IASLonline NetArt: Theorie Thomas DreherGeschichte der ComputerkunstI. EinleitungBücher über die Geschichte der Computerkunst behandeln entweder Entwicklungen als Schwerpunkt, die zu den Zeitpunkten ihres Erscheinens aktuell waren 1, oder sie integrieren Computerkunst in Geschichten der Medienkunst. 2 Nach fünf Jahrzehnten Computerkunst sind ausführlichere Rekonstruktionen der historischen Entwicklungslinien des Einsatzes von Rechnern und Rechenprozessen in künstlerischen Projekten fällig, um Computerkunst als eigenständigen Bereich der Medienkunst erkennen zu können. In den fünfziger und sechziger Jahren wurden von Computerexperten verschiedene Einsatzmöglichkeiten von Großrechnern ("Mainframe Computer") für Kunst und Unterhaltung zum ersten Mal erprobt. Aus verschiedenen Einzelleistungen ist durch Weiterentwicklungen und neue Einsatzmöglichkeiten von immer kleineren Rechnern ein dichtes Feld aus Vorleistungen geworden, an die Künstler heute anknüpfen können. Gab Informationsästhetik künstlerischer Arbeit in den sechziger und siebziger Jahren ein Ziel, das Künstler aufgriffen, so wird nach der postmodernen Kritik solcher `Projekte´ eine Vielfalt von technologischen Konfigurationen realisiert, welche die Übersicht erschwert: Die Ausdifferenzierung von Computerkunst befindet sich heute in einem fortgeschrittenen Stadium. Die vorliegende Arbeit integriert Animation und Games als wichtige Entwicklungsstränge der Computer Art und lässt es auf die Konfrontation von korporativ ausgeführten und distribuierten Künsten mit von Investoreninteressen und korporativ organisierten Produktionsweisen unbehelligten Kunstentwicklungen ankommen, da beide Seiten verschiedene Aspekte von "Computational Aesthetics" 3 realisieren. Die Entwicklung dreidimensionaler Bildsimulation in Filmanimationen und Computer Games von Computer Art zu trennen, hieße, künstliche Trennungen einzuführen. Computerkunst entfaltet sich in teilweise simultan verlaufenden Entwicklungssträngen: Die Entwicklungen der Computerkunst sind multilinear. Die Entwicklungsstränge werden in verschiedenen Kapiteln vorgestellt. Die Reihenfolge der Kapitel ergibt sich aus den Zeitpunkten der ersten reiferen Projekte, welche die Hauptaspekte eines Stranges in einer richtungweisenden Art vorstellen. Die Nachfolger der ersten reiferen Projekte werden nicht mehr vorgestellt. Einige Entwicklungsstränge mit längeren Entwicklungsphasen zeigen den Wandel der sie tragenden Computertechnologie von Großrechnern bzw. Mainframe Computer zu Heimcomputern (s. Kap. IV.2.1, VI und VII). Die Entwicklungsstränge werden im Folgenden skizziert, wobei die Gesamtentwicklung in der Abfolge der Kapitel erkennbar wird. Die Kybernetik thematisiert Eigenschaften, die technische mit biologischen Systemen teilen (s. Kap. I.1). William Ross Ashbys Homeostat und William Grey Walters sich selbst steuernde Roboter sind technische Modelle, deren Eigenschaften, auf externe Einflüsse zu reagieren, auch biologische Systeme aufweisen (s. Kap. I.2). Diese kybernetischen Modelle sind technische Demonstrationen für Systemsteuerungen unter sich verändernden Umweltbedingungen. Kybernetische Skulpturen weichen von dreidimensionaler Kinetischer Kunst mit bewegten Elementen 4 in ihren Fähigkeiten ab, auf Umwelteinflüsse mit programmierten Elementen zu reagieren (s. Kap. II.3). Ashbys und Walters Modelle lieferten dafür die Vorbilder. Die Möglichkeiten von Mainframe Computern, Zeichen einer programmierten Regel folgend zu kombinieren, werden in generierten Texten seit den fünfziger Jahren vorgeführt (s. Kap. III.1). Diese Kombinationen von Textzeichen zu Worten, Wortkombinationen, Satzteilen und Sätzen zeigen eine Verfahrensweise, die in Computergrafiken der sechziger Jahre zur Generierung von Konfigurationen einer Auswahl visueller Zeichen aufgegriffen und modifiziert wird. Der Computer dient als Instrument zur Teilrealisation von Kombinationsmöglichkeiten visueller Systeme. Die Resultate der Rechenprozesse drucken Plotter aus. Die auf Kybernetik rekurrierende Informationsästhetik liefert Kriterien für Kombinationen, die Über- und Unterkomplexität der visuellen Erscheinung eines Plotter-Ausdrucks vermeiden. In ihrer Kombination aus seriellen Verfahren und Pseudo-Zufall (als algorithmische Verfahren zur Erzeugung nicht-serieller Ereignisse) weicht Computergrafik von Seriell-Konkreter Kunst ab, die einer Syntax der Kombination visueller Elemente ohne Abweichungen folgt. 5 Die Information als Maß technischer Prozesse (s. Kap. II.1.3) wird ergänzt durch die Information als Maß der menschlichen Wahrnehmung (s. Kap.II.2.2). In den siebziger Jahren entstehen Videokulturen, die politische und formal-experimentelle Richtungen verfolgen. Teil von Letzterer sind Entwicklungen von Videosynthesizern, zunächst mit analogen und ab Ende der siebziger Jahre mit digitalen Bauteilen. Die Videosynthesizer liefern Künstlern Instrumente zur Erzeugung von 2D-Videofilmen (s. Kap. IV.1). Parallel dazu werden in den siebziger Jahren Verfahren der 3D-Simulation für digitale Großrechner entwickelt, die es zum ersten Mal zu Beginn der achtziger Jahre erlauben, Sequenzen für Spielfilme ausschließlich mit Mitteln einer Figuren und Räume darstellenden Computeranimation zu erzeugen (s. Kap. IV.2). In Evolutionärer Kunst werden seit den achtziger Jahren Animationsverfahren für virtuelle Körper und Oberflächen in Programme integriert, die in Anlehnung an Evolutionstheorien konstruiert wurden (s. Kap. IV.3). Seit Ende der achtziger Jahre bieten reaktive Installationen Ausstellungsbesuchern ungewöhnliche Interfaces zur Echtzeitsteuerung von Simulationen dreidimensionaler Welten (s. Kap. V). In den achtziger Jahren ermöglichen einerseits Großrechner Echtzeit-Simulationen, während andererseits Heimcomputer für Games (neben Konsolen) mit noch rudimentären 3D-Simulationen einsetzbar werden (s. Kap. VII.1.3). In der Demoscene wird in den achtziger Jahren eine Programmierung von Einführungen (Intros) zu gecrackten Spielen entwickelt, die über Codes für Scrolltexte und bewegte Grafiken direkt die Grafikchips von Heimcomputern steuert (s. Kap. IV.4.3). In den neunziger Jahren wird einerseits die 3D-Darstellung für Heimcomputer in Games, Demos und anderem üblich, andererseits wird im Web mit via Telekommunikation übertragbaren Hypertexten eine Kultur verknüpfter Text(teile) geschaffen (s. Kap. VI.2.2, VI.2.3), in die sich nieder aufgelöste Bilder und Kurzfilme einbetten lassen. Bilder und Filme können im Web der neunziger Jahre nur eine Begleiterscheinung spielen, da ihre Übertragungszeit noch die Geduld der User strapaziert. Dem Web der neunziger Jahre ging in den achtziger Jahren bereits eine Heimcomputer-Kultur in Bulletin Board-Systemen voraus. Die Entwicklung der Netzkunst beginnt mit dem Internet der achtziger Jahre (s. Kap. VI.1.2), während die Grundlagen der Vernetzung von Computern und des Hypertext sehr viel weiter zurückreichen (s. Kap. VI.2.1). Die wechselseitigen Anregungen zwischen Literatur und Kunst werden in den Netzwerken der achtziger Jahre (s. Kap. VI.1.2) und im Internet der neunziger Jahre (s. Kap. VI.2.2, VI.2.3) gegenüber ihren Vorläufern in den fünfziger und sechziger Jahren (s. Kap. III.1.2, III.1.3, III.2.2) intensiver, da Netzliteratur wie Netzkunst Hypertextstrukturen anwenden und thematisieren. Projekte der HTML Art (s. Kap. VI.3.2) und der Browserkunst (s. Kap. VI. 3.3) thematisieren Bedingungen des Web der neunziger Jahre. Diese Projekte bestehen aus Codes, die heute teilweise mit dem Verschwinden der damaligen Webbedingungen nicht mehr operationsfähig sind. Mit der leichten Verfügbarkeit von Daten durch ihre Übertragbarkeit im Web, ihre Speicherbarkeit und ihre Wiederholbarkeit in Folgeprojekten entstehen künstlerische Projekte, die (scheinbare) Überschreitungen von Urheberrechtsschranken vorführen und thematisieren. Das amerikanische Recht, für Kommentare Teile urheberrechtlich geschützter Werke wiederholen zu dürfen, wird in Montagen und Modifikationen so vorgeführt, dass sich die Inhaber der Urheberrechte (und ihre Verwerter) zu wehren versuchen, indem sie sich bemühen, die Anwendung der "Doctrine of Fair Use" über die Rechtsprechung einzuengen. 6 Zwei Websites von 2002-2003, die sich in Texten und künstlerischen Projekten mit diesem wichtigen Aspekt der Netzkultur auseinander setzen, werden vorgestellt (s. Kap. VI.3.4). Computer Games waren seit den vierziger Jahren nicht nur eine Nebenbeschäftigung von Experten, sondern auch Mittel zur Demonstration der Leistung von Computern vor einem Laienpublikum (s. Kap. VII.1). Mit den Arcade-Spielen für Spielhallen und den Konsolen für den Heimfernseher wurden Video Games mit einer Hardware, die auf die jeweiligen Spielanforderungen zugeschnitten ist, ab den siebziger Jahren zu einem Zweig der Unterhaltungsindustrie (s. Kap. VII.1.2). Heimcomputer werden in den achtziger Jahren nicht nur für EDV eingesetzt, sondern dank Games werden sie auch zu einem Instrument der Freizeitbeschäftigung. In den neunziger Jahren bilden Strategiespiele eine Alternative zu den populären Kriegsspielen. Beide Spielarten versetzen Spieler auf verschiedene Weise in 3D-Simulationen (s. Kap. VII.1.3). Konträr zu den ins Internet verlagerten Multiplayer-Spielwelten (MMOG) werden Pervasive Games im Realraum mit und gegen Teilnehmer ausgetragen. Charakteristisch für Pervasive Games sind kurze Spielzeiten ohne Levels und die Aufgabe an Spieler, Informationen aus mobilen technischen Ausrüstungen mit vorgefundenen Umweltbedingungen zu koordinieren (s. Kap. VII.2). Das in der Erörterung von Pervasive Games vorgestellte spielorientierte Interface-Modell wird im Schlußkapitel zu einem Ansatz für die Interaktion zwischen Menschen und Rechnern weiter entwickelt (s. Kap. VIII.2). Für die Entwicklungen der Computer Art wird eine Systematisierung der Modi, Rechenprozesse zu organisieren, vorgestellt: Hypertextuelle, modulare und generative Verfahren sind die Haupttypen der künstlerischen Organisation von Rechenprozessen (s. Kap. VIII.1).
Dr. Thomas Dreher Copyright © (as defined in Creative
Commons Attribution-NoDerivs-NonCommercial 1.0) by the author, October 2011. Wollen Sie dazu Stellung nehmen oder einen eigenen Tip geben? Dann schicken Sie uns eine E-Mail. Anmerkungen 1 Franke: Computergraphik 1971 über die Computerkunst der fünfziger und sechziger Jahre; Goodman: Visions 1987 mit den achtziger Jahren als Schwerpunkt; Paul: Art 2003 mit den neunziger Jahren als Schwerpunkt. 2 Davis: Experiment 1975; Lovejoy: Currents 1997; Popper: Art 1993; Shanken: Art 2009. 3 Die Verwendung des Begriffs Ästhetik für die künstlerischen Entwicklungen von und mit Rechenprozessen ist nur dann sinnvoll, wenn dessen Bedeutung nicht auf visuelle Erscheinungen eingeschränkt wird. Gerätefunktionen, Interfaces, Programme (Codes der Software) und Rechenprozesse müssen als Bestandteile von "Computational Aesthetics" berücksichtigt werden. zurück 4 Kinetische Kunst weist entweder mechanische Antriebe oder Luftbewegungen als Ursache für die Bewegung von Werkteilen auf. Über Kinetische Kunst: Buderer: Kinetische Kunst 1992, S.45-78; Burnham: Modern Sculpture 1968, S.262-284; Davis: Experiment 1975, S.69ff.,147-159; Popper: Kinetische Kunst 1975, S.28-40. zurück 5 Vgl. Werkreihen (und Reihen in Werken) von Richard Paul Lohse, François Morellet und Marcello Morandini. Zur mathematisch organisierten Konkreten Kunst: Crone: Order 1978; Guderian: Parallelen 1997. zurück 6 o.A.: United States Code o.J. zurück
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