1. Modelle des AutorbegriffsWer sich beim Interpretieren literarischer Texte auf den Autor bezieht, findet in den gängigen Interpretationstheorien wenig methodischen Rückhalt. Im Gegenteil: Die Auffassung, der Autor sei für die Erklärung der Bedeutung seiner Texte relevant, wurde in den letzten Jahrzehnten aus ganz unterschiedlichen theoretischen Haltungen heraus in Zweifel gezogen. Bereits in den vierziger Jahren hatten die New Critics William K. Wimsatt und Monroe C. Beardsley den methodischen Vorwurf der intentional fallacy gegen all jene Interpreten erhoben, die sich auf Intentionen des Autors berufen hatten. In den fünfziger Jahren setzte sich in Deutschland mit Wolfgang Kayser die Einsicht durch, daß der Autor vom Erzähler prinzipiell zu unterscheiden sei. Wenig später löste Wayne C. Booths Textkonstrukt des implied author den realen Autor als maßgeblichen Leitbegriff der Interpretation ab. Der radikalste Angriff gegen den Autor wurde jedoch gegen Ende der sechziger Jahre in Frankreich unternommen. Roland Barthes proklamierte den »Tod des Autors«. Er ersetzte ihn durch das Konzept eines Schnittpunkts von Diskursen und knüpfte damit an Julia Kristevas Verabschiedung des Autors zugunsten einer universalen Intertextualität an. Zur selben Zeit überführte Michel Foucault die Instanz des individuellen Autors in eine auf die Epoche der Moderne begrenzte diskursive Funktion.[1] Vor dem Hintergrund dieser Positionen und ihrer aktuellen Fortführungen ist die Verwendung des Autorbegriffs bei der Interpretation literarischer Texte heute dem Vorwurf theoretischer Naivität ausgesetzt. Gleichzeitig ist der Autor in der Interpretationspraxis der Literaturwissenschaft weiterhin von großer Bedeutung. (Im außeruniversitären Umgang mit Literatur ist er ohnehin stets präsent geblieben.) Diese Diskrepanz mag hie und da in einer Ignoranz gegenüber vergangenen und aktuellen Theoriedebatten begründet sein oder in einer mangelnden Konsequenz, als richtig akzeptierte Theoriepostulate auch de facto für die eigenen Textlektüren zu berücksichtigen. Aber solche Erklärungen reichen nicht aus. Der Verdacht drängt sich auf, daß die theoretische Reflexion über den Autor zentralen Formen des wissenschaftlichen Umgangs mit literarischen Texten nicht gerecht wird. Die Praxis der Interpretation(en) literarischer Texte demonstriert vielmehr legitime, ja notwendige Verwendungsweisen des Autorbegriffs, die von der Theoriediskussion nicht angemessen wahrgenommen werden. Diese Verwendungsweisen lassen sich nicht nur historisch rekonstruieren. Sie können und sollten, so meinen wir, auch systematisch gerechtfertigt werden. Das ist ein wichtiges Anliegen unseres Bandes.[2] *Eine umfassende Darstellung der Geschichte des europäischen Autorbegriffs liegt bislang nicht vor. Um dennoch das Feld zu strukturieren, in dem sich die Diskussionen um den Autor in den letzten Jahrzehnten bewegen, wollen wir hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit die wichtigsten Modelle skizzieren, die den Autorbegriff seit der Antike maßgeblich geprägt haben. 1. Inspiration: Zu den frühesten ausführlichen Erörterungen der literarischen Autorschaft gehört Platons Ion. Im Zentrum dieses Dialoges steht das Modell des inspirierten Dichters, des poeta vates. Hier erscheint der Autor als unbewußtes Medium, das den Text zwar in einem materiellen Sinne hervorbringt. Ursprung und Geltungsanspruch des Textes liegen aber nicht in ihm, sondern in einer göttlichen Instanz, da nämlich »die Dichter nichts anderes sind als Mittler [hermenes] der Götter, Besessene dessen, von dem jeder einzelne gerade besessen ist« (534e).[3] Die Vermittlung des göttlichen Dichterstoffes geschieht mit Hilfe des von den Musen eingegebenen Enthusiasmus. »Denn alle guten Ependichter singen nicht aufgrund eines Fachwissens [techne], sondern in göttlicher Begeisterung und Ergriffenheit alle diese schönen Dichtungen, und die Liederdichter, die guten, ebenso« (533e). Die dichterische Produktion ist keine Sache des Wissens, sondern der göttlich inspirierten Begeisterung. Sokrates vergleicht im Ion bekanntlich die Übertragung der poetischen Begeisterung von der Muse über den Autor, den Rhapsoden und Schauspieler bis hin zum Hörer mit einem magnetischen Stein, der Eisenringe anzieht und so magnetisiert, daß diese ihrerseits andere Ringe anziehen und so eine Kette aneinandergehefteter Ringe bilden. Dieser Vergleich beansprucht die Gültigkeit des Inspirationsmodells nicht nur für die Produktion, sondern ebenso auch für die Vermittlung und das Verstehen poetischer Texte. Hier ist der Autor kein privilegierter Interpret seines eigenen Textes. Und deshalb spielt auch für das angemessene Verstehen des Textes seine individuelle Intention keine Rolle. 2. Kompetenz: Im Ion wird außer dem inspirierten poeta vates auch noch ein zweites Autorschaftsmodell angesprochen. Gemeint ist das in der Poetik des Aristoteles und in der rhetorischen Tradition favorisierte Modell vom Autor als kompetentem Kenner und Anwender von >technischem< Fachwissen, dem poeta faber. So wie ein Handwerker durch seine techne (ars) die entsprechenden Objekte hervorbringt, so zeichnet sich auch der poeta faber durch den kompetenten Gebrauch von Regeln aus. Im Ion wird dieses Modell von Sokrates allerdings ausdrücklich abgelehnt - »nicht kraft eines Fachwissens reden sie (i.e. die Dichter), sondern durch eine göttliche Kraft« (534c). 3. Autorität: Sowohl für das Inspirations- als auch für das Kompetenzmodell gilt, daß die Individualität des Autors zugunsten überindividueller Instanzen zurücktritt. In der mittelalterlichen Poetik setzt sich das fort. Die christlichen Kirchenväter und die christlich gedeuteten Klassiker der antiken Literatur werden zu einem Kanon maßgeblicher auctores zusammengeschlossen, mit deren Autorität jeder neue Autor den Geltungsanspruch seiner Texte im Sinne einer imitatio veteris zu legitimieren hat. In den Schemata der lateinischen Textkommentare ist zwar unter anderem auch eine Erklärung der intentio auctoris vorgesehen; damit ist jedoch keine biographisch orientierte Rekonstruktion einer individuellen Autorabsicht gemeint, sondern die überindividuelle und ahistorische, didaktisch-erbauliche Wirkungsabsicht des Autors im Sinne der christlichen Lehre.[4] 4. Individualität: Auch das Interesse an der biographisch und historisch spezifischen Individualität des Autors hat eine lange Geschichte und reicht zurück bis in die griechische Antike. Unter Rückgriff auf die Ethik des Aristoteles haben dessen Schüler bereits im vierten vorchristlichen Jahrhundert die Biographik als systematische Gattung gepflegt.[5] Ihr Interesse galt dabei dem Zusammenhang von Charakter und Werk und damit auch dem Zusammenhang von Autorschaft und Autorität. Das ist immer wieder nachgeahmt worden, so etwa in der Tradition der lateinischen Textkommentare, die seit dem 13. Jahrhundert die individuelle Person des Autors hinzugezogen haben, um den Geltungsanspruch des Textes zu bekräftigen. Das geschieht beispielsweise durch den Hinweis auf bereits erschienene, erfolgreiche Werke desselben Autors oder durch den Hinweis auf dessen moralische Lebensführung. In Biographien über literarische Autoren - einem Genre, das mit Boccaccios Dante-Vita Tratatello in laude di Dante (um 1360) beginnt - werden ebenfalls Eigenschaften literarischer Texte durch den Bezug auf die Biographie ihres Autors erklärt. Eine breite und poetologisch fundierte Bezugnahme auf den individuellen Autor fand aber erst im 18. Jahrhundert im Zuge der Auflösung der Regelpoetik statt. Für die deutsche Tradition war hier insbesondere die Genie-Poetik des Sturm und Drang bestimmend. So erklärte etwa Johann Gottfried Herder 1778, »man sollte jedes Buch als den Abdruck einer lebendigen Menschenseele betrachten können«, denn »das Leben eines Autors ist der beste Commentar seiner Schriften«.[6] 5. Stil: Die Künstlerviten der Renaissance, etwa Giorgio Vasaris Vite (1550), führen zudem auch einen stilistischen Individualitätsbegriff ein: Der große Künstler weicht auf signifikante Weise von der Tradition ab, indem er seine Werke mit einem unverwechselbaren Personalstil versieht. Das Gesamtwerk eines Autors oder Künstlers wird zudem als Bestandteil seiner Biographie verstanden und die Einzelwerke etwa als >Früh-< oder >Spätwerke< in einen narrativen, auf die Biographie des Autors bezogenen Erklärungszusammenhang eingebettet. Das Gesamtwerk eines Autors wird so nicht nur zum Ausdruck seiner Persönlichkeit, sondern auch zum Abbild seiner individuellen Entwicklung.[7] Seine klassische Formulierung fand das stilistische Autormodell in dem Diktum des Comte de Buffon: »le style est l'homme même«. Im Zusammenhang lautet die Passage aus Buffons Discours sur le style (1753):
6. Intention: Eng mit der Beachtung der historisch-biographischen Individualität des Autors verknüpft ist der Rekurs auf die Intention des Autors als Verstehensnorm. Es scheint, daß die Autorintention ebenfalls erst im 18. Jahrhundert in größerem Umfang zum Bezugspunkt der Interpretation wurde. Begrifflich erfolgte dies im Rahmen der Aufklärungshermeneutik mit der Unterscheidung von >grammatischer< und >historischer< Interpretation. So schreibt etwa 1799 der Theologe und Orientalist Georg Lorenz Bauer:
Wenige Jahre später machte dann Friedrich Daniel Schleiermacher diese Unterscheidung zum Ausgangspunkt seiner Hermeneutik. 7. Copyright: Neben der Individualität und der Intention des Autors etabliert sich im 18. Jahrhundert schließlich noch eine dritte Form von Autorschaft: das juristische Autormodell. Auch wenn es bereits in früheren Jahrhunderten eine Vorstellung vom geistigen Eigentum gab,[10] so gewinnt erst im 18. Jahrhundert dieses Modell an Bedeutung. Kennzeichnend für diese Konzeptualisierung des Autors ist die Auffassung, der Autor habe ein spezifisches Eigentumsrecht an seinem Text und damit verbunden auch ein einklagbares und mit Vergütungsansprüchen verbundenes Copyright. Rechtsgeschichtlich setzt sich dieses Modell zunächst in Großbritannien, dann auch in den Vereinigten Staaten, Frankreich und Deutschland durch.[11] Erst im 18. Jahrhundert ist damit das moderne Konzept von Autorschaft ausgebildet. Juristische, ökonomische und produktionsästhetische Vorstellungen sind hier zusammengeführt. Gerade am juristischen Modell läßt sich aber auch zeigen, daß die hier aufgelisteten Modelle nicht mehr als idealtypische Rekonstruktionen sein können. Ihre historisch konkreten Ausprägungen sind vielfältiger, ja oft widersprüchlicher, als es die heutige Theoriedebatte um den Autor erkennen läßt. So verlaufen in der Frühen Neuzeit die Herausbildung der Idee des geistigen Eigentums und ihre institutionelle Umsetzung nicht linear. Interesse an der juristischen Durchsetzung hatten zunächst die Stellen der Zensur, die begannen, Autoren und Verlagsnennungen vorzuschreiben,[12] und dabei, wie etwa die kursächsische Generalverordnung von 1686, eine Vorstellung vom geistigen Eigentum entwickelten. Das Urheberrecht ist daher keineswegs eine >bürgerliche< Erfindung, wie in der Theoriedebatte des öfteren behauptet wird. Das bestätigt auch ein Blick nach Frankreich. Hier stand die Auffassung der Revolutionäre quer zu der des Ancien Régime, das dem Autor ein privilegiertes Verfügungsrecht über seinen Text eingeräumt hatte, so daß die Publikation anonymer, pseudonymer und clandestiner Literatur ihren Höhepunkt unter dem Ancien Régime erlebte.[13] Zwischen 1789 und 1793 wurde dagegen intensiv darüber gestritten, ob dieses Privileg überhaupt beim individuellen Autor verbleiben sollte, da sein Werk doch Besitz der neu entstandenen Öffentlichkeit sein müsse. Das Revolutionsgesetz von 1793 folgt dieser antiabsolutistischen Rechtsauffassung und bestreitet dem Autor sein individuelles Verfügungsrecht. Damit war, wie Carla Hesse aufgezeigt hat, im Anfang der modernen rechtlichen Bestimmung des Autors ein ungeklärter Widerspruch angelegt:
Die Entwicklung in Frankreich macht dabei nur besonders augenfällig, was sich auch in anderen Ländern wie Deutschland, England und den Vereinigten Staaten beobachten läßt:[15] Bis heute gilt in diesen Ländern die rechtliche Regelung, daß das Werk eines Autors nach einer definierten Frist wieder der Allgemeinheit zufällt. Diese Rechtsauffassung ist nur vor dem Hintergrund der widersprüchlichen Entwicklung des modernen Autors begreifbar. Was hier an Widersprüchen für das juristische Modell angedeutet ist, ließe sich auch für die anderen Modelle aufzeigen.[16] Die Gleichzeitigkeit konkurrierender Modelle des Autors hat in der Folgezeit die entstehenden Literaturwissenschaften nachhaltig geprägt. Als sich im 19. Jahrhundert die Philologien als eigenständige akademische Disziplinen auszubilden begannen, war der individuelle Autor mit seiner spezifischen Biographie, seinen Intentionen und seinen Eigentumsrechten nur ein Bezugspunkt unter mehreren im Umgang mit literarischen Texten. Der Autor im engen, das heißt vor allem biographischen Sinn ist kaum jemals die vorherrschende Verstehensnorm für wissenschaftliches Textverstehen gewesen. Ein Fach wie die Germanistik hat vielmehr aus seinen Gegenständen die Dichterbiographik als Genre der populären Literatur ausgegliedert. Bestimmend für die Konsolidierung der Germanistik des 19. Jahrhunderts wurden dagegen Theoreme, die unter Stichworten wie »Liedertheorie« oder »homerische Frage« im sogenannten »Nibelungenstreit« ihre Filiation zu romantischen Ideen kollektiver Autorschaft kaum verbergen können.[17] Schon 1794 hatte Friedrich August Wolf in seinen Prolegomena ad Homerum die These entwickelt, daß sich die Odyssee und die Ilias »nicht eigentlich dem Dichtergenie des Mannes, dem wir sie gewöhnlich zuschreiben, sondern vielmehr der Kunstfertigkeit eines gebildeten Zeitalters und den vereinten Bemühungen vieler verdanken«.[18] Mehr als hundert Jahre später schrieb Heinrich Wölfflin in seinem einflußreichen Buch Kunstgeschichtliche Grundbegriffe: »neben den persönlichen Stil tritt der Stil der Schule, des Landes, der Rasse«.[19] 1931 bestimmte der Phänomenologe Roman Ingarden das literarische Kunstwerk in entschiedener Absetzung von einem biographischen Begriff des Autors: »Vor allem bleibt vollkommen außerhalb des literarischen Werkes der Autor selbst samt allen seinen Schicksalen, Erlebnissen und psychischen Zuständen«.[20] Es sei die Sprache, die spreche, nicht der Autor, heißt es 1950 in Martin Heideggers vielzitiertem Aufsatz Die Sprache.[21] Belegstellen dieser und ähnlicher Art lassen sich leicht vermehren, man denke nur an die Stilgeschichte, Kunst- oder Literatursoziologie.[22] Gibt es also in der
Fachgeschichte der literaturwissenschaftlichen Disziplinen einerseits eine
gut etablierte Tradition der Autorkritik, so gibt es andererseits auch
eine Reihe von autorzentrierten Konzepten. Carl Lachmanns Anspruch, die
Textwerkstatt eines Autor rekonstruieren zu wollen,[23]
Wilhelm Diltheys Begriff des Erlebnisses,[24]
Friedrich Gundolfs Heroenbiographien,[25]
bestimmte Ansätze der Kunst- und Literaturpsychologie,[26]
sie wären hier zu nennen. Neuere Zugänge wie etwa Gender studies oder
Cultural studies setzen ebenfalls vielfach ein Wissen über den Autor
voraus - welchen Geschlechts er oder sie ist, welcher Herkunft - und handhaben
den Autor entsprechend offensiv als Wertungsinstanz. Das alles spricht
dafür, daß sich das Problem des Autors keineswegs so teleologisch einsinnig
entwickelt hat, wie es etwa Foucaults Rede behauptet hat. Die Geschichte
des Autors ist nicht die von einer ungeregelten Autorschaft zu einer disziplinierten,
von einer autorunabhängigen zu einer autorzentrierten Konzeption. Zutreffender
dürfte eine Beschreibung erst dann sein, wenn sie berücksichtigt, daß
es ein Set von Möglichkeiten der Konzeptionierung des Autors gibt, aus
denen unter verschiedenen Bedingungen einzelne prämiert werden, ohne daß
damit konfligierende Konzepte immer ganz ausgeschlossen wären.
Zu Abschnitt 2: Kritiken des Autors
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[1]
Roland Barthes: La mort de l'auteur [1968]. Wiederabgedruckt in R. B.:
Oeuvres complètes. Tome II: 1966-1973. Paris: Seuil 1994, S. 491-495;
Julia Kristeva: Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman [1967], unter
dem Titel Le mot, le dialogue et le roman
wiederabgedruckt in J.
K.: Semiotiké. Recherches pour une sémanalyse. Paris: Seuil 1978, S.
82-112; Michel Foucault: Qu'est-ce qu'un auteur? (1969), mit späteren
Varianten und Ergänzungen wiederabgedruckt in M. F.: Dits et écrits 1954-1988.
Tome I: 1954-1969. Paris: Gallimard 1994, S. 789-821.
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