IASL Diskussionsforum online Roberto SimanowskiEinige Vorschläge und Fragen |
Kombinatorik |
Bsp.: Zeit für die Bombe als klassischer Hypertext, aber auch Die Aaleskorte, der Assoziations-Blaster und das Mitschreibprojekt Snowfields, das die zugelieferten Texte durch Kombination verfremdet |
Interaktivität |
offline: reaktive
Form, zwischen Mensch und Maschine / Programm, im Werk
vorprogrammiert, nicht netzgebunden (gleichwohl im Netz
anzutreffen) Bsp.: Die
Aaleskorte, Auers Kill the poem
|
Intermedialität |
mediale Grenzüberschreitungen und Interdependenzen, Bsp.: Digital Troja, Trost der Bilder, Grammatron |
Inszenierung |
dem Werk bzw. Werkteilen sind durch konditionale Programmierung Aspekte der Aufführung eingeschrieben; die werkinhärente Performance bestimmt den Rezeptionsprozess des Lesers (im Gegensatz zur freien Navigation, bei der der Rezeptionsprozess des Lesers den Auftritt des Werkes bestimmt), Bsp.: Das Epos der Maschine, 23:40 sowie der Anfang von Zeit für die Bombe, Hegirascope und Grammatron |
Diese Merkmale wären zu diskutieren, zu vervollständigen oder zu verwerfen. Binnendifferenzierungen sind notwendig (nicht nur im weiten Feld der Kombinatorik), Querverbindungen sind zu analysieren (Inszenierungsapekte verbinden sich z.B. oft mit Interaktivitätsaufforderungen, so offline im "Epos der Maschine" und online in "23:40"), Abgrenzungen sind zu betonen (Kombinatorik ist per se immer auch interaktiv, rechtfertigt durch den spezifischen Fokus aber eine eigene Gruppe).
Die hier vorgeschlagene Definition läuft auf eine Merkmalsalternativität auf der Grundlage eines unabdingbaren Merkmals hinaus und lautet:
Digitale Literatur sind künstlerische Ausdrucksformen, die der digitalen Medien als Existenzgrundlage bedürfen, weil sie sich durch mindestens eines der oben angeführten Merkmale auszeichnen.
Indem digitale Literatur auf diese Weise bestimmt wird, steht man bereits vor einem weiteren Problem: Inwiefern kann angesichts der Intermedialität Literatur überhaupt als Bezugsbegriff aufrechterhalten werden?
Wenn Richard Ziegfeld 1989 in seinem einschlägigen Aufsatz Interactive Fiction: A New Literary Genre? (New Literary History. A Journal of Theory and Interpretation, 20/2) den Literaturbegriff noch mit dem Hinweis auf die Proportionalität des Wortes gegenüber der des Images begründen kann, so ist die Frage inzwischen, da Interaktivität zunehmend in Verbindung mit Intermedialität stattfindet, neu zu diskutieren. Kann die Begriffsbestimmung noch medienintern erfolgen, wenn der Gegenstand sich längst transmedial verhält? Die Entwicklung der Technologie drängt hier zunehmend auf eine Begriffsbildung, die diesem Umstand entspricht. Unklar ist, ob der adäquate Begriff durch Neubildung oder Ausdifferenzierung gefunden werden soll.
Ein aussichtsreicher Kandidat könnte der Terminus Netzkunst sein, dessen sich ja auch dieses Forum bedient. Aber selbst dieser Begriff ist nicht unproblematisch, da durch die Assoziation "bildende Kunst" die Textkomponente nach ihrer vielleicht nicht mehr gerechtfertigten Akzentuierung nun wiederum ungerechtfertigterweise unterdrückt wird. Der Begriff Kunst eignet sich nur dann, wenn er durch einen geschichtlichen Gang zurück vor die Ausdifferenzierung der Künste wieder jene terminologische Gemeinschaftlichkeit der Kunstgattungen herstellt, die er noch in Sulzers "Theorie der Schönen Künste" (1784) hatte und die die Entdifferenzierung in den digitalen Medien nun erneut nahelegt. Diese Frage verlangt ebenso eine gesonderte Diskussion wie die in dem Statement von Randi Gunzenhäuser anklingende nach dem Zusammenhang von Text / Kunst und Spiel (zur Bedeutung der Adventure-Games für Hyperfiction vgl. z.B. Susana Pajares Toscas Beitrag Playing the Plot in "dichtung-digital").
Eine oft gehörte Kennzeichnung digitaler Literatur ist die vom Verschwinden des Autors und von der Autorschaft des Lesers. Diese von der notwendigen Navigationsarbeit des Lesers ausgehende Übertreibung beruht auf dem Theoriehintergrund der Gründerjahre digitaler Literatur (George P. Landow, Nestor des amerikanischen Hyperfiction-Debatte, pointiert 1992 in seinem Hypertext. The Convergence of Contemporary Critical Theory and Technology: "contemporary theory proposes and hypertext disposes"). Auer nennt das Konzept vom Wreader also völlig zu recht Ideologie, so wie Reinhard Döhl der in seinem Statement für den Leser die passende Formulierung "gesteuerter Navigator" findet völlig zu recht darauf verweist, dass der Autor im Netz keineswegs verschwunden ist. Er ist, wenn man so will, sogar mächtiger geworden, insofern er durch das Setzen bzw. Nichtsetzen von Links nun auch noch die vom Leser realisierten Assoziationen bzw. Intertextualitäten (zumindest auf der Oberfläche) regiert.
Ein weiterer Aspekt in diesem Zusammenhang wird in den Eingangsthesen dieses Forums angedeutet:
Der ermächtigte Leser scheint keineswegs willens, die Arbeit des Autors zu übernehmen.Diese Beobachtung korresponsiert mit dem oft beklagten mangelnden Erfolg der Hyperfiction, der wiederum zum Großteil eben darauf zurückzuführen ist, dass man einem Autor misstraut, der kein klar konzipiertes Kommunikationsangebot macht, sondern dem Leser die Organisation des Ganzen überlässt. Wenn Ruth Nestvold 1996 noch vermutet: "Eine Autorin, die die Reaktionen ihrer Leser möglichst präzise kontrollieren will, wird sich dem Medium Hypertext nicht zuwenden" (Das Ende des Buches. Hypertext und seine Auswirkungen auf die Literatur, in: Klepper / Mayer / Schneck [Hgg.], Hyperkultur. Zur Fiction des Computerzeitalters, Berlin, New York), so räumt man inzwischen ein, dass gerade Hypertext einen starken Autor braucht, der die komplizierteren Strukturen überblickt und in Voraussicht und Kontrolle der Leserreaktion die Textteile sinnvoll anzuordnen vermag (ausgenommen die Mitschreibprojekte, die aber wiederum ein starkes Konzept bzw. einen starken Projektleiter benötigen).
Abgesehen davon bleibt die Autorinstanz natürlich intakt bei Werken, die sich v.a. durch Intermedialität und Inszenierung ausweisen, und in diesen Fällen gilt zumeist auch weiterhin der traditionelle Werkbegriff. Eine Veränderung der Autorrolle liegt allerdings trotzdem vor, und zwar sowohl in Richtung Kooperation wie in Richtung Wreader. Zur Kooperation kommt es durch die Intermedialität der digitalen Medien und dadurch, dass in diesen Medien auf der Grundebene mit Strom geschrieben wird. Ersteres führt wegen der notwendigen multimedialen Kompetenz zur Zusammenarbeit verschiedener Spezialisten (des Wortes, des Bildes, des Tones usw.). Zweiteres führt zur Zusammenarbeit zwischen diesen Spezialisten und dem Programmierer bzw. Data-Designer (der, als Screen-Designer, auch zur ersten Gruppe gezählt werden kann).
Die diesbezüglichen Einstellungen liegen naturgemäß weit auseinander. Während die einen aus gebotenem Pragmatismus arbeitsteilig vorgehen (beide Preisträger des Pegasus 98 z.B. sind als Zwei-Mann-Kooperationen ausgewiesen), haben andere den Ehrgeiz, die benutzte Sprache in all ihren Facetten selbst zu beherrschen: so etwa Susanne Berkenheger, die aus der sicheren Kenntnis von JavaScript heraus ihr Projekt Hilfe inszeniert, und so Fevci Konuk, der seine ästhetisch wie technisch recht avancierten Werke (Digital Troja, Brainwash) völlig allein produziert, auf diese ">Dichte< in der Arbeit" auch großen Wert legt und Teamworks als unzulässige Kompromisse ablehnt (im Sinne einer Modifikation des Wittgensteinschen Sprechverbots).
Der Fakt, dass alles Erscheinende in den digitalen Medien seine Basis im Technischen hat, macht gewissermaßen in einer Umkehrung des herkömmlichen Wreader-Begriffs (Leser als Autor) den Autor zum Leser. Espen Aarseth hat auf den Umstand hingewiesen, dass der Autor digitaler Literatur zunächst Leser der Programme ist, die er für seine Zwecke verwendet. Digitale Texte sind somit vertikale Produkte verschiedener Userebenen mit unterschiedlichen Nutzungspositionen, sie sind, wie Aarseth resümiert:
seldom the work of a single individual and are often comparable to a rule-based, premodern poetics, where the poet creates within a framework of clearly definded elements and constrains laid down by others. (Cyberspace)Es gibt also nicht nur die Autorschaft des Lesers und die des erstarkten Autors, sondern auch und in erster Linie die des Systementwicklers. Die Konsequenzen dieser Sachlage verführen zu der Pointe, dass der alte Streit zwischen Dichter und Ingenieur zugunsten des letzteren entschieden wurde.
Der Mythos vom aktiven Leser ist trotzdem ernst zu nehmen. Sieht sich der Leser auch nicht unbedingt als Autor, so erwartet er doch, durch ermöglichte oder abgeforderte Inputs ("Clickactivity") das Gefühl der Beteiligung vermittelt zu bekommen. Ein ablaufender Film wie Robert Kendalls Fortschreibung der visuellen Poesie im Reich des Digitalen, Clue, befremdet in diesem Medium, weil der Leser sich wieder zum Fernsehzuschauer degradiert sieht. Man will mindestens selbst das Werk erkunden. Das zugrundeliegende Bedürfnis des Beteiligtseins führt zur Frage der ästhetischen Tendenz digitaler Literatur.
Reinhard Döhl erinnert angesichts vorgebrachter Enttäuschungen über die Werke digitaler Literatur daran, dass sich das Internet noch im status nascendi befinde. Wer in Großperspektiven denkt die dem mit Multilinearität, Kollaboration und Intermedialität verbundenen Paradigmenwechsel des ästhetischen Ausdrucks ja durchaus angemessen sind folgt sicher gern der Beschwichtigung. Allerdings sollte man nicht den Eindruck erwecken, als habe die Sache erst gestern das Licht der Welt erblickt. Es gibt inzwischen eine Tradition, und es gibt sogar schon Abgesänge, und zwar nicht nur von denen, die noch nie im Internet waren. Robert Coover, der einst mit seinem euphorischen Essay "The End of Books" (1992) dem exotischen Thema Hypertext das Publikum der "New York Times Books Review" verschaffte, meint nun, Anfang 2000, die große Zeit der Hyperfiction sei vorbei. In seinem Essay Literary Hypertext: The Passing of the Golden Age beklagt er die Multimedialisierung des Webs als Rückkehr zur Linearität und zum Film, "that most passive and imperious of forms", und notiert einen "constant threat of hypermedia: to suck the substance out of a work of lettered art, reduce it to surface spectacle."
Andere, wie Ryan und sicher auch Daiber, lehnen diesen Pessimismus ab und argumentieren zum einen mit dem Wert der Immersion, zum anderen damit, dass auch ein unidirektionaler Mediengebrauch keineswegs Passivität per se bedeutet. Und doch: Die Furcht vor dem Spektakel ist nicht unbegründet. Sie ist zwar nicht neu man denke an Postman, man denke an Jochen Schulte-Sasses Rede von der "Dramaturgie des Spektakels" angesichts der Verdrängung der Schriftkultur durch die elektronische Kultur (in: Gumbrecht / Pfeiffer, Materialität der Kommunikation, 1988) , aber mit der zunehmenden Leistungsfähigkeit des Netzes und der heimischen Computer erfährt diese Entwicklung einen weiteren Schub.
Mit der Durchsetzung von Flash wird das "Klickibunti", von dem Beat Suter in seinem Statement spricht, überdies eine neue Qualität erreichen. Das ästhetische Ereignis wird sich weiter des Sinns entledigen bzw. in der Ästhetisierung des Banalen und des Kommerziellen bestehen. Lumicon gibt einen Vorgeschmack auf ersteres, die Flash-Site von Ford ein Beispiel für letzteres, zu dem Fevci Konuks künstlerisches Flash-Projekt Brainwash eine kritische Auseinandersetzung darstellt (vgl. die Sammlung von Flash-Ästhetik als Vorausblick auf das Kommende). Die Auskunft eines Flash-Projekts, das Internet sei mehr als eine gewaltige Informationsquelle, nämlich eine völlig neue Qualität der Präsentation, zielt auf eben diese sich abzeichnende Akzentuierung des Äußerlichen. Was zu erwarten ist, ist eine Ästhetik des Events mit einem doppelten Akzent auf Animation: Rezipiertes und Rezipient, animierte Bilder / Worte und animierte Leser.
Animation ist fester Bestandteil der Philosophie des Events: Das Publikum muss >angewärmt< und einbezogen werden, es muss das Gefühl haben, eine Rolle zu spielen. Digitale Ästhetik unterstützt schon durch das Merkmal der Interaktivität genau dieses Gefühl des spürbaren Beteiligtseins. Selbst medienkritische Projekte wie der Shredder oder der Discoder stehen durch ihre Zertrümmerung der Schrift (vgl. dazu Christiane Heibachs Artikel über Texttransformation in "dichtung-digital") dem Event verdächtig nahe. Die Entsemantisierung der Schrift erfolgt hier in kritischer Absicht, gleichwohl vollzieht sie sich im Modus des Spektakels. Auch die Technologie des Hypertextes steht ja im Grunde dem Spektakel nahe, wobei das Klick-Yourself-Modell oft für den Mangel an tieferer Bedeutung des formalen Settings entschädigen muss. Die Übertreibung des Klick-Gefühls findet man im erfolgreichen Assoziations-Blaster eine Parodie zwar auf sich selbst, trotzdem aber funktionstüchtig als weitgehend sinnenthobene >Association der Beteiligten< (vgl. die Besprechung in "dichtung-digital"). Dass das Mitmachen für den Mangel an Qualität entschädigen kann, bestätigt Marie-Laure Ryan, wenn sie im Hinblick auf interaktive Geschichten im Netz schreibt:
From the point of view of a participant a plot that would not be very interesting for a pure spectator may become fascinating - just as playing a tennis game not worthy of televising may be a richly rewarding experience for the player. (Interview in "dichtung-digital").
Tritt so die vorausgreifende Vermutung das Spielen, das Mitspielen, das Aktiv-Sein also an die Stelle von Qualität und Sinn? Kommt digitale Literatur erst in
der Dramaturgie des Spektakel wirklich zu sich selbst? (Sie basierte
ja von Anfang an auf der Verführung des technischen Effekts).
Schulte-Sasse hielt fest: "Die Dramaturgie des Spektakels benutzt und
vertraut kaum noch der Sprache, um ihre Ziele zu erreichen." Muss man
also eine kritische Ästhetik des digitalen Bildes fordern?
Sollte man eine Phänomenologie des digitalen Kitsches erarbeiten?
Es bleibt die Frage, ob sich das Medium
tatsächlich noch im Geburtsstadium befindet oder ob es nicht
schon bei Begräbnissen angekommen ist. Im Grunde vollzieht es
beides zugleich in einer von keinem anderen Medium bisher bekannten
Geschwindigkeit. Zur Diskussion stehen Fragen genug: Was wurde auf
dieser Reise bereits verworfen? Was hat warum nicht funktioniert? Was
hat Zukunft? Was, schließlich, soll man wünschen?
Dr. Roberto Simanowski
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Ins Netz gestellt am 03.07.2000.
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