IASLonline NetArt: Theorie


Thomas Dreher

Geschichte der Computerkunst


VIII. Résumée
VIII.1 Drei Modi


in English

 

VIII.1 Drei Modi

Als Charakteristika der in Computerkunst angewandten Verfahren werden im Folgenden drei Modi vorgestellt: Beziehungen zwischen Interface-Benutzer, Programmierung und Rechenprozessen werden von generativen, hypertextuellen und modularen Verfahren geprägt.

Evolutionäre Kunst (s. Kap IV.3.1, IV.3.2) überlässt im Verlauf eines prinzipiell unendlichen Rechenprozesses schrittweise die Wahl zwischen programmierten Möglichkeiten dem Rechner oder alternativ dem Beobachter, sofern dieser in der vom Programm vorgesehenen Weise eingreift. 1

Scott Draves: Electric Sheep

Draves, Scott: Electric Sheep, Rechner-Netzwerk, Internet, Screensaver, 1999.
Screenshots aufeinander folgender Phasen (November 2012).

Das Programm besteht aus einem System, das die Generierung festlegt. Im Prozessverlauf werden bei Evolutionärer Kunst die Resultate vorangegangener Prozesse transformiert und Alternativen für weitere Generierungen offeriert. Die Ausgabemedien präsentieren diese Prozesse in der Zeitdimension und bieten Beobachtern durch Interfaces die Wahl von Alternativen. Trotz dieser Wahl bleibt der programmierte Rechenprozess der Hauptakteur und ein Beobachter erhält nur die Wahl zwischen den vom Generierungsprozess vorgegebenen Alternativen, die ohne ihn das System im Verlauf der Generierung selbst getroffen hätte. Wenn der Beobachter kurzfristig die Rolle des "agent" übernimmt, unterbricht er nicht die Durchführung des Rechenprozesses, sondern wird zum Initiator, der den Verlauf weiterer Rechenprozesse mitbestimmt. Beobachter verfolgen den größten Teil der Generierungszeit als "patients" (als die Generierung passiv Wahrnehmende). 2

Evolutionäre Kunst ist eine Variante Generativer Kunst. Der Begriff Generativ bezeichnet Verfahren der Transformation, deren Ende nicht bestimmt ist: Der Prozess der Umwandlung des Umgewandelten ist Weg und Ziel.

Bei der Organisation von Hypertext-Databases sind Beobachter kooperierende Teilnehmer (s. Kap. VI.2.3), die über die Wahl der Texte, ihre Einteilung in Karten oder Knoten ("nodes"), die Etiketten (oder "topics") für diese Karten und die Verknüpfungen (Links) zwischen diesen entscheiden. 3 Server speichern diese Prozesse und ermöglichen es Teilnehmern, das Gespeicherte an Terminals abzurufen und Neues hinzuzufügen. Die Teilnehmer sind "agents" und die Database ist das kollektive Gedächtnis der Teilnehmer. Das maschinelle Gedächtnis einer Hypertext-Database ist "patient", bis es durch die Database-externen "agents" aktiviert wird, um gespeicherte Daten freizugeben und neue Eingaben zu speichern. Ein maschinelles Gedächtnis mit digitalen Schreibsystemen provoziert, modifiziert und erweitert die Kognition der Teilnehmer: "Augmenting Human Intellect". 4

Bauer, René/Maier, Jo: nic-las 1999

Bauer, René/Maier, Joachim: nic-las, Stalker, ab 1999, Webprojekt.

Das hypertextuelle Verfahren verteilt die "agent"–"patient"–Rollen konträr zum generativen Verfahren: Der Hauptakteur ist im hypertextuellen Verfahren der Beobachter, der sich mit anderen Teilnehmern vernetzen und über die Database ein im Vergleich zu älteren Schreibsystemen und etablierten Sprachgebräuchen modifiziertes Kommunikationssystem aufbauen kann. Für die Teilnehmer bleibt während aller Aktionen am Interface ihres Terminals ihre Koordination von Zeichen mit Bedeutungen konstitutiv. In generativen Verfahren dagegen sorgen von Codes ausgelöste Rechenprozesse für ein Zuspiel der Ausgabemedien an Beobachter. Gegenüber diesem "agent" verhalten sich Beobachter "patient" und versuchen beim Nachvollzug mehrerer Zuspielphasen eine Vorstellung von der Bandbreite der Generierung zu bekommen.

Während bei hypertextuellen Verfahren Codes zur Verknüpfung von gespeicherten Textzeichen eingesetzt werden, deren Bedeutungsfelder durch den Sprachgebrauch etabliert sind, ist bei generativen Verfahren der von einem Programm gesteuerte Rechenprozess werkkonstitutiv: Der Code enthält entweder keine computerextern vorcodierten Zeichen wie zum Beispiel Worte oder er verwendet diese als Elemente, die nur verschoben oder deren Formen beliebig transformiert und somit desemantisiert werden.

In hypertextuellen Verfahren dienen "algorithmische Zeichen" 5 (als Links, Anker u.a.) der Semantik, während sie in generativen Verfahren das Programm konstituieren, dass einen Rechenprozess steuert, den Ausgabemedien präsentieren. Das vor den Augen des Beobachters ablaufende Resultat lässt sich im Hinblick auf die Programm-Ausführung-Relation lesen: Die Rekursion auf ihre technische Konfiguration bieten generative Verfahren statt der Unterstützung von Semantik und Gedächtnisfunktion durch hypertextuell organisierte Databases. Die Kognition reagiert auf die Rechenresultate generativ organisierter Werke entweder indifferent und abwartend, oder sie enthalten Herausforderungen, da sie eingespielte Wahrnehmungsschemata stören und in Frage stellen, während Hypertexte den Umgang mit "semantischen Netzen" 6 erleichtern und erweitern.

Dreidimensionale Simulationen können heute mit Animationsprogrammen für Personal Computer erstellt werden, die Weiterentwicklungen der in Kapitel IV.2.1.2–IV.2.1.3 vorgestellten Bausteine als Programmmodule enthalten. Designer erstellen dreidimensionale Objekte mit diesen Programmmodulen, die dann als Bausteine oder Module einer Animation für die Auswahl von Ansichten dienen, mit denen Filmsequenzen erstellt werden. 7 Bei der Erstellung einer Filmanimation wählen Designer in Arbeitsprozessen verschiedene Objektzustände nach künstlerischen Gesichtspunkten aus, meist nach von Hand gezeichneten Vorgaben des Storyboard (s. Kap. IV.3.1). Designer vermitteln modulare Möglichkeiten eines Animationsprogramms mit menschlichen Wahrnehmungsschemata für Gegenstände und Bewegungen im Hinblick auf einen im Storyboard in Form von Skizzen der Bildsequenzen festgelegten Filmablauf.

In den achtziger Jahren wählte ein Designer Ansicht und Größe des aus Drahtgittermodellen und Polygonen errechneten dreidimensionalen Objekts, die Art der Glättung der Polygone, Textur, Farbe, Lichtreflexion und Schattierung. In Animationsprogramme für Personal Computer sind diese Verfahren seit Mitte der neunziger Jahre zusammen mit Bildbearbeitungsverfahren in ein System integriert. Filmanimation arbeitet seitdem häufig mit zweidimensionalen Bildvorlagen als Ausgangselement. Die Programmmodule können vom Designer in Variationen durchgespielt werden, bis die nach filmästhetischen Kriterien beste Variante für die Realisation des Storyboards gefunden wurde. Der Wechsel des Designers zwischen visueller Wahrnehmung von Zwischenresultaten und korrigierender Steuerung der Programmmodule besteht aus einem Wechsel der "agent"–"patient"–Rollen zwischen Designer und Computer. Im Verlauf dieser Wechsel entstehen Realisationen des im Storyboard manuell Fixierten. Dieser Wechsel ist typisch für "modulare" Verfahren, wie sie Lev Manovich ins Zentrum seiner Untersuchungen von "Info-Aesthetics" stellt. 8

Für Spielwelten von Computer Games werden von Designern aus errechneten 3D-Elementen Databases für Game Engines gebildet und Spielverläufe nach Kriterien der Immersion angelegt (s. Kap. VII.1.3 mit Anm.76). Während der Zuschauer bei einem animierten Film die modulare Produktionsweise nur nachvollziehend, als "patient", erlebt, können Spieler von Games die 3D-Welt erkunden und simulierten Körpern von mehreren Seiten und Blickwinkeln begegnen (s. Kap. VI.1.3.1): Das modulare Verfahren wird zur Voraussetzung für den "agent", den Spieler, der Körper aus verschiedenen Blickwinkeln sieht und auch als Gegner erfahren kann (z. B. EverQuest, Massively Multiplayer Online Role-Playing Game von Verant Interactive, 1999).

Verant Interactive: EverQuest, 1999, MMORPG.

In modularen Verfahren stützt die Software Möglichkeiten, Kunstwelten schrittweise in von künstlerischen Kriterien geleiteten Entscheidungen entstehen zu lassen, während Generative Kunst künstlerische Kriterien nur bei der Programmierung zulässt und dann menschliche Intervention – abgesehen von Möglichkeiten der Auswahl – bei der Programmentfaltung in Rechenprozessen ausschließt. In hypertextuellen Verfahren dagegen wird über das Setzen von Verknüpfungen durch Interventionen in Text entschieden: Die den Computer steuernden Codes für Links und Anker zwischen Text(teil)en werden von Teilnehmern nach semantischen Kriterien eingefügt. Was codierte Funktionselemente in Texten auf semantischer Ebene bewirken, bleibt in Hypertexten maßgebend, während in Generativer Kunst das Verhältnis zwischen Code und den im Rechenprozess entstehenden, in Ausgabemedien in der Zeitdimension vorgeführten Oberflächen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Im hypertextuellen Verfahren gibt es keine Überraschungen durch interventionsfrei ablaufende Rechenprozesse, in Generativer Kunst und ihrem Vorläufer, der permutationellen Computerliteratur (s. Kap III.1.2, III.1.3, VI.2), dagegen schon.

Modi

Agent-Patient-Relations für drei Modi der Verwendung von Rechenprozessen in Computerkunst.



Dr. Thomas Dreher
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D-80339 München.
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Anmerkungen

1 Vgl. Sims, Karl: Generative Images, 1993, reaktive Installation, in: s. Kap. IV.3.2 mit Anm.22-25; Draves, Scott: Electric Sheep, 1999, Rechner-Netzwerk, Internet, Screensaver, in: s. Kap. IV.3.3. zurück

2 Seifert: Co-Evolution 2008, S.12: "Agent and patient are defined as relata of the action relation. In an action relation `x acts upon y´ the relatum x is called `the agent´ and y `the patient´, if x acts upon y...As exemplified by Mario Bunge´s definition of terms such as `action´ and `interaction´, the meanings of `action´ and `interaction´ encompass human and non-human actions." (Vgl. Bunge: Science 1998, S.41,310,463f.) zurück

3 Etiketten/Topics: Kuhlen: Hypertext 1991, S.87,89f.; Bolter: Space 2001, S.29.
Knoten/Node: "A node is something through which other things pass, and which is created by their passage." (Slatin: Hypertext 1991, S.162). zurück

4 Engelbart: Intellect 1962, s. Kap. VI.2.1. zurück

5 Dreher: Kunst 2005/2007, Kap. V.2; Nake: Zeichen 2001. zurück

6 Trunk: Netze 2005, bes. S.19ff. zurück

7 Vgl. Lev Manovich über "After Effects" (ab 1993): Manovich: After Effects Part I & II 2006; Manovich: Software 2008, Part 2, Chapter 3, S.110-193. zurück

8 Manovich: Software 2008, Part 2, Chapter 4, S.212: "...the animator sets the initial parameters, runs the model, adjusts the parameters, and repeats this production loop until she is satisfied with the result...the animator maintains significant control."
Info-Aesthetics: Manovich: Info-Aesthetics 2001.
Modularity: Manovich: Language 2001, S.30f.,136-141,289; Manovich: Software 2008, Part 3, Chapter 5, S.246-261. zurück

 

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