Textkritik

Die neugermanistische Editionsphilologie weist schon aufgrund der Anlage ihrer editorischen Langzeitprojekte, die im Fach zu den kostenintensivsten Unternehmungen zählen, eine große und kaum zu störende Nähe zum Autorkonzept auf, auch weil es in den meisten Fällen der Name eines Autors ist, der am Ende die Buchrücken ziert.

Bis in die 1970er Jahre hat man im Fach die Aufgabe, einen gesicherten Text zu erstellen, als gelöst angesehen, »wenn eine dem Willen des Verfassers entsprechende oder eine diesem möglichst nahe kommende Wiedergabe des von ihm konzipierten Werkes erreicht ist.«[83] Operationalisiert wurde die Ermittlung eines authentischen Textes, indem ein autorisierter Textzeuge zur Grundlage der Edition gewählt wurde oder - wenn ein solcher nicht überliefert war - aufgrund der Konstruktion eines Überlieferungsstammbaums, des Stemmas, ein Text konstituiert wurde, von dem man eine möglichst große Nähe zur Intention des Autors postulierte.

In die Kritik geriet dann weniger die Orientierung an der Autorintention; vielmehr galten die einflußreichen Reflexionen insbesondere Scheibes und Zellers gerade der Frage, wie eine Konfundierung von Editorintention und Autorintention zu vermeiden sei. Zielpunkt ihrer Angriffe waren insbesondere die empathischen Verfahren der Ermittlung von Autorintention, in denen der Editor gleichsam >weiß<, was der Autor wollte. Im Gegenzug wählten sie »zum Leitbegriff der Textkonstitution den in der Überlieferung bezeugten Autorwillen.«[84] Der überlieferte Text soll eben gerade, weil er Ausdruck der Autorintention ist, bewahrt werden, und alle scheinbar verbessernden oder sinnstiftenden Eingriffe des Editors müssen als solche sichtbar gemacht werden.

Abgelehnt wird somit insbesondere auch das Verfahren der Textkonstituierung der angelsächsischen Editionstradition, die mittels Erstellung eines Mischtexts eine möglichst große Annäherung an den idealen, der Autorintention entsprechenden Text anstrebt. Der erstellte Text soll sich nach diesem angelsächsischen Modell, das in den USA bis in die 90er Jahre durch seine institutionelle Stützung sehr einflußreich war, zwar hinsichtlich der accidentals, zum Beispiel Orthographie und Interpunktion, an der Druckvorlage orientieren, hinsichtlich der substantive readings, also des genauen Wortlauts, aber wählt der Editor aus den verschiedenen überlieferten Texten die Variante, die seiner Auffassung von der Autorintention am nächsten kommt.[85]

Auch die Diskussion um die Frage, welche Ausgabe eines Textes Grundlage einer historisch-kritischen Edition sein solle, ist einer Problematisierung des Begriffs >Autorintention< zu verdanken. Die Anfänge der neugermanistischen Editionsphilologie, insbesondere das Großprojekt der Weimarer Ausgabe der Werke Goethes, sind von der Auffassung bestimmt, daß der Editor der Testamentsvollstrecker des Autors sei, also dessen letzten Willen zu erfüllen habe. Gerechtfertigt wird diese Privilegierung des letzten Willens durch ein Bildungsmodell, das insbesondere den großen Autoren eine ständig sich steigernde Bildung und damit auch eine gewachsene Einsicht zuerkennt. Inzwischen wird die Aufgabe des Editors eher in seiner möglichst genauen Sicherung von historischen Dokumenten gesehen. Das führt unter anderem zu einer Bevorzugung des Erstdrucks (oder der entsprechenden Druckvorlage, wenn sie vorhanden ist), da sie die Intention des Autors bezeugt, die der Entstehung des Werks am nächsten liegt. Oder man faßt die verschiedenen Textzeugen als eine im Prinzip gleichwertige Reihe von autorisierten Fassungen auf, die der Editor als jeweils zeitgebundene Realisationen der Autorintention zu dokumentieren hat.[86]

Diese Diskussion zeigt, daß nicht unwesentliche Aspekte des in Verruf geratenen Begriffs >Autorintention< weniger dem Begriff selbst zuzuschreiben sind als vielmehr seiner Verbindung mit anderen Konzepten, zum Beispiel dem der >Bildung< oder auch dem des >kongenialen< Editors. Mit der Ausrichtung auf die Intention des Autors alleine läßt sich nämlich weder die Bevorzugung eines Zeugen noch ein Weg zur Ermittlung des Gemeinten, zum Beispiel im Falle von Fehlschreibungen oder Abweichungen von der Sprachnorm, begründen.

Ein weiteres Problemfeld der Editionsphilologie, das unter Bezug auf die Autorintention diskutiert wird, ist die Spannung zwischen dem Text als Kommunikationshandlung meist eines Autors und dem veröffentlichten Text samt seiner Wirkungsgeschichte als soziales Faktum. Häufig ist diese Differenz unproblematisch, entweder weil kein Autortext überliefert ist oder weil es keine nennenswerten Differenzen zwischen den beiden gibt. Problematischer ist dies im Falle der Zensur, da diese oft zu sehr greifbaren Abweichungen zwischen Autortext und veröffentlichtem Text führt und dies auch ein bezeichnendes Licht auf all die Texte wirft, die ebenfalls unter Zensurbedingungen veröffentlicht wurden, deren Autortext aber nicht mehr vorliegt. Mindestens ebenso problematisch wird dies im Falle von Texten, die vom Autor nicht mehr oder nicht so intendiert waren, aber in der Gestalt einer Fremdredaktion literarhistorische Bedeutsamkeit erlangt haben, wie dies im Falle der Aphorismensammlung Maximen und Reflexionen geschehen ist, die bekanntlich nicht von Goethe stammt, sondern erst durch die Arbeit ihres Herausgebers Max Hecker entstanden ist, oder auch der Romane Franz Kafkas, deren Textgestalt deutlich von ihrem ersten Herausgeber Max Brod bestimmt ist.[87] Der Vorschlag, die Autortexte ganz zu vernachlässigen,[88] ist in der editorischen Praxis nicht aufgegriffen worden, die auch in solchen Problemfällen - ebenso vereinfachend - dem Autortext den Vorzug vor der wirksamgewordenen Gestalt gibt. Diskutiert und praktiziert werden aber inzwischen die neuen, auch ökonomisch interessanten Möglichkeiten elektronischer Publikation, die eine breitere Dokumentation der Textgenese und -überlieferung gestattet.

Etwas anders gestaltet sich die Diskussion in den Mittelalter-Philologien, die sich in den letzten 25 Jahren von den Prämissen einer Geniezeit-Ästhetik freigemacht und die Abhängigkeit der mittelalterlichen Texte von den ganz anderen Kommunikationsbedingungen ihrer Zeit herausgearbeitet haben. Insbesondere die Erstellung eines möglichst autornahen Texts mit eklektizistischen Verfahren wird inzwischen zugunsten einer Dokumentation der überlieferten Textvarianz abgelehnt. Nicht zuletzt die intensiv geführte Diskussion um die New Philology, die mit Bezug auf Foucault mediävistische Autorkonzepte radikal kritisiert hat, macht deutlich, daß eine Neukonzeption literarischer Kommunikation im Mittelalter einschließlich der Autorrolle zu einem offenen Problem des Faches geworden ist.[89]


Textkommentierung

Die Textkommentierung in Europa hat seit ihren frühen Anfängen in der Antike die Aufgabe, Texte oder Teile eines Textes, die unverständlich sein könnten, verständlich zu machen. Ursache der Unverständlichkeit ist meist der historische Abstand zur Entstehungszeit des Werkes und kann oft schon das gewandelte Wortverständnis und das Fehlen von Kontextwissen sein, zum Beispiel bei Anspielungen auf Personen oder Texte. In der neugermanistischen Editionsphilologie, die wiederholt das Fehlen einer Theorie des Kommentars beklagt hat,[90] hat sich der Kommentar zu einem wesentlichen Instrument der autorbezogenen Historisierung von Texten entwickelt, wie nicht nur die Praxis neuerer Editionen, sondern auch die fachinterne Reflexion zeigt:[91] »Im Idealfall ist das Wissen des Autors zu rekonstruieren und der Verstehenshorizont seiner Zeit aufzuzeigen.«[92] Diese Zielsetzung reflektiert sich auch im üblichen Aufbau von Kommentaren: In einem diskursiven Teil wird neben der Textkonstitution und den Varianten umfassend die Entstehung des Werks dokumentiert und ebenso die zeitgenössische Rezeption, zumeist mit der Beigabe von Autorbriefen und anderen Zeugnissen. Nicht selten ist ein eigener Abschnitt der Textdeutung gewidmet. Die jeweiligen Bände der Studienausgaben von Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre belegen in ihrem Aufbau diesen Stand der Diskussion:[93] »Entstehungsgeschichte« beziehungsweise »Goethe über Wilhelm Meisters Lehrjahre« heißen die jeweiligen Kapitel mit autorbezogenen Dokumentensammlungen zur Entstehungsgeschichte. Die »Wirkungsgeschichte« wird mit Stimmen der Zeitgenossen zum Werk dokumentiert. Interpretationskapitel (»Struktur und Gehalt« beziehungsweise »Einführung«) zeigen die spannungsvolle Nähe der Textsorte Kommentar zur Interpretation mit ihren oben diskutierten Funktionen von Autorkonzepten.

Der Stellenkommentar, der den allgemeinen Kommentar in Editionen zumeist ergänzt, erläutert zumindest nicht mehr bekannte Wortbedeutungen, Namen und klärt Anspielungen auf - wobei sich hier kein so weites Verständnis von >Intertextualität< durchgesetzt hat, wie Kristeva es postuliert, sondern Text- und Kontextbezüge wohl immer auf das mögliche Autorwissen bezogen werden, das oft zu diesem Zweck aus Lektürenotizen, Bibliotheksverzeichnissen usw. rekonstruiert wird.[94] Häufig verweist der Stellenkommentar auch auf Parallelstellen in anderen Texten des Autors, wodurch die Beziehung des Textes zu seinem Urheber noch verstärkt wird. Problematisiert wird in der Diskussion neben Fragen nach Anlage, Umfang, Tiefe und Binnenstruktur des Kommentars auch das Verhältnis des Autorwissens zum Editorwissen: Der Editor kann Entwicklungen, die der Autor gesehen hat oder deren Anfang er vielleicht selbst ausgelöst hat, aus seiner Position weiter überblicken, dagegen muß die Rekonstruktion des Autorwissens stets bruchstückhaft bleiben und steht immer im Verdacht, diese Bruchstücke willkürlich zu einem sinnvollen Ganzen zu verbinden. Unbestritten ist aber die Notwendigkeit eines Bezugspunkts, der die Auswahl aus der Fülle des historischen Wissens lenkt, und diesen Bezugspunkt bieten das rekonstruierte Wissen des Autors und seine Intention.


Formale Textanalyse

Verfahren der formalen Textbeschreibung und -analyse wie Stilistik, Rhetorik und Metrik scheinen, da sie sich auf die Sprachoberfläche beziehen, zunächst nur insofern auf den Autor rekurrieren zu müssen, als sie eine Instanz brauchen, der die Textproduktion zuzurechnen ist. Doch schon bei der rhetorischen Analyse eines Phänomens wie der ironischen Rede kommt man ohne den weitergehenden Rekurs auf so etwas wie eine Sprecherintention nicht aus: Um Ironie identifizieren zu können, benötigt man den Bezug auf den Autor als Sprecher, der etwas >Eigentliches< meint, aber etwas anderes sagt.[95]

Darüber hinaus bietet aber bereits die scheinbar unproblematische Operation des Zuschreibens zu einer verursachenden Instanz Stoff für Kontroversen, wie etwa die Stilistik zeigt. Wem der >Stil< eines Textes zuzuschreiben sei, ist eine umstrittene Frage; dabei ist der empirische oder implizite Autor nur einer der Kandidaten.[96] Für die textbezogene Devianzstilistik gilt Stil als Abweichung von einer außerhalb des Untersuchungstextes zu rekonstruierenden sprachlichen Norm, während für die leserbezogene Stilistik der Stil eines Textes aus der Leserreaktion auf die sprachlichen Eigenschaften resultiert.[97] Nach Auffassung autorbezogener Stilistik dagegen entsteht Stil aus der bewußten oder unbewußten Wahl des Autors aus der Vielzahl der Möglichkeiten sprachlicher Gestaltung, die das Sprachsystem vorgibt. Dabei sind, zumindest neueren Positionen zufolge, soziale und sprachliche Kontexte zu berücksichtigen. Diese Variante der Stilistik wird beispielsweise eingesetzt, um Verfasser anonym erschienener Texte zu ermitteln oder um den >Individualstil< eines Autors zu rekonstruieren, in dem sich seine Texte signifikant von denen anderer Autoren unterscheiden. Ein Vorteil dieses Einsatzes von Autorkonzepten - im Unterschied etwa zu Konzepten der Autorintention - liegt darin, daß sich Annahmen zu stilistischen Eigenheiten eines Autors im Einzelfall empirisch und mithilfe computergestützter Analysen überprüfen lassen.[98]


Literaturgeschichtsschreibung

In Literaturgeschichten war der >Autor< unterhalb der Epocheneinheiten stets der wichtigste Begriff zur textsortenspezifischen Selektion, Wertung und Beschreibung von Texten. In traditionellen Darstellungen findet man bis in die 1980er Jahre eine Gliederung des Textes, die zwischen thematischen und autorbezogenen Einheiten[99] wechselt, mit einem deutlichen Übergewicht bei letzteren. Ein Blick in die aktuellen Geschichten der deutschen Literatur macht deutlich, daß diese Verwendungsweise durch neuere Modelle - erinnert sei hier besonders an die Diskussion um sozialgeschichtliche und die sie beerbenden systemtheoretischen Ansätze zur Erneuerung des Genres - nicht in Frage gestellt, sondern durch weitere Ordnungsbegriffe, insbesondere zur Gattungs- und Mediengeschichte, ergänzt wird.[100] Bis in die Gegenwart hinein kann man sagen, daß die meisten Literaturgeschichten Handlungskonzepte favorisieren: »Der Autor produziert ein Werk für Leser.«[101]

Autorennamen haben sich in Literaturgeschichten also behaupten können, obwohl es schon seit der Abkehr vom Positivismus die Forderung nach einer Literaturgeschichte ohne Namen gibt. Der Begriff des Autors findet sich in so zahlreichen Verwendungsweisen, daß seine Resistenz gegen Abschaffungen wohl in dieser Multifunktionalität ihre Ursache hat. Ganz wesentlich hilft er die Spannung zwischen den zwei tragenden Pfeilern der meisten literarhistorischen Darstellungen zu überbrücken, die man mit megac die »Literaturgeschichte des Überlieferten«, also der im weiteren Sinne kanonisch gewordenen Texte, und die »Literaturgeschichte des einst Gelesenen«,[102] also der epochenspezifischen Leseerfolge, nennen kann. Für den ersten Aspekt der Literaturgeschichte ist stets eine wertende Auswahl notwendig, sei es auch nur im Nachvollzug der im Fach vorgenommenen Selektionen. Literaturwissenschaftliche Kanonisierung geschieht jedoch entlang von Gesamtoeuvre und Einzeltexten und wird insbesondere im ersten Fall über den Autornamen verhandelt.[103] Zugleich ist es, insbesondere für den zweiten Aspekt der Literaturgeschichte, notwendig, das Unüberschaubare überschaubar zu machen, und diese Form der Komplexitätsreduktion geschieht ebenfalls zumeist entlang von Autorennamen, denen ein zumindest teilweise repräsentatives Leben oder Werk zugeschrieben wird.[104] Wertung und Repräsentation operieren mit einem Autornamen, der zu einer schwer durchschaubaren und von Einzelfall zu Einzelfall wechselnden Metonymie für eine bestimmte Menge von Texten geworden ist. Zumeist soll eine Gruppe von Textmerkmalen zur Abgrenzung dieser Textmenge, des >Werks<, von allen anderen Texten dienen, doch sind diese Merkmale denkbar heterogen. Biographische Informationen zum Autor erscheinen zu einer Charakteristik verdichtet, deren Merkmale sowohl den Menschen als auch die von ihm geschaffenen Texte bezeichnen. So verläuft auch die Wertung der Texte selbst in den neuesten Literaturgeschichten immer noch über den Autor, der zum Prototyp für eine »Position«, eine »Haltung«, eine »Konzeption« wird,[105] der die Textmerkmale zugeschrieben werden. Für die mehr oder weniger ausführlichen Einzeltextinterpretationen gilt, was oben bereits gesagt wurde.


Literatursoziologie

Ein vergleichsweise unproblematisches Verhältnis zum >Autor< zeigt die Literatursoziologie, da sie seit ihren Anfängen den empirischen Autor immer schon als durch die Gesellschaft bedingt gesehen hat und damit die Kritik herausfordernde Überlastung des Begriffs vermieden wurde. Für zahlreiche Aufgabenfelder der Literatursoziologie erweist sich der Autorbegriff daher auch als unproblematisch: Untersucht werden die soziale Herkunft von Autoren und ihre Haupt- und Nebenberufe; analysiert werden das finanzielle Einkommen von Schriftstellern, ihre soziale Stellung, ihr Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen und nicht zuletzt die Entwicklung der Rechtsprechung zu Fragen des geistigen Eigentums sowie deren Abhängigkeit von allgemeineren Annahmen über die Autorschaft.[106] Insbesondere dieser letzte Aspekt, das gesellschaftliche Bild vom Autor, das Autoren in der Selbstbeschreibung verwenden oder befehden,[107] weist zwar in den letzten 150 Jahren zahlreiche Rückkoppelungen mit der Fachgeschichte auf, läßt sich aber ohne begriffliche Probleme untersuchen, da es stets um den Autorbegriff auf der Objektebene der Untersuchung geht und keine voraussetzungsvollen Annahmen auf der Metaebene gemacht werden müssen.

Problematischer und auch viel umstrittener ist die Konzeptualisierung des Zusammenhangs zwischen literarischen Texten und Gesellschaft. Es besteht zwar weitgehend Einigkeit darüber, daß der >Autor< eine wichtige Rolle dabei spielt, aber ob er als »ein Strukturbündel aufgefaßt wird, das auf ästhetische, ideologische und soziologische Achsen bezogen werden kann«,[108] ob er besser mit Bourdieus Habitus-Theorie oder Luhmanns Systemtheorie zu fassen ist, wird intensiv diskutiert, und die erklärungsrelevanten Aspekte des Begriffs >Autor< variieren stark in Abhängigkeit von den zugrundeliegenden Annahmen über Gesellschaft und Kommunikation.[109]


5. Schlußfolgerung

Die Frage, wie der Begriff >Autor< in der Literaturwissenschaft sinnvoll verwendet werden kann, läßt sich, wie bereits oben gesagt, nur durch ein umfangreicheres Forschungsprogramm klären. Angesichts der unbestreitbaren Relevanz dieses Begriffs in nahezu allen Bereichen des Fachs, den unser knapper Überblick nur andeuten konnte, scheint diese Art von Grundlagenforschung durchaus notwendig. Die Beiträge des vorliegenden Bandes machen damit einen Anfang. Es wird deutlich, daß der Autorbegriff weder unreflektiert verwendet werden kann, wie oft in der traditionellen Literaturwissenschaft der Fall, noch pauschal zu verabschieden ist. Der Bezug zwischen Autor und Text ist solange als sinnvolle Analysekategorie anzuerkennen, bis das Gegenteil erwiesen ist und dieser Nachweis nicht mit den kaum konsensfähigen philosophischen Prämissen der autorkritischen Positionen belastet ist. Die Frage ist aber, wie man mit der Einsicht in den >konstruktiven< Status interpretativer Aussagen über den Autor umgeht, zu der auch schon die ältere Diskussion gekommen ist. Es scheint uns nicht fruchtbar zu sein, sie als Argument heranzuziehen, um solche Operationen aus dem Bereich des wissenschaftlichen Umgangs mit Literatur zu verbannen, wie es zum Beispiel die wissenschaftstheoretisch orientierte Autorkritik der 70er Jahre getan hat, oder um sie mit der poststrukturalistischen Autorkritik für obsolet zu erklären. Beide Extrempositionen verzichten auf die erforderlichen Binnendifferenzierungen des Phänomens, das es zu erforschen gilt. Gerade um solche Differenzierungen geht es aber in der neuen Diskussion um die Verwendung von Autorkonzepten in der Literaturwissenschaft, wie sie in den USA Tradition hat und im vorliegenden Band für den deutschen Sprachraum versucht wird. Kennzeichnend für die meisten Beiträge dieses Bandes ist, daß die disziplinären Standards als solche erforscht und akzeptiert werden, ohne dabei wissenschaftliche Maßstäbe wie begriffliche Klarheit und argumentative Stringenz aufzugeben. Es geht um die genaue Rekonstruktion von Begriffen, die für die literaturwissenschaftliche Praxis grundlegend sind, um sich über die jeweilige Abhängigkeit der Begriffsverwendungen von Zusatzannahmen zu verständigen. Mit pragmatischen Argumenten soll die Blockade zwischen den beiden gegensätzlichen Positionen sowie zwischen Praxis und Theorie aufgelöst werden. Nicht zuletzt traditionelle Verwendungsweisen des Autorbegriffs müssen so auf den Prüfstand gebracht werden, dieses Mal nicht, um eine >Lizenz für alles< zu gewinnen, sondern um die Leistungen dieses Begriffs in der literaturwissenschaftlichen Arbeit von überholten Vorannahmen zu trennen.

Dieses Vorhaben läßt sich allerdings nicht allein in textwissenschaftlichem Rahmen durchführen, vielmehr müssen die anderen Medien wie Musik, bildende Kunst oder Film einbezogen werden, in denen der Autorbegriff oder sein Pendant eine ebenso zentrale und vielfältige Rolle spielt wie in der Literaturwissenschaft.[110] Die Bestimmungen und Funktionen von Autorkonzepten in diesen Wissenschaften können die Folie bilden, um die Besonderheiten, aber auch verallgemeinerbare Eigenschaften des Begriffs erkennen zu können. Dies gilt aufgrund der Entwicklung elektronischer Hypertexte auch für die Textwissenschaften selbst, da durch das neue Medium bislang für selbstverständlich gehaltene Randbedingungen der Textproduktion, -distribution und -rezeption verändert und dadurch sichtbar wurden.[111]

Beim augenblicklichen Stand der Diskussion kann man Autorennamen nicht mehr >barbarisch< verwenden, wie Foucault es nennt.[112] Ebensowenig kann man aber bereits die notwendige Einschränkung in der Verwendungsweise des Autorbegriffs präzise angeben: Das Nachfolgende kann also nicht mehr sein als die Wiederaufnahme eines Verfahrens, das schon abgeschlossen schien.
 
 

Zum Inhaltsverzeichnis des Bandes:  Rückkehr des Autors

 


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[83] Hans Werner Seiffert: Edition. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. Berlin: de Gruyter 21958, S. 313.
[84] Hans Zeller: Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edition. In: Gunter Martens / Hans Zeller: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. München: Beck 1971, S. 56.
[85] Einen Überblick über die augenblickliche Diskussion in der amerikanischen Editionsphilologie mit Verweisen auf die Referenztexte bietet Helge Nowak: Umbruch-Zeiten. Paradigmenwechsel innerhalb der anglo-amerikanischen Editionswissenschaft. In: editio 10 (1996), S. 1-24.
[86] Vgl. Siegfried Scheibe: Probleme der Autorisation in der textologischen Arbeit. In: editio 4 (1990), S. 57-72.
[87] Ein weiteres Beispiel sind berühmte Werke, die eigentlich Vorlesungsnachschriften sind, die sich beim Vergleich mit den überlieferten Originalmanuskripten oder dem Abgleich mit anderen Überlieferungen zumindest stellenweise als wenig getreu erweisen (Hegel, de Saussure).
[88] So Herbert Kraft: Geschichtlichkeit, nicht Vermächtnis - oder Authentizität statt Autorisation. In H.K.: Editionsphilologie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990, S. 18-39.
[89] Vgl. zur Diskussion die Beiträge in: Zeitschrift für Deutsche Philologie. Sonderheft 116 (1997) und den Beitrag von Thomas Bein in diesem Band.
[90] Vgl. Hans Gerhard Senger: Der Kommentar als hermeneutisches Problem. In: editio 7 (1993), S. 63. Vgl. zur Diskussion des Kommentars auch die weiteren Beiträge in diesem Themenheft von editio.
[91] Exemplarisch: Winfried Woesler: Zu den Aufgaben des heutigen Kommentars. In: editio 7 (1993), S. 18-35.
[92] Ebd., S. 20.
[93] Gemeint sind Band 5 der sogenannten Münchner Ausgabe und Band I/9 der Frankfurter Ausgabe; Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. v. Karl Richter u.a. München: Hanser 1988; Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. v. Friedmar Apel u.a. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1992.
[94] Vgl. dazu die Diskussion um die Verwendung des Intertextualitätsbegriffs für die Editorik bei Wolfram Groddeck: »Und das Wort hab' ich vergessen«. Intertextualität als Herausforderung und Grenzbestimmung philologischen Kommentierens, dargestellt an einem Gedicht von Heinrich Heine. In: Gunter Martens (Hg.): Kommentierungsverfahren und Kommentarformen. Tübingen: Niemeyer 1993, S. 1-10.
[95] Vgl. dazu auch den Beitrag von Karl Eibl in diesem Band.
[96] Einen Überblick geben Bernhard Sowinski: Stilistik. Stiltheorien und Stilanalysen. Stuttgart: Metzler 1991 und Bernd Spillner: Stilistik. In: Heinz Ludwig Arnold / Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München: dtv 1996, S. 234-256.
[97] Vgl. dazu Michael Riffaterre: Criteria for Style Analysis. In: Word 15 (1959), S 154-174.
[98] Vgl. dazu die Beiträge von John F. Burrows und Colin Martindale sowie das Kapitel I in dem Beitrag von Willie van Peer, alle in diesem Band.
[99] Exemplarisch dafür Beispiele aus zwei Darstellungen zum 18. Jahrhundert. Gerhard Kaiser: Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang. München: Francke 1976; Richard Newald: Von Klopstock bis zu Goethes Tod. München: Beck 61973 [1957]. Neben »Die Aufnahme der Antike« (Kaiser, S. 6.) oder »Kräfte des Beharrens und des Fortschritts« (de Boor, S. VII.) findet man in beiden Literaturgeschichten Kapitel zu »Wieland«, »Klopstock«, »Lessing«, meist auch nur mit dem Autornamen überschrieben. Typisch sind auch gattungs- oder sogar einzeltextbezogene Einteilungen.
[100] Eine Ausnahme ist Horst Albert Glaser: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. 10 Bde. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1980-1997. Die Bände weisen mit wenigen Ausnahmen eine rein textsortenbezogene Gliederung auf, bedürfen aber nach Aussage eines Bandherausgebers der Ergänzung durch eine konventionelle Literaturgeschichte; vgl. Band 4, S. 11.
[101] So Harro Müller in seinem Plädoyer für eine diskursanalytisch orientierte Literaturgeschichte: Einige Argumente für eine subjektdezentrierte Literaturgeschichtsschreibung. In: H.M.: Giftpfeile. Bielefeld: Aisthesis 1994, S. 10.
[102] Victor megac: Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. II/2. Königstein/Ts.: Athenäum 1980, S. VIII. Ähnlich Wilhelm Voßkamp: Theorien und Probleme gegenwärtiger Literaturgeschichtsschreibung. In: Frank Baasner (Hg.): Literaturgeschichtsschreibung in Italien und Deutschland. Tübingen: Niemeyer 1989, S. 166.
[103] Vgl. Renate von Heydebrand: Kanon Macht Kultur. Versuch einer Zusammenfassung. In: R.v.H.(Hg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Stuttgart - Weimar: Metzler 1998, S. 615.
[104] Peter Sprengel spricht von dem schon topischen Argument in den Vorworten von Literaturgeschichten, daß die jeweilige Selektion exemplarisch sei, vgl. Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870-1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. München: Beck 1998, S. XIV.
[105] So exemplarisch in zwei neuen Darstellungen zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. »Die zweite Darbietung [...] brachte Hauptmanns Vor Sonnenaufgang, und damit wurde der größte Dramatiker seit Hebbel entdeckt« heißt es bei Roy C. Cowen: Naturalismus. In: Ehrhard Bahr (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur 3. Vom Realismus bis zur Gegenwartsliteratur. Tübingen - Basel: Francke 21998, S. 114. Die Begriffe »Position«, »Haltung« bei Jürgen Fohrmann: Lyrik. In: Edward McInnes / Gerhard Plumpe (Hg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848-1890. Hansers Sozialgeschichte der Literatur. München: Hanser 1996, S. 404, 421f. und 429.
[106] Vgl. dazu in diesem Band den Beitrag von Martha Woodmansee und Peter Jaszi.
[107] Vgl. zum Selbstbild von Autoren Gunter E. Grimm (Hg.): Metamorphosen des Dichters. Das Rollenverständnis deutscher Schriftsteller vom Barock bis zur Gegenwart. Frankfurt/M.: Fischer 1992. Rolf Selbmann: Dichterberuf: Zum Selbstverständnis des Schriftstellers von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994. Zum Geniebegriff Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1985.
[108] Jürgen Link / Ursula Link-Heer: Literatursoziologisches Propädeutikum. München: Fink 1980, S. 356.
[109] Vgl. zusammenfassend Kapitel II in Andreas Dörner / Ludgera Vogt: Literatursoziologie. Literatur, Gesellschaft, Politische Kultur. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994.
[110] Vgl. dazu die Beiträge in Sektion IV dieses Bandes.
[111] Leider bleiben aber Lücken in unserem Band. Insbesondere bedauern wir, daß wir keine Beiträge zur Rolle des Autors in der Editionstheorie, der Mediengeschichte und der Literaturpsychologie aufnehmen konnten.
[112] Michel Foucault: Qu'est-ce qu'un auteur? (Anm. 1), S. 791.