IASLonline NetArt: Theorie


Thomas Dreher

Geschichte der Computerkunst


VIII. Résumée
VIII.2 Interface-Modell


in English

 

VIII.2 Interface-Modell

Nach dem in Kapitel VII.2 vorgestellten Interface-Modell für Pervasive Games wird von Spielern ihr Welt-Interface (Interface 1) mit dem Spiel-Interface (Interface 2) bei der Entwicklung von Spielstrategien zum spielorientierten Welt-Interface (Interface 3) vermittelt. Im Folgenden wird eine Variante dieses Modells vorgestellt, die auch bei Schnittstellen von Personal Computern und reaktiven Installationen anwendbar ist.

Der kognitive Zugang zur Welt 1 und die präreflexive Körperkoordination für Bewegungen in der Welt 2 konstituieren `Interface 1´ als Schnittstelle zur Welt. `Interface 2´ umfasst technische Interfaces, an denen Menschen über Eingaben den Output steuern können (Human-Computer-Interface, HCI). `Interface 3´ konstituiert die Vermittlung von Kognition und Körperkoordination (Interface 1) mit dem technischen Interface (Interface 2) zu Fertigkeiten im Umgang mit dem technischen Interface ebenso wie zu einem technisch ausgerichteten Welt-Interface – für den Einsatz von Technologien als Mittel zu spezifischen Arten der Weltbeobachtung, oder um das Welt-Interface auf besondere Arten zu verwenden, die sich aus dem Prothesen vergleichbaren Einsatz von Technologien ergeben.

Sholes, C.L.: Typewriter Keyboard Patent Drawing 1878

Sholes, Christopher Latham: Typewriter Keyboard Patent Drawing. U.S. Patent No. 207,559. 27. August 1878, Fig.3.

Für Schreibmaschinen ist die QWERTY-Tastenanordnung im englischsprachigen Raum und in einigen anderen Sprachen Standard. QWERTY steht für die Reihenfolge der ersten sechs Tasten der oberen Buchstabenreihe (im Deutschen: QWERTZ). Das "QWERTY typewriter keyboard" setzte sich bei Manualen für Rechner durch, nachdem es zum Schreibmaschinenstandard geworden ist. Die in Schreibmaschinekursen erlernten 10-Finger-Fertigkeiten waren zur Bedienung von `Interfaces 2´ der Computer wieder einsetzbar. 3

Augmentation Research Center: First Computer Mouse, ca. 1964

Augmentation Research Center: First Computer Mouse, ca. 1964.

Mit der Maus und ihren Alternativen, die am Augmentation Research Center (ARC im Stanford Research Institute, Menlo Park/Kalifornien) unter der Leitung von Douglas Carl Engelbart in den sechziger Jahren entwickelt wurden, entstand das Problem, welche der technischen Angebote, ein Gerät nur taktil bei gleichzeitiger Sicht auf den Monitor zu lenken, sich als Bestandteil der Elemente bewähren wird, die neben dem Manual eine weitere technische Schnittstelle zu Computern bieten. 4 Zur Einschätzung der Akzeptanz der Maus konnten während der Entwicklung von Prototypen (s. Kap. VI.2.1 mit Anm.6) nur sporadische Tests mit widersprüchlichen Ergebnissen verwendet werden, um die menschlichen Fähigkeiten zur Integration der Körperkoordination in die Bedienung von Geräten evaluieren zu können, die wegen der Blickfixierung auf den Monitor auch ohne Sichtkontakt verwendbar sein sollen. Die Maus erschien gegenüber einer über das Knie gesteuerten Vorrichtung und anderen Möglichkeiten als gleichwertige Alternative. 5

Augmentation Research Center: Knee-operating pointing device_ca. 1965 Augmentation Research Center: Gyro-style pointing device_ca. 1965

Augmentation Research Center: Links: Mit dem Knie bewegbare Maus-Alternative, 1967 oder früher. Rechts: Grafacon, bewegbarer Kreisel als Maus-Alternative, ca. 1965.

Für die Kombination aus Manual, Maus, Keyset (das sich nicht als Teil des Standard-Interface durchgesetzt hat) und Monitor wurden am ARC hypertextuelle Verfahren entwickelt, die den Gebrauch von Text in Schreibsystemen erweiterten. Ein Projektteilnehmer erhält mit seiner Sprachkenntnis (Interface 1) durch die technischen Interfaces (Interface 2) einen Zugang zu hypertextuellen Verfahren, die das Textverständnis durch Verknüpfungstechniken ändern (s. Kap. VI.2.1 mit Anm.8-19). Dieses veränderte Textverständnis konstituiert ein `Interface 3´ mit Weisen des Entwerfens von "semantischen Netzen" (s. Kap. VIII.1 mit Anm.6).

Augmentation Research Center: First Computer Mouse, ca. 1964

Augmentation Research Center: Prototyp des Computer Interface mit Monitor, Manual, Keyset (links) und Maus (rechts), 1967.

Auf der Ebene von `Interface 3´ lassen sich zum Einen die antrainierten Fähigkeiten beschreiben, sich mit Manual, Maus (oder Touchscreen) und einem Browser sich im Web zu bewegen. Zum Anderen sind auf dieser Ebene Herausforderungen beschreibbar, wie sie Browserkunst an Beobachter stellen kann (s. Kap. VI.3.3). Sie zeigt, was Standard-Browser als Web-Interface verdecken und wie sie damit auch Zugriffe verhindern: Aus einem Datenstrom werden bei Standard-Browsern Webseiten, die gedruckten Seiten entsprechen. 6 Der Datenstrom speist sich aus Dateien, die an verschiedenen Standorten in verschiedenen Servern gespeichert sind. Diese Dateien enthalten Film-, Foto-, Audio- und Textformate und werden in einer Browseransicht als Webseite zusammen gesetzt. Bei dem Browser "Netomat" von Maciej Wisniewski (s. Kap. VI.3.3) konnten Anwender mit den 1999 üblichen Betriebssystemen von Personal Computern Textelemente sowie Audio- und Filmdateien simultan über eine Stichworteingabe abrufen. Die auf verschiedenen Dateien gespeicherten Elemente wurden ohne die Quellcode-gesteuerten Funktionen präsentiert, die für die Zusammensetzung im Browser als eine Webseite sorgen. Die Simultaneität verschiedener Informationen zum Stichwort war der Gewinn. Mit dem Cursor liess sich der Verlauf des Datenstroms auf dem Bildschirm beeinflussen.

Der Beobachter kann sich bei Browserkunst nicht mehr auf Reaktionsweisen verlassen, die er im Umgang mit etablierten Webbrowsern eingeübt hat: Eingespielte Abfragen von Webseiten und Links werden in Frage gestellt. Damit erscheint Beobachtern auch der Zusammenhang zwischen Eingabe am Manual, Monitor und mausgesteuerten Funktionen in einem neuen Licht.

Maciej Wisniewski: Netomat 1999

Wisniewski, Maciej: Netomat, 1999, Browser (Foto vom Bildschirm, Oktober 2000).

Ego Shooter (s. Kap. VII.1.3.1) zwingen Spieler, eingeübte Koordinationen zwischen Wahrnehmung der simulierten Spielwelt und Handbewegungen so schnell wie möglich am technischen Interface (Interface 2 mit Joystick, Maus, Manual und Monitor) auszuführen: Die Wahrnehmung und Körperkoordination (Interface 1) wird am technischen Interface (Interface 2) auf die Fähigkeit hin trainiert, Reaktionen auf die Spielweltsimulationen möglichst unverzüglich in Hindernisse beseitigende Spielzüge (Interface 3) umzusetzen. Der Effekt der Immersion resultiert aus der mit Bewegungen am Joystick erfolgenden Lenkung in die simulierte räumliche Tiefe der Spielwelt bei gleichzeitiger Konzentration auf aus der Tiefe herankommende Gegner und dem Abruf der eingespielten Reaktionsweisen. Für die Reaktionsweisen gegen Hindernisse werden vom Spieler Spielweltwahrnehmungen und trainierte Handbewegungen am Joystick in `Interface 3´ zu schnell ablaufenden Spielzügen koordiniert, woraus der Eindruck einer dank erfolgreicher Reaktionen zügig fortsetzbaren Bewegung in und durch die Spielwelt entsteht.

id Software: Doom

id Software (Romero, John/Carmack, John/Hall, Tom): Doom, Cdv Software Entertainment, Pearl Agency, 1993, Computerspiel.

Die Reduktion der Interface-relevanten Körperkoordination auf Hand (Manual, Maus, Joystick) und Auge (Monitor) ist eine Folge der Entwicklung von Standards für technische Interfaces (Interface 2, s. Kap. VII.2.1 mit Anm.1). Dem wirkt die Erweiterung der Anforderungen an die Körperkoordination (Interface 1) zur Steuerung ungewöhnlicher technischer Interfaces entgegen: Reaktive Installationen (s. Kap. V, VII.2.1) und Pervasive Games (s. Kap. VII.2) mobilisieren mehrere Körperteile, wenn nicht den ganzen Körper der Beobachter als sich Bewegenden – als in Bewegung technische Interfaces Bewegenden. Künstler experimentieren mit Möglichkeiten, über Arten, `Interface 1´ in alternative `Interfaces 2´ einzubringen, Vermittlungen in `Interface 3´ aus der Reduktion der Aktionsmöglichkeiten zu lösen. Künstler überschreiten so die Standards für technische Interfaces. Im Experimentieren mit Interface-Alternativen ergeben sich Möglichkeiten, eingespielte Rekursionen zwischen Out- und Input in neue Verknüpfungen aus Rechen-, Denk- und Handlungsprozessen zu überführen.

Time´s Up: sonic Pong

Time´s Up: Sonic Pong, 1999, reaktive Installation.

Mit der nach 2000 wachsenden "Interconnectedness" verschiedener Übertragungs- und Kommunikationssysteme (GPS, Mobilfunk, Festnetz) mit stationären und mobilen Endgeräten 7 werden Teilnehmer von Projekten zu einer Rekonzeptualisierung ihrer Reaktionen auf Anforderungen provoziert, die technische Interfaces und Umwelt teilweise gleichzeitig stellen. Das hierfür von Teilnehmern zu konstituierende `Interface 3´ enthält teilweise nicht einfach zu erfüllende Aufgaben, ihre Orientierungen in einer Umwelt (Interface 1) mit dem Ablesen von Informationen koordinieren zu müssen, die Bildschirme mobiler Endgeräte (Interface 2) anzeigen: Simultane Anforderungen müssen in Spielstrategien in Phasen mit Aufmerksamkeitswechsel geteilt werden (Interface 3): Der Spieler muss phasenweise mal den Blick vom Straßenverkehr ab- und dem Bildschirm zulenken, und umgekehrt (s. Kap. VII.2.2).

 


Dr. Thomas Dreher
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Anmerkungen

1 mit "Denkschemata" und "Handlungplänen": Dreher: Performance 2001, S.22f.,404f.; Dreher: Games 2008, Anm.35. Vgl. Kap. VII.2.2. zurück

2 s. Kap. VII.2.2 mit Anm.18. zurück

3 Bardini: Bootstrapping 2000, S.67-80; Rehr: QWERTY o.J. zurück

4 Bardini: Bootstrapping 2000, S.79-102,107-114. zurück

5 Bardini: Bootstrapping 2000, S.103-107, 112ff. zurück

6 Kahnwald: Netzkunst 2006, S.61-64,75-78. zurück

7 Dreher: Games 2008, Kap. "Interconnectedness" und mobile Endgeräte mit Anm.1. zurück

 

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