IASL Diskussionsforum online
Der Kommunikationsbegriff

Leitung: Nina Ort

Nina Ort
Kommunikation - Proömium zu einem Begriff

Abstract

Systemtheorie unter differenzlogischen Prämissen operiert mit >ersten< Unterscheidungen, z.B. der von Medium / Form, das heißt mit basalen Unterscheidungen, aus denen die weitere Systembildung erst emergiert. Ähnlich gebaut ist die Unterscheidung von Kommunikation und Bewußtsein. Auf der Ebene erster Unterscheidungen ist es jedoch nicht möglich positive Differenzkriterien zu bestimmen. Im folgenden Beitrag werden Probleme der Begriffsbildung am Beispiel von Kommunikation zur Diskussion gestellt. (english outline)

Inhalt

  1. Zielsetzung
  2. Anweisung statt Beschreibung
  3. Die Form
  4. Operationen
  5. Die Form der Form
  6. Konsequenzen für den Kommunikationsbegriff
  7. Vorschlag, frei nach Spencer-Brown
  8. Literatur

1. Zielsetzung

Die Idee, eine Diskussion über den Begriff >Kommunikation< anzuregen, entspringt dem Wunsch nach einer experimentellen Plattform, auf der nicht das wiederholt werden soll, was über den Begriff der Kommunikation als gesichert oder zumindest als konsensuell akzeptiert gelten kann und was in einer inzwischen unübersehbar breiten Forschungsliteratur niedergelegt worden ist. Die Kenntnis insbesondere der systemtheoretischen Konzeption von Kommunikation, von der diese Diskussion ausgehen soll, wird zumindest in ihren Grundzügen vorausgesetzt und soll hier nicht einfach wiederholt werden. Ganz im Gegenteil soll das hier avisierte Diskussionsforum die Möglichkeit bieten, ungesicherte, spekulative, vielleicht sogar >abweichlerische< Ideen, Argumente und Anregungen für eine Begriffsklärung zur Disposition zu stellen.

Der vorliegende Beitrag, der eine solche Diskussionsrunde eröffnen will, konzentriert sich - auf systemtheoretischer Basis - insbesondere auf die Ansätze von Spencer-Brown (und einigen seiner Interpretatoren) und Ansätze der (new) 2nd order Kybernetik. Damit soll kein fester Rahmen abgesteckt sein; im Gegenteil: sicher wäre es sinnvoll und interessant, diese Diskussionsrunde durch Beiträge anzureichern, die auf (durchaus auch philosophische und logische) Theorieoptionen wie zum Beispiel der von Hegel, Wittgenstein, Frege oder Peirce ausgreifen. Gerne können Sie auch auf ein bestimmtes Stichwort reagieren: Ihr Beitrag wird dann direkt mit diesem Stichwort im vorliegenden Text verlinkt.

Auch in der systemtheoretischen Diskussion um den Kommunikationsbegriff wird noch keineswegs von endgültigen Forschungsergebnissen gesprochen, bislang steht erst ein Gerüst, und es taucht beispielsweise vermehrt die Frage nach den "Verschmutzungsformen am Rande >sauberer< Autopoiesis" (vgl. Fuchs 1995, Fuchs 1998) auf. Solche Fragen sollen hier als Indiz dafür genommen werden, daß möglicherweise die Frage nach Kommunikation selbstnoch nicht präzise genug gefaßt worden ist. Und tatsächlich erscheint mir der Kommunikationsbegriff im Kern seiner abstrakten theoretischen Konstituierung noch nicht ausreichend geklärt. Beide Aspekte sollen hier zur Diskussion gestellt werden; um einen ersten Schritt zu unternehmen, werde ich mich im vorliegenden Beitrag auf einige Aspekte der theoretischen Konzeptualisierung des Kommunikationsbegriffs bzw. auf die Bedingungen seiner Begriffsbildung konzentrieren.

Der Versuch einer Begriffsklärung des Ausdrucks Kommunikation erweist sich als ebenso schwierig wie notwendig. So müßte 1) die Handlungsdimension von Kommunikation reformuliert werden, ohne diese einem Subjekt (einem individuellen, externen Handelnden) zuzuschreiben, und damit der operative (prozessuale) Charakter von Kommunikation selbst ins Zentrum gerückt werden. Die Probleme der Autopoiesis von Kommunikation als System, implizieren aber 2) die Frage, wie in (subjektloser) Kommunikation so etwas wie Gedächtnis (oder Erinnerung) möglich sein könnte, ohne das Kommunikation nicht wissen könnte, daß sie kommuniziert. (Und dieses Problem kann, zumindest in der aktuellen systemtheoretischen Begriffsbestimmung, nicht ohne weiteres durch den Verweis auf Bewußtsein gelöst werden.)

Vergleichbare Probleme der Begriffsbildung haben die Philosophie (beispielsweise Hegel und Heidegger) beschäftigt, und sie werden insbesondere in der Nachfolge des Logikers Gotthard Günther sowie in den Grundannahmen der 2nd-order Kybernetik erneut aufgegriffen. Unter den vielen Theorieoptionen, die man zur Diskussion um Begriffsbildung unter differenzlogischem Aspekt heranziehen könnte, wird hier die systemtheoretische als Ausgangspunkt gewählt, da sie wohl die bislang elaborierteste Konzeption der Differenz von Kommunikation und Bewußtsein formuliert hat (siehe hierzu das Diskussionsform von Oliver Jahraus: Kommunikation und Bewußtsein). In der Systemtheorie wird jedoch übersehen, daß einige Bausteine zwar postuliert, aber nicht näher expliziert werden. So leuchtet es beispielsweise durchaus ein, sich die Differenz von Kommunikation und Bewußtsein so vorzustellen, daß beide autopoietische Systeme sind, die, strukturell miteinander gekoppelt und sich komplementär ergänzend, durch oszillatorische Ereignisimpluse ihre je eigene Autopoiesis antreiben. Nur so kann Kommunikation modelliert werden, wenn sie als das einzige System beschrieben werden soll, das kommuniziert und anschließende Kommunikationen ermöglicht. Diese Ereignisimpulse sind oder generieren in beiden Systemtypen dann Sinn. Sinn erfüllt also eine entscheidende Aufgabe in der Autopoiesis. Was jedoch Sinn ist, oder wie Sinn verstanden wird (und von wem) wird indessen nicht näher beschrieben.

Ich fasse solche angedeuteten Bausteine, die zwar als theoriebautechnisch notwendig postuliert, nicht aber (hinreichend) expliziert werden, vorerst unter dem Schlagwort des jeweils "ausgeschlossenen Dritten" zusammen (ob nun im Einzelfall z.B. als Beobachter, als Medium, als der "blinde Fleck" oder eben als Sinn). Das Problem des "ausgeschlossen Dritten" bewirkt dabei häufig eine Art Kurzschluß in der differenzlogischen Ausdifferenzierung von Unterscheidungen, den ich im vorliegenden Beitrag, darstellen will.

Zwei weitere zentrale Behauptungen, die ich hier zur Diskussion stellen möchte: Es ist 1. tatsächlich jene - für den Kommunikationsbegriff - erste Unterscheidung vom Bewußtsein, die operativ (oder strukturell) - notwendig - alle weiteren Unterscheidungen (bzw. Ausdifferenzierungen) konditioniert, und es erweisen sich 2. all diese Differenzierungen oder nachfolgenden Unterscheidungen inhaltlich als vollkommen kontingent. Ein systemtheoretisches Kommunikationsmodell kann insofern streng nach dem Muster des Formkalküls von Spencer-Brown gebaut werden. Der Versuch, Spencer-Browns Kalkül einer ersten Unterscheidung als Modell für eine Begriffsbildung von Kommunikation zu verwenden, mag unangemessen erscheinen. Da unter differenzlogischen Prämissen aber der Begriff der Kommunikation aus einer der basalsten Unterscheidungen, d.h. aus einer ihrer Grundoperationen, hervorgeht (ähnlich universal wie die Unterscheidung zwischen Medium und Form), scheint mir zumindest der Versuch gerechtfertigt, die Operationsweise des Formkalküls in der Systemtheorie konsequent umzusetzen.

Da die Systemtheorie unter differenzlogischen Prämissen inzwischen schon stark ausdifferenziert und entfaltet worden ist, wird es in dem vorliegenden Beitrag notwendig sein, ihre Grundannahmen wieder freizulegen, sie zu reformulieren und schließlich zu "de-sedimentieren".

Das Vorhaben, ein Diskussionsforum über Kommunikation zu eröffnen, schließt - aus systemtheoretischer Perspektive - eine Paradoxie ein: wenn nur Kommunikationen kommunizieren können, wie können dann Diskussionsteilnehmer - Sie und ich - also: Individuen über Kommunikation diskutieren?

2. Anweisung statt Beschreibung

Der Begriff der Kommunikation wird nicht nur wissenschaftssprachlich; sondern auch allgemeinsprachlich äußerst extensiv verwendet und deckt mit unscharf gezogenen Begriffsgrenzen mehr oder weniger alle Bereiche des informellen und interaktiven Operierens ab, wobei stillschweigend vorausgesetzt wird, daß über den Begriff >Kommunikation< Einigkeit herrscht. Anstatt zu versuchen, von seinen empirisch nachweisbaren Verwendungen eine Begriffsbestimmung zu abstrahieren, soll hier in der entgegengesetzten Richtung verfahren werden: Insbesondere sollen die Möglichkeitsbedingungen des Begriffs von Kommunikation geklärt werden, um einer anschließenden >positiven< Begriffsbildung erst den Boden zu bereiten.

Sowohl die Möglichkeitsbedingungen von Kommunikation als auch der Begriff selbst werden eher als Anweisung oder Vorschrift bestimmt, denn als eine Interpretation oder Beschreibung. Gefragt ist demnach nach den Möglichkeiten einer Begriffsbildung, die vorurteilsfrei vorgeht, ohne irgendwelche Präjudizierungen des zu bestimmenden Begriffs: Die Möglichkeit, sich ein Bild zu machen, hängt ab von der Möglichkeit zu unterscheiden (vgl. Joachim Castella: Zur Sprach- und Schriftkonzeption bei Günther ).

Peirce schlägt vor:

Überlege, welche Wirkungen, die denkbarerweise [conceivably] praktische Bezüge haben könnten, wir dem Gegenstand unseres Begriffs [conception] in der Vorstellung zuschreiben [conceive... to have]. Dann ist unser Begriff [conception] dieser Wirkungen, das Ganze unseres Begriffs [conception] des Gegenstandes. (Gerhard Schönrich (1990): Zeichenhandeln. S.98)

Wie Schönrich erläutert, ist die Semiose (die in diesem Fall eine Begriffsbestimmung von Kommunikation leisten soll) somit die Realisierung des Prozesses der Zeicheninterpretation. Semiose findet nach Peirce bereits im Prozeß der Zeichenkonstitution selbst statt und nicht erst - als im weitesten Sinne - interpretatorischer Prozeß, der bereits vorhandene Zeichen (-zusammenhänge) klärt oder präzisiert.

Der für den vorliegenden Beitrag interessante Aspekt der Peirceschen Semiotik liegt darin, dem Zeichen als Zeichenprozeß selbst eine Handlungsdimension zuzuweisen: in der systemtheoretischen Konzeption wird Sprache als Medium beschrieben, da sie nicht über Operation verfüge. Gerade diese Möglichkeit bietet demgegenüber die Peircesche Semiotik an. Dabei müßte versucht werden, das semiotische Modell von Peirce auf die abstraktere Ebene differenzlogischer Systemtheorie zu übertragen, daß heißt, es müßte versucht werden, die Strukturhomologien beider Ansätze zu benutzen, um Peircesche Semiotik auf das ebenfalls triadische Modell der systemtheoretischen Differenzlogik umzulegen. Zu überlegen wäre konkret (aber ich deute hier eine solche Möglichkeit nur an), ob die Peircesche Begriffstrias Zeichenmittelbezug, Objektbezug, Interpretantenbezug übersetzt werden könnte in die systemtheoretische Trias Information, Mitteilung, Verstehen.

Ich erwähne diesen schwierigen Peirceschen Ansatz - auch wenn ich ihn nicht weiter vertiefe -, da ich erreichen möchte, daß Kommunikation sich durch Kommunikation bestimmt. Zumindest, wenn man systemtheoretisch vorgehen will, kann man nicht annehmen, ein psychisches System, ein Individuum (ich zum Beispiel) könne bestimmen, was Kommunikation sei. Auf diese Weise soll die Gefahr vermieden werden, Anwendungskontexte, empirisch beobachtbare Einzelfälle von Kommunikation als Konstituenten des Kommunikationsbegriffs in die theoretische Begriffsbildung wieder aufzunehmen (ähnlich argumentiert Oliver Jahraus unter Verwendung des Ausdrucks der empirischen Abstraktion). Gefordert ist also ein selbstgenerierender und selbstprozessierender Kommunikationsbegriff.

Schönrich schreibt:

Wer nach Peirce über die Lehrbuchdefinition hinaus wissen will, was etwa Lithium ist, wird diese Definition als Anweisung nehmen, >die uns sagt, was das Wort Lithium bezeichnet, indem sie vorschreibt, was wir zu tun haben, um in unserer Wahrnehmung eine Begegnung mit dem Objekt dieses Wortes herbeizuführen.< (Schönrich (1990). S.221)

Diese Problemstellung soll auf die Aufgabe einer Begriffsbestimmung von Kommunikation übertragen werden. Dabei bleibt insbesondere zu fragen, wer oder was die Rolle von >wir< in der systemtheoretischen Theoriebildung ausfüllen könnte.

3. Die Form

Wenn Systemtheorie Kommunikation unterscheidet, geschieht dies qua konditionierter Koproduktion von etwas zur Kommunikation Differentem (z.B. einer Umwelt von Kommunikation). Es ist (systemtheoretisch) unmöglich, eine Differenz zu konstruieren, ohne dadurch das sich von dieser Unterscheidung Unterscheidende mit zu konstruieren. Kommunikation erweist sich dabei als ein ebenso grundlegender Begriff wie z.B. >Form< (im Begriffspaar Medium und Form), da neben einer solchen Unterscheidung von Kommunikation, in der dann nach Luhmann Mitteilung, Information und Verstehen untergebracht werden, kaum etwas vorstellbar bleibt, was nicht als Kommunikation beobachtbar wäre.

Systemtheorie wurde nicht mit derselben Intention und auf dieselbe Weise gebaut wie ein (prä-)logisches System, zum Beispiel Spencer-Browns "Laws of Form" - sie ging von einer Vielfalt zu beschreibender sozialer Phänomene aus, das heißt sie ging durchaus präjudizierend vor, was den von ihr intendierten Gegenstandsbereich anging. Erst in ihrem jetzt erreichten Zustand der differenzlogischen Selbstkonstitution und im Vergleich mit dem Kalkül von Spencer-Brown werden indessen Strukturhomologien erkennbar, die Systemtheorie dazu zwingen, ihre eigene Begriffsbildung zu überdenken. Hier stellt sich die Notwendigkeit und zugleich Kontingenz des von der Systemtheorie gewählten Begriffs >Bewußtsein< als dem komplementären Begriff zu >Kommunikation< heraus (siehe hierzu Oliver Jahraus: Kommunikation und Bewußtsein, Kap.8: Die >Ur-Differenz< von Bewußtsein und Kommunikation als Fundament der Systemtheorie).

Zwar stellt in der Systemtheorie Bewußtsein den für Kommunikation konstitutiven Komplementärbegriff dar - keine Kommunikation ohne Bewußtsein und kein Bewußtsein ohne Kommunikation! Systemtheorie präferiert aber Kommunikation als Systemreferenz, denn: "Würde man für ein psychisches System optieren, stünde man vor der Wahl: welches von den etwas fünf Milliarden? Und die Entscheidung könnte dann praktisch nur lauten: ich selber." (Luhmann 1992, S.63) Diese Unterscheidung, Kommunikation (Sozialsystem) und Bewußtsein (psychisches System) hat sich in der soziologischen Systemtheorie als viabel erwiesen. Gleichzeitig läßt sich das Begriffspaar ebenso asymmetrisch modellieren, wie es die gängigen Interpretationen der (Spencer-Brownschen) 2-Seiten-Form verlangen: Kommunikation ist die "markierte" Seite der Unterscheidung, an der kommunikativ wieder angeschlossen werden kann. Um genau zu sein: eine der beiden Seiten der Form (der Unterscheidung) wird präferiert oder ausgezeichnet.

(Daß zuweilen - in einer Gleichsetzung des Spencer-Brownschen Formbegriffs mit der Binär-Unterscheidung von Medium und Form - nur die markierte Seite der Form als Form interpretiert wird (und die andere Seite dann als Umwelt mitgeführt oder gar nicht näher spezifiziert wird), beruht auf einer Ungenauigkeit in der Interpretation des Spencer-Brownschen Form-Begriffs.)

Auf der abstrakten Ebene der Theoriekonstitution unter differenzlogischen Prämissen (die als solche auch nicht den Anspruch erhebt, unmittelbar auf soziologisch-empirische Phänomene anwendbar zu sein), zeigen sich jedoch theoriebautechnische bzw. systemimmanente Eigentümlichkeiten, wenn man das Begriffspaar Kommunikation und Bewußtsein genauer beleuchtet.

Im Grunde genügt ein Hinweis darauf, wie schwer es der Systemtheorie fällt, die Unterscheidung zwischen Kommunikation und Bewußtsein zu beschreiben oder inhaltlich (d.h. positiv) zu begründen. Beide Systemtypen operieren in denselben Medien (z.B. Sinn oder Sprache), beide Systemtypen vollziehen ihre Autopoiesis durch die Oszillation zwischen einem operativen und einem reflexiven (oder deskriptiven) Prozeßtyp sowie durch medial angeregte Ereignisimpluse. Marius und Jahraus, die beide Begriffe wohl am konsequentesten untersucht haben, kommen zu dem lapidaren Ergebnis: "Deswegen kann ein Ereignis hier (im Bewußtsein) nicht zugleich dasselbe Ereignis dort (in der Kommunikation) sein, weil sonst Bewußtsein Kommunikation wäre." (55) (Eine andere Konzeptualisierung einer Asymmetrie schlägt Oliver Jahraus indessen in Kap.7: Symmetrie und Asymmetrie in der strukturellen Kopplung vor.) Hier wird das Verhältnis von Kommunikation und Bewußtsein denn auch weitestgehend symmetrisiert; eine Asymmetrie besteht bestenfalls noch in der größeren Aufmerksamkeit, die der Kommunikationsseite (als der anschlußfähigen Seite) geschenkt wird. Man darf dies der Systemtheorie indessen nicht als Schwäche vorwerfen, das Problem liegt wohl notwendigerweise in derart konzeptualisierten Komplementärbegriffen.

Das hier Beschriebene, läßt sich an - ich denke allen - vergleichbar modellierten Komplementärbegriffen der Systemtheorie feststellen, zum Beispiel am Begriffspaar >Information und Mitteilung<: man kann die Überlegung, daß jede Information als Mitteilung beobachtet werden kann (und umgekehrt) so weit treiben, daß man endlich feststellt, daß es zwischen beiden Begriffen keinen Unterschied gibt, es sei denn es liegt irgendeine Motivation vor, zwischen beiden einen (relevanten) Unterschied zu sehen. Es obliegt einer jeweils zu treffenden Entscheidung, etwas als Information oder als Mitteilung zu beobachten. (Die Avantgarden haben mit dieser Entscheidungsfreiheit gespielt; und auch wenn man dazu neigt, diese Freiheiten aus >Alltagskommunikation< in Randbereiche von >Sonderkommunikationen< abzuweisen, so muß die prinzipielle Möglichkeit, diese Freiheit zu nutzen, konzediert werden.)

Gleichzeitig sollte dies dafür sensibilisieren, was mit dem in solchen Komplementärbegriffen jeweils mitgeführten dritten Begriff, in diesem Falle dem des Verstehens geschieht - er erleidet ein ähnliches Schicksal wie der des Beobachters im Begriffspaar von Kommunikation und Bewußtsein oder in dem von Operation und Beobachtung - er wird ausgeblendet. (Bemerkenswert ist dabei: komplementäre Begriffspaare können nur in einer triadischen Konstellation konzipiert werden, wobei das dritte Element, die Einheit der Differenz oder die Transferunterscheidung, zwar konstitutiv notwendig ist, sich jedoch der Einbindung fast gänzlich entzieht.)

Behauptet wird hier nun zweierlei: zum einen ist die notwendige Unterscheidung, die es erst erlaubt, auf dieser abstrakten Ebene einen Begriff zu bilden, eine rein operative Unterscheidung (wird das von Kommunikation Unterschiedene, nämlich Bewußtsein, >inhaltlich<mit Kommunikation verglichen, so verschwindet die Differenz zwischen beiden). Zu formulieren wäre also ein Differenzkriterium, das nicht positiv, sondern radikal negativ bestimmt wird. Und dies entspricht der Forderung, die Ross Ashby für die 2nd order Kybernetik formuliert hat: diese untersuche alle Phänomene in Unabhängigkeit ihres Materials, so sie regelgeleitet und reproduzierbar seien. Zum anderen muß auf diesem Abstraktionsniveau, die Vorstellung vom Operator der Unterscheidung, jenem bislang ausgeschlossenen Dritten, dem Beobachter zum Beispiel, revidiert und in den zu bildenden Begriff mit aufgenommen werden.

4. Operationen

An dieser Stelle soll nun das Differenztheorem selbst rekapituliert werden, das bisher von der Systemtheorie gewissermaßen aus dem Ärmel geschüttelt wird: am Anfang steht die Differenz. Faßt man das bisher Erläuterte zusammen, so stellt man nämlich fest, daß die Einführung der (systemtheoretischen) Differenz eine komplexe Angelegenheit ist.

Zunächst besagt das Differenztheorem, daß eine Entscheidung dafür notwendig ist, etwas, zum Beispiel Kommunikation, zu unterscheiden, mithin eine Motivation, eine solche Unterscheidung zu treffen. (Man denke hierbei an Batesons Diktum vom Unterschied, der einen Unterschied macht.) Präziser wird dies bei Varga von Kibéd und Matzka formuliert:

Wäre vor der Bildung eines Begriffs der durch ihn zu charakterisierende Unterschied schon vollständig gegeben, wäre seine Einführung überflüssig. Wäre allerdings kein Unterschied gegeben, wäre seine Einführung unmöglich. (M. Varga von Kibéd, R. Matzka (1993): Motive und Grundgedanken der "Gesetze der Form", S. 63)

Genau diese Ausgangslage beschreibt ebenfalls von Foerster, wenn er von Begriffen spricht, die sich selbst brauchen, um zu entstehen:

Wird die Frage gestellt: >Was ist Sprache?< so könnte man antworten, daß der Fragende die Antwort schon wissen müßte, sonst könnte er die Frage nicht stellen. Ist also diese Frage ihre eigene Antwort, oder braucht man eine >Meta-Sprache<, um diese Frage zu beantworten? (H. von Foerster (1985): Entdecken oder Erfinden? S. 43)
Vielleicht könnte man dies den aporetischen Zweifel nennen: sobald eine Frage auftaucht, wird ihr Gegenstand (oder die Differenz, als in Frage stehende Unterscheidung, auf die sie sich bezieht) zugleich erzeugt und angezweifelt.

Die Ausgangslage der hier vorgeschlagenen Begriffsbestimmung von Kommunikation ist also äußerst fragil. (Und genau hierauf zielen, nebenbei bemerkt, Spencer-Browns Überlegungen ab, nämlich in "nichts" eine Unterscheidung treffen zu wollen.) Nimmt man aber die systemtheoretischen Basisannahmen ernst, konkret diejenige, nach der nur Kommunikationen kommunizieren können, scheint mir kein anderer Weg zur Verfügung zu stehen, als der hier eingeschlagene.

Systemtheorie braucht Kommunikation und es lag für sie eine Motivation vor, den Begriff der Kommunikation zu etablieren. Was war das für eine Motivation oder: war sich die Systemtheorie über ihre Motivation im klaren? Zwischen der Grundannahme: "Wir gehen davon aus, daß es Systeme gibt" (die ähnlich eingeführt wird wie die Annahme von Kommunikation) liegt ein weite Wegstrecke, in der Systemtheorie sich ausdifferenzieren und emergieren konnte, bis sie es nun, am differenzlogischen Wendepunkt der eigenen Theoriebildung, wieder mit ihren ersten Unterscheidungen zu tun bekommt: Von dieser neuen Warte erst kann die Notwendigkeit der Einführung des Kommunikationsbegriffs rekonstruiert werden. Diese Form der Rekonstruktion der eigenen Ausgangspunkte beschreibt Spencer-Brown, der sie allerdings auf die Konstruktion des Universums anwendet: "[...] our understanding of such a universe comes not from discovering its present appearance, but in remembering what we originally did to bring it about." (G. Spencer-Brown (1979): Laws of Form. S. 104)

Im vorliegenden Zusammenhang ist es insofern weniger wichtig, zu untersuchen, was für eine Motivation vorlag (etwa: der Wunsch soziale Systeme zu beobachten), sondern zu bemerken, daß sie vorlag, und Systemtheorie somit aus einer Verschiedenheit eine Unterscheidung konstruierte. Auf dieser abstrakten Konstruktionsebene wird deutlich, daß die Entscheidung, Kommunikation als Kommunikation von Bewußtsein zu unterscheiden, strukturell bzw. formal genauso gebaut ist, wie die anderen basalen Unterscheidungen der differenztheoretischen Systemtheorie: Identität / Differenz, System / Umwelt, Medium / Form, Innenseite / Außenseite einer 2-Seiten-Form etc. Spencer-Brown sagt:

Was ein Ding ist, und was es nicht ist, sind, in der Form, identisch gleich. Das heißt, die identische Form oder Definition oder Unterscheidung agiert als die Grenze oder Beschreibung sowohl des Dinges als auch dessen, was es nicht ist. (Laws of Form (1997) S. IX)

Wo jedoch Begriffspaare wie Medium und Form so abstrakt sind, daß ein rein formaler Umgang mit ihnen noch einigermaßen leicht fällt, sind die Begriffe von Kommunikation und Bewußtsein durch die gesamte abendländische Denktradition mit positiven Bestimmungen besetzt worden, so daß es nun schwierig ist, sie rein formal oder negativ zu konzipieren.

Die Systemtheorie fragt nach der anschlußfähigen Seite einer 2-Seiten-Form, die sie als erste Unterscheidung oder als ursprüngliche Differenz voraussetzt, bzw. dezisionistisch postuliert. Die Kenogrammatik fragt hingegen nach der Form dieser Form (zum Begriff Kenogrammatik vgl. den Eintrag im Glossar der pcl-Gruppe ). Sie setzt damit die >2-Seiten-Form< insgesamt different und definiert sie negativ - dies ist ihre Interpretation der hegelianischen Negation der Negation.

Dies bedeutet aber auch: vor der ersten Unterscheidung, in einem prälogischen Bereich, muß bereits eine Differenz angesetzt werden, eine innere Doppelung des Begriffs der Entscheidung, und zwar in einen operativen und einen reflexiven Aspekt oder in Prozessor und Prozeß. Mit dem von der Systemtheorie gewählten dezisionistischen Startpunkt wird die Entscheidung zur Unterscheidung als vorgelagerte Differenz verdeckt.

5. Die Form der Form

Die Anhänger der Kenogrammatik berufen sich auf Hegels Umkehrung des Verhältnisses zwischen Denken und Selbst: Nicht mehr das Selbst sei der Grund des Denkens, sondern das Denken sei der Grund des Selbst. Dieser Gedanke führt in der Konsequenz zu einem Denken des Denkens und damit zu dem Versuch, das Selbst nicht mehr egologisch begründen, sondern seinen Grund entdecken zu wollen, die Möglichkeitsbedingungen seines So- und Daseins.

Rudolf Kaehr greift die von Gotthard Günther (vgl. auch Günther Electronic Archive) etwa seit 1967 entwickelte Kenogrammatik auf, d.h. die, logischen Operationen zugrunde liegenden Leerformen. Kenogrammatik will die Bedingungen von Semiose ergründen, das heißt einen Formalismus konstruieren, mit dem Differenzen zur Verfügung stehen, die sich nicht einer Unterscheidung verdanken, sondern diese erst erzeugen (vgl. hierzu Joachim Castella: Der Gang an der Grenze. Einleitung in das Denken Gotthard Günthers).

Dies gelingt dadurch, daß das jeweils durch den Akt einer Unterscheidung Verdeckte mit in den Kalkül einbezogen wird. (Varga von Kibéd spricht in ähnlichem Zusammenhang von Kontextthematisierungen.) M.E wird dies durch Spencer-Browns Ausdruck des "unwritten cross" nahegelegt: die Quere (cross), mit der Spencer-Brown die Unterscheidung bezeichnet, kann niemals als einfache Quere verstanden werden: stets wird sie von einem gleichursprünglichen "unwritten cross" begleitet, was durch die Beobachtung der Unterscheidung allerdings verdeckt wird.

Die grundsätzliche Frage, die von der Kenogrammatik gestellt wird, ist also die Frage nach der Form der Form. Auf die hier zu lösende Frage nach Kommunikation bezogen bedeutet dies: Wie kann man die Möglichkeitsbedingung von Kommunikation in einen operativen Zusammenhang mit Kommunikation bringen? Anders ausgedrückt: Wie kann ein Kommunikationsbegriff konstruiert werden, wenn die Tatsache, daß er konstruiert wird, in die Konstruktion mit aufgenommen werden soll?

Autopoiesis wird in der Kenogrammatik verstanden als ein Kalkül, das als Programm seiner Realisierung lesbar werden soll (und zwar: im Vollzug, d.h. als Realisierung von Autopoiesis). Kaehr wendet daher gegen die sukzessive Formalisierung der Systemtheorie, die von einer ersten Unterscheidung ausgeht und diese Unterscheidung in der Folge ausdifferenziert, ein: "Was sich jedoch grundsätzlich einer solchen Formalisierung entzieht, ist das simultane Nebeneinander von verschiedenen basalen Unterscheidungen." (Rudolf Kaehr (1993): Disseminatorik. S. 154) Eine basale Unterscheidung wäre die zwischen dem Unterscheidenden und dem Unterschiedenen. Erst durch den Vollzug dieser Unterscheidung erzeugt sich der Operator der Unterscheidung. Auf diese Weise erklärt Kaehr die kenogrammatische Interpretation der Umkehrung des Verhältnisses von Denken und Selbst. Auf der prälogischen Ebene der Unterscheidung von Unterscheidendem und Unterschiedenem kann kein >Subjekt< als Unterscheider angenommen werden, diese Unterscheidung ist grundlos. Kaehr schlägt im Sinne einer Kalkültheorie vor, Grund und Begründetes (die Unterscheidung) als gleichursprünglich zu konzipieren.

Zur Begriffsbestimmung von >Kommunikation< wäre es dann erforderlich, eine "Dekonstruktion des Grundes" (Kaehr) vorzunehmen. Laß da Kommunikation sein (als Grund)! Nun geht es darum zu zeigen, daß Kommunikation zugleich Grund und Begründetes ist und: "Was Grund und Begründetes ist, wird geregelt durch den Standort der Begründung." (Kaehr (1993) S. 170) Diese Figur soll auf das Begriffspaar von Kommunikation und Bewußtsein übertragen werden. Hierbei stellt sich nur ein terminologisches Problem, nämlich zu vermeiden, beide Begriffe inhaltlich (ontologisch) zu interpretieren.

Zunächst fordert die Kenogrammatik damit den Ausstieg aus dem Systemzwang einer Alternativlogik (Castella), der die Systemtheorie in ihrer gegenwärtigen Konstitution noch unterliegt. So interpretiert Gotthard Günther Hegels Negation der Negation rein formal, als formal konsistenten Operator, d.h. als eine Verneinung, die sich auf das Negationsverhältnis insgesamt bezieht (Castella). In die Begriffe der Differenzlogik übersetzt bedeutet dies: Die Unterscheidung, um die es hier geht, ist nicht mehr die Unterscheidung zwischen zwei, in der Folge inhaltlich-positiv determinierbaren Seiten (Kommunikation und Bewußtsein), sondern ist Unterscheidung von Unterscheidung. Sie unterscheidet keine Identitäten und bezeichnet keine Inhalte, sondern nur Differenzen. (Möglicherweise berührt Kenogrammatik hiermit das, was Derrida die Differenz der Differenz nennt.) Dies stellt eine konsequente Umstellung von Was-Fragen auf Wie-Fragen dar, wie sie auch von Luhmann gefordert wird. Auf diese Weise vermeidet Kenogrammatik das, was ich oben den systemtheoretischen Kurzschluß genannt habe.

Geht man so vor, so erkennt man, daß die Kenogrammatik unabhängig vom Ort ihrer Realisierung ist. Insofern spricht Kaehr von der "De-Sedimentierung" des Grundes. Erst ein solcher Grund bildet in der Systemtheorie den "Boden" oder den Ausgangspunkt für ihre dichotome und hierarchische Strukturbildung.

Weiter oben habe ich vorgeschlagen, die Entscheidung, eine Unterscheidung zu treffen, mit in den Unterscheidungskalkül einzubeziehen. Diese Entscheidung entspricht der Verdoppelung des Unterscheidungsbegriffs in einem prälogischen "Raum". Gotthard Günther prägte für diesen prälogischen "Raum" (der eben eigentlich kein Raum ist) die Bezeichnung der "proemial relationships", der "Proemialrelationen". Damit wird - aber diesen Punkt möchte ich ebenfalls dezidiert zur Diskussion stellen - kein weiterer infiniter Regreß gestartet, eben weil die Entscheidung in einem prälogischen Status vollzogen wird, oder: eben weil sie ortsunabhängig gilt, das heißt, immer dort, wo operiert wird. Auf der Ebene, auf der von einer basalen Unterscheidung gesprochen wird (Identität und Differenz, Medium und Form - und: Kommunikation und Bewußtsein) bleibt diese Verdoppelung, diese bereits vollzogene Unterscheidung, die chiastische Figur, die der ersten Unterscheidung zugrunde liegt, verdeckt. Oder, um den von Kaehr vorgeschlagenen Ausdruck zu verwenden: der Grund der ersten Unterscheidung bleibt verdeckt.

Nebenbei bemerkt: genau hierin liegt der Vorwurf der Kenogrammatik an Spencer-Browns Formkalkül, es verbleibe selbst noch im dichotomischen Denken. M.E. wird Spencer-Brown damit aber vielleicht Unrecht getan: denn in der Aufforderung "draw a distinction!" steckt ja implizit eine Aufforderung zur Entscheidung, eine Unterscheidung zu treffen, womit der prälogische Bereich (vor der Unterscheidung) mit aufgenommen wäre (mit der immanenten Doppelung des operativen und reflexiven Aspekts der Entscheidung).

Die De-Sedimentierung des Grundes kann nun in zweierlei Hinsicht interpretiert werden. Die erste Interpretation betrifft das Problem des Beobachters oder Prozessors von Unterscheidungen, der ja in das Differenzkalkül einbezogen werden soll. Dieses Problem ist aus der Literatur der 2nd order Kybernetik inzwischen hinreichend bekannt und betrifft die Einsicht, daß es keine objektive Beobachtung gibt, in dem Sinne, daß Beobachter und Beobachtetes sich gegenseitig determinieren und kontrollieren (bzw. daß es letztlich unentscheidbar sei, wer wen kontrolliert). Die Kenogrammatik fordert ganz radikal die Aufgabe einer hierarchischen Anordnung zwischen Objekt der Beobachtung und interner oder externer Beobachtung (vgl. Kaehr (1993 S. 167). Kaehr schreibt:

Die Produktion der Beschreibung und das Wissen um die Einbezogenheit des Wissenden in das Wissen lassen sich nicht als Einheit verstehen und lassen sich daher nicht durch einen Akt der Unterscheidung, das Vollziehen einer Distinktion allein charakterisieren. Auch nicht durch Iterationen und Rekursionen von Unterscheidungen, sondern nur durch eine Simultaneität, ein zeitneutrales Zugleich von differenten und differierenden Differenzen. Die Gleichursprünglichkeit von System und Umgebung, von Unterscheidendem und Unterschiedenem, allein ist zu schwach, da sie wegen der Notwendigkeit der Benennung, der Indikation beziehungsweise der Designation, wieder eine Asymmetrie einführt und das Wechselspiel zwischen den Gleichursprünglichkeiten stoppt. Es ist also nicht nur eine Vielheit von Gleichursprünglichkeiten, sondern auch ein proemieller Mechanismus ihres Zusammenspiels vonnöten." (Ebd.: S. 178)

Die chiastische Figur, die sich durch die Gleichursprünglichkeit der Beobachtungsfunktionen ergibt - eine Verdoppelung Beobachter / (als Beobachter) Beobachtetes auf beiden Seiten der Unterscheidung -, bedeutet die Loslösung von der Vorstellung einer Metaebene und indiziert damit insgesamt die Aufgabe einer hierarchischen Ordnung. Die De-Sedimentierung des Grundes und die Gleichursprünglichkeit beider (verdoppelter) Seiten der Unterscheidung bilden eine heterarchische Struktur. Die Aufgabe einer Metaebene oder einer hierarchischen Struktur verhindert damit auch die Vorstellung eines in irgendeiner Weise privilegierten Beobachters oder einer privilegierten Position des Beobachters. Beobachtungsinstanzen können nur durch entsprechende Funktionalisierung bestimmt werden. Solche Funktionalisierungen haben jedoch, wie Kaehr bemerkt, den Status von Simulationen (vgl. ebd.: S.168 f.). Glanville meint in ähnlichem Sinne: "In a certain respect, we always think as if."

Die zweite Interpretation bezieht sich auf die Begründungstheorie als solche. Systemtheorie wählt die Dezision als Begründungsinstanz (Wir gehen davon aus, daß es Systeme gibt!). Dadurch hat sie es mit Paradoxien zu tun, die sie allerdings durch den infiniten Regreß - im dekonstruktivistischen Sinne - aufschieben kann (und zumindest Luhmann interessiert sich ausdrücklich für das, was sich zwischen dezisionistischem Startpunkt und aufgeschobenem >Fluchtpunkt< entfalten läßt). Den Grund des dezisionistischen Startpunktes bildet somit ein blinder Fleck. Kaehr schreibt:

Der blinde Fleck des Anfangs eines Systems der Unterscheidungen, die Dezision, das heißt die blinde Entscheidung, den Anfang eines Systems so und nicht anders zu setzen, die Entscheidung für eine Unterscheidung, ist in der Graphematik, die den Spielraum für die Notation der Simultaneität von kognitiven und volitiven Entscheidungen und Unterscheidungen einräumt, immer schon in eine Vor/Nachträglichkeit verwickelt. (Kaehr (1993) S. 184) (Zum Begriff der Graphematik vgl. Kaehr: Skizze einer graphematischen Systemtheorie.

Aus der Perspektive der De-Sedimentierung des Grundes bedeutet das für die Begründungsproblematik, daß der blinde Fleck als eine Verdeckung interpretierbar wird. Ein dezisionistischer Startpunkt, so wie ihn die Systemtheorie einsetzt, konstruiert stets eine erste Unterscheidung. Verdeckt werden bei dieser ersten Unterscheidung deren "proemial relationships", ihre prälogischen Möglichkeitsbedingungen.

6. Konsequenzen für den Kommunikationsbegriff

Interpretiert man die Begriffe Kommunikation und Bewußtsein als Form einer ersten Unterscheidung, so müssen, bei einer De-Sedimentierung des Grundes dieser Unterscheidung folgende Konsequenzen in Betracht gezogen werden. Kommunikation erzeugt Kommunikation. M.E. ist es nicht notwendig, von diesem systemtheoretischen Standpunkt abzuweichen. Aufgegeben werden müßte jedoch die Vorstellung, Kommunikation sei Bewußtsein (als der anderen Seite dieser Unterscheidung) gegenüber in irgendeiner Weise privilegiert. Und dies in einem sehr radikalen Sinne: nämlich daß auf der Ebene der Formbildung dieser Unterscheidung, keine positiven Kriterien für eine derartige Asymmetrisierung vorliegen. Die (ja auch von der Systemtheorie hier und dort bestätigte) Annahme, daß es sich bei basalen Unterscheidungen um rein operative oder formale Unterscheidungen handelt, kann durch die Vorstellung der De-Sedimentierung des Grundes erklärt werden. Es geht bei der Unterscheidung zwischen Kommunikation und Bewußtsein um die Differenz dieser Differenz, es zeigt sich eine chiastische, rein negative Differenzierungsfigur.

Weiter oben nannte ich die derzeitigen systemtheoretischen Begriffsbestimmungen von Kommunikation und Bewußtsein einen Kurzschluß. Damit meine ich die Versuche, das Differente dieser Differenz positiv bestimmen zu wollen (z.B. Kommunikation operiere digital, Bewußtsein operiere hingegen analog). Systemtheorie in ihrer gegenwärtigen Konstitution produziert aus Differenzen (ohne Umschweife) Identitäten. Eine Identität ist jedoch nichts anderes als der Verzicht, eine Unterscheidung zu treffen. Ich behaupte, daß es auf der Ebene der Formbildung dieser Differenz keinen positiven Unterschied gibt. Kommunikation und Bewußtsein unterscheiden sich gegenseitig - eine privilegierte Möglichkeit, beide voneinander zu differenzieren, gibt es nicht. Die Unterscheidung unterscheidet sich in Unterscheidendes und Unterschiedenes. Insofern basieren alle Unterscheidungen auf Handlungsvollzügen, wobei die Handlungsdimension in den (autologischen) Prozeß der Begriffsbildung eingebettet werden muß (vgl. Kaehr (1993) S. 186). Positiv kann dieses Verhältnis nicht dargestellt werden. Tritt man jedoch >de facto< in den Prozeß der Semiose, der Differenzierung oder der Begriffsbildung ein, entstehen gleichzeitig blinde Flecken und die Möglichkeit positiver Beobachtungen. Blinde Flecken entstehen jeweils als Verdeckung der Beobachtung. Die Annahme eines (einzigen) blinden Flecks ist nur die Konsequenz aus der Privilegierung eines Beobachtungsstandpunktes.

Ich halte aus diesem Grund die Entscheidung, die eine Seite der Form >Kommunikation<, die andere Seite >Bewußtsein< zu nennen, für kontingent, für eine kontingente Etikettierung. Sie ist Konsequenz aus dem Denken einer zweiwertigen systemtheoretischen Differenzlogik. Castella schreibt:

Hier [in der aristotelischen Logik] zulässige Transformationen beschränken sich einzig auf den seit der Unterscheidung von Objekt- und Metasprache geläufigen Wechsel von Form und Inhalt, der an der grundsätzlichen Polarität jedoch nichts ändert; was Form ist, ist Form, immer und ausschließlich; wird sie zum Inhalt (der Metasprache), ist sie dies und nicht anderes, tertium non datur. (Jochaim Castella: Der Gang an der Grenze.)

Mit der De-Sedimentierung des Grundes fällt die Möglichkeit >objektiver< Zuschreibungen der einen oder der anderen Seite einer Unterscheidung fort. Was in der Kenogrammatik als Negation der Negation bezeichnet wird, beschreibt Spencer-Brown radikal generativ: Er schreibt über die "Laws of Form", sie würden zeigen, "[...] daß wenn eine Unterscheidung >in< nichts getroffen werden könnte, dann das Ganze der konditionierten Koproduktion, deren Operation unentrinnbar ist und vollständig sichtbar, unvermeidlich stattfinden würde [...]." (Laws of Form (1997) S. X)

In Erinnerung an Gertrude Steins Rose könnte man zu dem Begriff Kommunikation sagen: Kommunikation ist Kommunikation ist Kommunikation. Dies aber nicht als Tautologie verstanden, sondern im Sinne einer nicht-stationären Logik, wie die, die von Foerster vorschlägt, oder, kenogrammatisch, als Vielheit von Gleichursprünglichkeiten (von Unterscheidungen zwischen Unterscheidendem und Unterschiedenem).

Geht man von einer heterarchischen Architektur der Systemtheorie aus, so wäre es möglich die einzelnen System/Umwelt-Relationen, die Systemtheorie differenziert, polykontextural auszuweisen, das heißt, man wäre nicht gezwungen, eine hierarchische Architektur der Ausdifferenzierung bereits auf dieser Ebene anzusetzen - das könnte einige Probleme lösen. Dadurch könnte auch gerechtfertigt werden, Kommunikation und Bewußtsein als einen solchen Ausgangsort in einer heterarchischen Kenographik zu beschreiben, ohne angeben zu müssen, ob und wenn auf welcher (hierarchischen) Differenzierungsebene von Kommunikation erst gesprochen werden kann.

Die systemtheoretische Henne- oder-Ei-Frage, gilt nicht nur dort, wo ganz abstrakt nach Identität und Differenz gefragt wird, sondern auch dort, wo eine hierarchische Struktur einzelner Binär-Unterscheidungen vorgenommen wird: die hierarchische, dichotome Struktur der Systemtheorie verlangt eine sukzessive Abfolge von Binär-Differenzen wie Medium / Form und Kommunikation / Bewußtsein. Heterarchische Systeme können interne Umwelten oder Umgebungen operativ konstituieren. Damit würden (klassische) Dualitäten von System / Umwelt (die systemtheoretischen Komplementär-Begriffe) gesprengt. Da im klassischen Dualismus von System / Umwelt nur eine einfache negative Relation vorliegt, kann Systemtheorie (bislang eben) auch nur an der einen Seite (System) anschließen. Insbesondere könnte systemtheoretische Theoriearchitektur aber auf diese Weise Paradoxien, wie zum Beispiel den Zwang, eine zweite Außenseite oder ein Supermedien annehmen zu müssen, vermeiden.

Auf dieser Ebene der Begriffsbildung könnte möglicherweise formuliert werden, wie das Gedächtnis von Kommunikation funktioniert. Denn wenn Kommunikation Kommunikation erzeugen soll, dann muß Kommunikation auch wissen (oder: sicher erinnern), daß sie Kommunikation ist. Zu einer Modellierung von kommunikativem Gedächtnis soll mit diesem Beitrag jedoch nur aufgerufen und angeregt werden. An dieser Stelle könnte m.E. wiederum an das semiotische Modell von Peirce angeschlossen werden. Als Stichwort dafür sei hier Schönrich zitiert:

Läßt sich der Begriff eines dynamischen Objekts bzw. eines finalen Interpretanten noch als Idee im Kantischen Sinne verstehen, nämlich als Anweisung, die Repräsentation von Objekten unbegrenzt fortzusetzen, so unterläuft Peirce diese mögliche Deutung dadurch, daß er den einzigen denkbaren Adressaten einer solchen Anweisung, nämlich die Selbstrepräsentativität der Repräsentationen, mit in den Zeichenprozeß hineinzieht und selbst zu einer unendlichen Folge expandiert. (Schönrich (1990) S. 223)

Schließlich sei auf eine weitere Konsequenz aus einer derart vorgenommenen Begriffsbildung, die positiv nicht darstellbar ist, hingewiesen. Spencer-Brown vergleicht seinen Formkalkül mit einer Partitur oder einem Rezept: "Der Text von Laws of Form stellt keine einzige Behauptung auf: nirgendwo erzählt er dir irgendetwas: und doch wirst du, folgst du seinen Anweisungen absolut, ohne Frage oder Erklärung oder vorgefaßter Meinung, an seinem Ende alles Nötige wissen." (XII)

7. Vorschlag, frei nach Spencer-Brown

Konstruktion:

Mache eine Erscheinung.

Inhalt:

Nenne sie die erste Erscheinung.

Veränderung:

Laß da eine von der ersten Erscheinung unterschiedene Erscheinung sein.
Nenne jedwede solche Erscheinung eine Veränderung.

Kommunikation:

Nenne jede Veränderung eine Operation.
Nenne die letzte Operation Kommunikation.

Bewußtsein:

Laß da eine von Kommunikation unterschiedene Kommunikation sein.
Nenne sie Bewußtsein.
Nenne die Summe aller von Kommunikation unterschiedenen Kommunikationen Bewußtsein.

Assertion:

Nenne jede nächste Kommunikation die letzte Kommunikation.
Nenne die letzte letzte Kommunikation Assertion.

Antizipation:

Stelle dir eine Kommunikation vor, die keine unterschiedene Zeit (Bewußtsein) ist und von der Assertion unterschieden ist.
Nenne sie eine antizipierte Kommunikation....

8. Literatur

Castella, Joachim (1994): Der Gang an der Grenze. Einleitung in das Denken Gotthard Günthers. http://www.techno.net/pkl/evakad.htm

Castella, Joachim (1996): Zur Sprach- und Schriftkonzeption bei Günther. http://www.techno.net/pkl/winzen.htm

Foerster, Heinz von (1992): Entdecken oder Erfinden. Wie läßt sich Verstehen verstehen?. In: Gumin, Heinz / Heinrich Meier (Hgg.): Einführung in den Konstruktivismus. S.41-88. Verlag Piper, München, Zürich

Fuchs, Peter (1995): Die Umschrift. Zwei kommunikationstheoretische Studien: "japanische Kommunikation" und "Autismus." Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main

Fuchs, Peter (1998): Das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie. Die Herrschaft der Verlautbarung und die Erreichbarkeit des Bewußtseins. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main

Glanville, Ranulph (1998). Unveröff. Manuskript. Kontaktadresse: CybernEthics Research, 52 Lawrence Road, Southsea, Hants, PO5 1NY, UK

Kaehr, Rudolf (1993): Disseminatorik: Zur Logik der "Second Order Cybernetics". Von den "Gesetzen der Form" zur Logik der Reflexionsform. In: Baecker, Dirk (Hg.): Kalkül der Form. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main. S. 152-196

Luhmann, Niklas (1992): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main

Marius, Benjamin, Oliver Jahraus (1997): Systemtheorie und Dekonstruktion. Die Supertheorien Niklas Luhmanns und Jacques Derridas im Vergleich. LUMIS-Schriften 48, Siegen

Schönrich, Gerhard (1990): Zeichenhandeln. Untersuchungen zum Begriff einer semiotischen Vernunft im Ausgang von Ch. S. Peirce. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main

Spencer-Brown, George (1979): Laws of Form. New York, Dutton

Spencer-Brown, George (1997): Gesetze der Form. Bohmeier Verlag, Lübeck

Varga von Kibéd, Matthias, Rudolf Matzka (1993): Motive und Grundgedanken der "Gesetze der Form." In Baecker, Dirk (Hg.): Kalkül der Form. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main. S. 58-85.


Dr. Nina Ort
Universität München
Institut für Deutsche Philologie
Schellingstr. 3
D-80799 München

Ins Netz gestellt am 15.12.1998.

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