Anwendung zur Darstellung sich auflösender und neubildender dreidimensionaler Körper.

Die Filmsequenzen führen die "Artificial Evolution" von sich wiederholenden Verzweigungen und Mutationen stengel- und blattförmiger dreidimensionaler Elemente vor. In Sims´ Software für die Connection Machine CM-2 der Thinking Machines Corporation bestimmt die menschliche Auswahl den Fortgang der künstlichen Selektion. Aus den vom Programm angebotenen Funktionen wählt der Künstler eine hinreichend komplexe Anzahl aus. Diese Funktionen entscheiden über den Aufbau von zweidimensionalen Elementen (x- und y-Achse), die eine dritte tiefenräumliche Achse (z-Achse) für Schattierung und Texturen erhalten.

In "genetic cross dissolves" werden bei ähnlichen Bildern die verschiedenen Charakteristika zur Grundlage der Weiterentwicklung verwendet. Bei Bildern verschiedener Abstammung wird ein drittes Bild als Verbindung der beiden Zweige konstruiert. In dieses Verfahren können auch fremde Bildquellen integriert und Transformationsprozessen unterworfen werden.

Karl Sims: Primordial Dance 1991 Karl Sims: Primordial Dance 1991 Karl Sims: Primordial Dance 1991

Sims, Karl: Primordial Dance, Film, 1991.

"Primordial Dance" (1991) führt die Transformation von Gesichtsformen am Ende einer Filmentwicklung vor, die ansonsten weniger biologisch als "Panspermia" im Bildvokabular ausgerichtet ist, als vielmehr abstrakt-organisch an einer Gestaltung der ganzen Bildfläche. Es geht Sims offensichtlich weniger um das Aufzeigen von 3D-Effekten als vielmehr darum, fortwährend verändernde Strukturen mit tiefenräumlichen Charakteristika vorzuführen, die aus den zweidimensionalen Funktionen seines in Lisp geschriebenen Programms generiert werden. In dem Artikel "Artificial Evolution for Computer Graphics" stellt er 1991 diese Vorgehensweise vor, nicht ohne auf Richard Dawkins´ aus zweidimensionale Verzweigungen entstehende "biomorphs" zu verweisen. 21

Karl Sims: Genetic Images 1993

Sims, Karl: Genetic Images, Installation, Linz 1993.

Voraussetzung dieser "Artificial Evolution" ist die parallel prozessierende Connection Machine CM-2 mit 32 768 Prozessoren der Thinking Machines Corporation, bei der Sims als Artist-in-Residence arbeitete. Die Fähigkeiten dieses Rechners führt die Installation "Genetic Images" (1993) 22 vor: 16 Monitore zeigen Entwicklungszustände eines Bildes. Druckempfindliche Sensoren vor allen Monitoren erlauben es Beobachtern, den von ihnen bevorzugten Zustand zu wählen, der dann grundlegend für die parallele Entwicklung auf allen Monitoren wird. Die Bilder wechseln ungefähr alle 30 Sekunden. 23

Im Vergleich zu Latham und Todd verschiebt Sims die Aufmerksamkeit des "human selector" (s.o.) auf die in der Software – den "functions", die aus "genotypes" "phenotypes" errechnen – angelegte Entwicklung. 24 Der "human selector" erscheint nicht als nach visuellen Kriterien souverän gestaltender "gardener" (William Latham, s.o.), sondern als im System vorgesehener Selektor von Sequenzen. 25

IV.3.3 Fractal Flames

Scott Draves entwickelte den "Fractal Flame Algorithm" 1991 und veröffentlichte ihn 1992 mit einer General Public License (GPL), die Weiterentwicklungen ermöglicht, so unter anderem 2004 durch Mark Townsends "Apophysis", das Draves´ Programmierung von C in Delphi Pascal übersetzt. 26 Aus dem Tool zur Bildgenerierung wurde 1999 mit dem Screensaver "Electric Sheep" eine sich ständig ändernde Animation: Ein Netzwerk von Computern entwickelt aus Fraktalen Fraktale. Beobachter, die den Screensaver auf ihrem Rechner installiert haben, können mit ihrer Wahl von Fraktalen die Dauer des Verbleibs im Netzwerk verlängern und die Häufigkeit ihres Erscheinens auf dem Bildschirm erhöhen. Außerdem beeinflussen Beobachter mit ihrer Wahl, welche Fraktale zur Grundlage weiterer Entwicklungen werden.

"Fractal Flames" basiert auf Wiederholungen von Formen und Generierungen durch rekursive "affine" Transformationen. Auf diese linearen Variationen folgt eine weitere Transformationsphase mit nicht-linearen Funktionen, auf die wiederum "a post transform" mit weiteren affinen Funktionen folgt. Pro "flame" kann eine "final transform" den Bildprozess abschließen. 27

Das "tone-mapping" ist ein "log-density mapping": Während der Transformationen werden Pixel mehrfach besetzt. Ein "histogram" zählt diese Besetzungen, die dann für das "tone-mapping" maßgebend sind. Eine weitere Koordinate wird in der dritten Transformationsstufe ("post-transforms") hinzugefügt, um jeder Funktion Farben zuzuordnen. Die Transformationen werden in zweidimensionalen Zwischenspeichern aufbewahrt, bis der Bildprozess abgeschlossen wird. Die zweidimensionale Bildgenerierung provoziert dreidimensionale optische Effekte. 28

Den drei Farbkanälen ist seit 2001 ein vierter Kanal zugeordnet, der Farbkorrekturen dient, um in Kathodenstrahlröhren die dunklen Bildteile nicht zu dunkel erscheinen zu lassen. Symmetrieeffekte ordnen seit 2003 die Erscheinung der "flames" und vereinfachen die visuelle Wahrnehmung. 29

Scott Draves: Electric Sheep 1999

Draves, Scott: Electric Sheep, Rechner-Netzwerk, Internet, Screensaver, 1999.
Screenshot (März 2011) mit Gebrauchsanweisung.

In "Electric Sheep" empfangen die Rechner, deren Benutzer den Screensaver installierten, von einem "distributed system...with client/server architecture" fraktale Animationen. Jedes dieser "sheeps" besteht aus 128 Frames und "160 floating point numbers", die seinen "genetic code" bilden. Beobachter können durch Klick auf die Taste mit nach oben weisendem Pfeil das von ihnen bevorzugte "sheep" wählen, dessen Lebensdauer im System von der Anzahl der Wählerstimmen abhängt. Draves erwähnt Karl Sims (s. Kap.IV.3.2) als Vorbild für diese "fitness" durch Beobachterwahl. Sims´ Supercomputer ersetzt Draves durch ein "distributed system" aus über Internet verbundenen Personal Computern. 30

Scott Draves: Electric Sheep 1999

Draves, Scott: Electric Sheep, Rechner-Netzwerk, Internet, Screensaver, 1999.
Screenshots zweier aufeinander folgender Phasen (April 2012).

Seit März 2004 können über "Apophysis" Netzteilnehmer "sheeps" selbst entwerfen und diese "genome" an den Server von "Electric Sheep" schicken. Der Server wiederum verteilt die "genomes" an "all active clients" (die Rechner im Netzwerk). 31 Die "clients" speichern "sheeps", die sie vom Server abgeladen haben. Diese "sheeps" werden von den Clients nach einem vom Server empfangenen "genome specifying a frame to render" transformiert und an den Server geschickt. Der Server besteht aus zwei Maschinen. Eine Maschine "runs the evolutionary algorithm, collects frames and votes, compresses frames, and sends genomes to clients for rendering". Die andere Maschine verschickt die so erstellten "MPEGs" über das Internet an Rechner mit installierten Screensavern. 32

Scott Draves: Electric Sheep 1999

Draves, Scott: Electric Sheep, Rechner-Netzwerk, Internet, Screensaver, 1999.
Screenshots aufeinander folgender Phasen (März-April 2012).

Mit "Electric Sheep" ist aus evolutionärer Kunst für Großrechner ein vernetztes System geworden, dessen Output via Screensaver empfangen und den Alltag an Personal Computern prägen kann: Zeiten des Rechnerstillstandes werden zu Zeiten der Bildschirmpräsentation von "Electric Sheep". Zwischen Transformationsstadien von "Electric Sheep" zu wählen kann in Arbeitspausen zur Gewohnheit werden. Mit der Abwechslung im Arbeitsalltag kann "Electric Sheep" auch die Rückkehr zur Arbeit erleichtern.

IV.3.4 Emergenz

Peter Cariani differenziert in "Emergence and Artificial Life" zwischen Graden der Emergenz. Gordon Pasks erfolgreicher Versuch von 1956 oder 1957, aus einer Lösung mit Eisensulfid mittels Elektroden Anordnungen von Eisenspänen entstehen zu lassen, die audiosensitiv werden, weist Cariani als eine Extremform der Emergenz auf, in der Neues entsteht. 33 Die Grenzen der Emergenz liegen bei Evolutionärer Kunst unterhalb dieses Extrems, da sie nicht die Entwicklung von Adaptionsfähigkeiten an Umwelt bis zur Selbsttransformation zum Ziel hat, sondern aus Selbstkontaminationen durch Elemente verschiedener Entwicklungslinien und -stufen (durch Interpolation und Crossover) visuelle Strukturen konstruiert und dazu die externe Wahl durch Künstler oder Beobachter als Einschränkung der Möglichkeiten ihrer Selbstgenerierung einfordert.

Niklas Luhmann erklärt in "Die Kunst der Gesellschaft" den Zusammenhang zwischen "System und Evolution" in der Kunst im Rückgriff auf Henri Focillons «La vie des formes» als ein autopoietisches Differenzieren von Formen – als "re-entry der Form in die Form". 34 In Evolutionärer Kunst ist das auf geeigneter Hardware installierte Programm das "System", die Rechenprozesse erzeugen die "Evolution" und der eines der Zwischenresultate wählende Autor oder Beobachter liefert die Störung, auf die das System in der Folgeentwicklung reagiert.

Luhmanns Erklärung der "Autopoiesis" des Systems, das in seiner Entwicklung durch interne Ausdifferenzierung zunehmend reaktionsfähiger auf extern verursachte Störungen wird 35, setzt William Ross Ashbys "Homöostase" als auf externe Störungen folgende Wiederherstellung des Systemgleichgewichts durch Selbstregulierung voraus. Ashbys "law of requisite variety" stellt als Grundlage der Fähigkeit eines Systems, auf Umwelteinflüsse zu reagieren, seine interne Differenzierung vor. 36 Bei Luhmann wird aus Ashbys "Homöostase" auf der Basis von "requisite variety" die Autopoiesis des Systems, das in seiner Entwicklung Ausgeschlossenes im "re-entry" wieder aufnimmt, sofern es dazu durch hinreichende interne Differenzierung in der Lage ist. 37

In "Die Kunst der Gesellschaft" stellt Luhmann das "Kommunikationssystem Kunst" als ein Heteronomes durch "re-entry" zwar aufnehmendes, seine Fähigkeit zur Selbstdefinition aber durch Grenzsetzung (als Ausschluss von Nicht-Kunst) bewährendes autonomes System vor. Eine Störung bewirkt keine Selbstrevision des Systems, sondern provoziert Entscheidungen, durch die das System sich durch Evolution oder Ausschluss des Störenden bewähren kann. Dem Beobachter als Teilnehmer im "Kommunikationssystem Kunst" wird zugestanden, die Evolution des Systems durch kritische Beiträge zu fördern, die zur Verschiebung der Grenze zwischen Kunst und Umwelt führen können. 38

In Evolutionärer Kunst wird der Teilnehmer als Formen Wählender integriert, der dann im Diskurs über diese Kunstform immer schon als Beteiligter involviert ist, aber als solcher gleichwohl die Schnittstelle zwischen externer Beobachtung und systeminterner Organisation nicht überschreitet.

Evolutionäre Kunst kann als Plädoyer für autonome Kunst im "Kommunikationssystem Kunst" aufgefasst werden. Mit dem Verweis auf überwindbare technische Grenzen lässt sich Evolutionäre Kunst aber auch als Verweis auf veränderbare Charakteristika verstehen, durch welche sich neue Anstöße für Diskurse im "Kommunikationssystem Kunst" ergeben können. 39 Damit stehen auch Fragen zur Selbstabgrenzung des Systems Kunst erneut zur Disposition.



Dr. Thomas Dreher
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Anmerkungen

1 Manovich: Realitätseffekte 1995, S.59. zurück

2 Manovich: Realitätseffekte 1995, S.52,58. zurück

3 Langton: Artificial Life 1993, Chap. 1, S.25ff.; Reichle: Kunst 2005, S.127,133. zurück

4 Dawkins: Watchmaker 1986, Chap.3, S.43-74. zurück

5 Dawkins: Watchmaker 1986, S.55. zurück

6 Dawkins: Watchmaker 1986, S.45,49. zurück

7 Langton: Artificial Life 1993, Chap. 4.2, S.40f. zurück

8 Dawkins: Watchmaker 1986, S.57,60. zurück

9 Dawkins: Watchmaker 1986, S.58, Fig.4. zurück

10 Dawkins: Watchmaker 1986, S.60. zurück

11 Todd/Latham: Evolutionary Art 1992, S.167,169: Vor dem IBM 5080 wurde ein Vector General 3300 eingesetzt. zurück

12 Todd/Latham: Evolutionary Art 1992, S.170f. zurück

13 Todd/Latham: Evolutionary Art 1992, S.2-6,33f.,37f. zurück

14 Todd: Techniques 1990; Todd/Latham: Evolutionary Art 1992, S.134-137,171-180. CSG basiert auf dem von Peter Quarendon 1983 bei IBM entwickelten WINSOM Renderer. zurück

15 z.B. "Structure mutation": Todd/Latham: Evolutionary Art 1992, S.99ff. zurück

16 Todd/Latham: Evolutionary Art 1992, S.102f. zurück

17 Anmerkung: "This is usually called `parameter interpolation´, but `gene interpolation´ fits better with our terminology." (Todd/Latham: Evolutionary Art 1992, S.109) zurück

18 Todd/Latham: Evolutionary Art 1992, S.109. zurück

19 "Artist gardener": Todd/Latham: Evolutionary Art 1992, S.12,98,207,209.
"Parody": "We create computer sculptures using a parody of genetic engineering." (Todd/Latham: Evolutionary Art 1992, S.208). zurück

20 Todd/Latham: Evolutionary Art 1992, S.40. zurück

21 Sims: Evolution 1991. zurück

22 Sims: Evolution 1993; Sims: Bilder 1993, S.404f. zurück

23 Whitelaw: Metacreation 2004, S.24.
Zur Technik der Connection Machine: Langton: Artificial Life 1993, Chap. 7.7, S.61ff.
Zum Design der Connection Machine: Thiel: Machina Cogitans 1993. zurück

24 Sims: Evolution 1991, Kap.2.1, 4.1. zurück

25 Sims: Bilder 1993. zurück

26 Draves/Draves: Flame 2010; Draves/Reckase: Flame 2008. zurück

27 Draves/Reckase: Flame 2008, S.4ff. zurück

28 Draves/Reckase: Flame 2008, S.9. zurück

29 Draves/Reckase: Flame 2008, S.11. zurück

30 Draves: Electric Sheep 2005. zurück

31 Draves: Electric Sheep 2005, PDF S.1 (Aktuell im April 2012: Über die Mailing List Genetic-design können eigene, mit Fractal Flame-Editoren erstellte Beiträge an das Archiv der Liste geschickt werden). zurück

32 Der Server ist mit Perl programmiert. Die Clients dagegen mit C, C++ und Objective-C. Alle Codes sind Open Source (GPL. In: Draves: Electric Sheep 2005, Kap.2, PDF S.2f.). zurück

33 Cariani: Emergence 1991, S.789. Vgl. Whitelaw: Metacreation 2004, S.222f. Gordon Pask äußerte während seines Versuchs zu Stafford Beer: "It´s growing an ear." (Pickering: Brain 2010, S.341f.)
Definitionen von "Emergenz": Cariani: Emergence 1991, S.775f.; McCormack/Dorin: Art 2001, PDF S.4. zurück

34 Luhmann: Kunst 1995, S.238, Anm.34.
Luhmanns Referenz auf Focillon (Focillon: Vie 1934): Luhmann: Kunst 1995, S.176 mit Anm.19, S.190 mit Anm.34. zurück

35 Luhmann: Kunst 1995, S. 84-88, 301, 329-333, 336. zurück

36 s. Kap. II.1.5 mit Anm.18 über Ashby´s "Homöostase"; Luhmann: Kunst 1995, S.483. zurück

37 Porr: Systemtheorie 2002, S.12f. zurück

38 Dreher: Kunstwerk 2008, S.57; Luhmann: Kunst 1995, S.131. zurück

39 Draves´ "Electric Sheep" kann sowohl die am Ende von Kap. IV.3.3 beschriebene Gebrauchsfunktion im Arbeitsalltag als auch die Rolle einer Diskursprovokation im "Kommunikationssystem Kunst" einnehmen. zurück

 

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