Netzkunst
Künstlerische Gestaltungsmöglichkeiten
von Hyperfiction und Hypermedia
Am 27. und 28.5.2000 fanden im Rahmen des Fachkongresses "Schrift und Bild in Bewegung" drei Rundgespräch zum Thema "Elektronisches Publizieren" am Institut für Deutsche Philologie der Universität München statt. Diskutiert wurden die aktuellen Entwicklungen in der wissenschaftlichen Kommunikation und in den künstlerischen Ausdrucksmitteln, die durch Digitalisierung und das Netz ermöglicht werden.
Das 3. Rundgespräch hatte die künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten
von Hyperfiction und Hypermedia zum Thema. Vorgegeben waren als Fragen: Sind die Postulate der Avantgarden und der Konkreten Poesie auf dem Netz Realität geworden? Ist Hyperfiction mehr als ein Kunstprodukt, gibt es Leser? Setzt sich Multimediakunst als Hypermedia fort? Spiel und Unterhaltung in Hypermedia: das Freizeit-Medium der Zukunft?
Teilnehmer: Johannes Auer, Prof. Dr. Michael Boehler, Dr. Jürgen Daiber (verhindert), Prof. Dr. Reinhard Doehl, Dr. Randi Gunzenhäuser und Dr. Beat Suter. Leitung der Rundgespräche: Prof. Dr. Georg Jäger, Dr. Fotis Jannidis. Organisation und Leitung des Fachkongresses "Schrift und Bild in Bewegung": Prof. Dr. Bernd Scheffer, Dr. Oliver Jahraus.
Zur Weiterführung der Diskussion stellen wir die Thesen der Veranstalter sowie die Statements der Teilnehmer ins Netz.
Thesen:
Avantgarde als Nachzügler der Kulturindustrie?
Der künstlerische Hypertext galt in den ersten Jahren seiner Existenz als Realisierung und damit als Bestätigung der Annahmen fortschrittlicher Texttheorien. In der Interaktivität und Nichtlinearität des neuen Mediums verschwand angeblich der Autor. Und der Leser wurde ermächtigt, seine Sinnstrukturen im Text zu finden oder klickend und surfend zu generieren.
Heute wird zunehmend deutlicher, daß die Avantgarde lediglich den Rückzug der Theorie aus der Realität gedeckt hat. Textbasierte Hyperfictions locken mehr Autoren als Leser an. Der ermächtigte Leser scheint keineswegs willens, die Arbeit des Autors zu übernehmen.
Die eigentlich neue Kunstform aber ist das Computerspiel, das wie alle publikumswirksamen Kunstformen teamproduziert, kapitalintensiv und aus dem Blick des bildungsbürgerlichen Wertekanons minderwertig ist.
Das prägende Modell für Computerspiele in den letzten 10 Jahren ist nicht das Buch, sondern der Film gewesen. Adventure-Spiele, Strategie-Spiele, Simulationen oder Rollenspiele wurden zu >Klassikern< ihrer Genres und haben ein breites Publikum aus allen Bevölkerungsschichten. Die Geltung der Namen von Spieledesignern wie Ron Gilbert, John Romero oder Peter Molyneux beweist, daß diese nun 30 Jahre alte Kunstform sehr wohl ihre Autorhelden kennt.
Die Aufholjagd der Intellektuellen, die neue Kunstform zu verstehen und zu adaptieren, hat eben erst begonnen. Avantgarde als Arrièregarde?
Johannes Auer
7 Thesen zur Netzliteratur
Lassen sie mich statt eines Statements
7 Thesen vortragen. Sieben, weil das eine übliche, eingeführte
und magische Zahl ist die 7 Geislein und 7 Tage.
Ich beschäftige mich seit 1996
theoretisch und praktisch mit Netzliteratur, Hyperfiction und Hypermedia.
Meine Thesen waren und sind (also) auch Arbeitshypothesen. Ergebnisorientiert
werde ich zu jeder These ein richtig oder falsch ausgeben oder in Programmiersprache
ausgedrückt ein true or false. Zwischentöne, das Unentscheidbare
findet sich im Unpräzisen und Ungefähren, das durch Widersprüche
entsteht.
These 1
Im Internet ist jeder Leser gleichzeitig
Autor, da er über die Links, die er anklickt, die Textgestalt bestimmt,
oder anders ausgedrückt: er collagiert oder kombiniert beim Lesen
seinen Text, stellt sich beim Lesen seinen Text her.
Diese These ist falsch, da das Konzept
des Wreaders (also des Lesers = reader, der gleichzeitig Autor = writer
ist), nur als Ideologie funktioniert. Denn (und ich beziehe mich hier auf
Überlegungen von
Uwe Wirth) genau in dem Maße, in dem Hypertexte auf eine Struktur,
bzw. auf eine interne Kohärenz verzichten (die von einem Autor / Autorenkollektiv
vorbedacht ist), um sich ganz den Entscheidungen des Lesers zu öffnen,
werden sie inhalts- und sinnlos. D.h. in einem fiktionalen Text muß
die Entscheidungsmöglichkeit des Lesers immer durch die Regisseure
oder Autoren beschränkt werden.
These 2
Dennoch ist das traditionelle Konzept
des Autors, der ein "Werk" erschafft, allein durch die technischen Bedingungen und medialen Möglichkeiten des Internets in Frage gestellt. Die Tendenz zum Dialog der Künste und Künstler im 20 Jahrhundert, die Reinhard
Döhl konstatiert, findet im Internet ihre konsequente Fortführung.
Diese These ist richtig. Als Konsequenz
eines multimedialen Mediums, das sehr gute Computer- und im Idealfall Programmierkenntnisse voraussetzt, könnte zwar letztlich der "uomo
universale", das technisch versierte filmende, malende, schreibende Universal-
und Orginalgenie stehen, ein nun wirklich überholtes Konzept oder:
es entstehen Kooperationen zwischen Programmierern, Schriftstellern und
Künstlern kurz: kollaborative Kunstwerke.
These 3
Der Hyperlink ist das A und O der
Netzliteratur.
Diese These ist falsch. Der Link ist
zwar aktuell das strukturelle und ästhetisches Mittel zur Gestaltung
von fiktionalen Texten im Internet. Künftig sind aber auch andere
Möglichkeiten denkbar. Die Computer-Maus, die wie ein Wahrheitsdetektor
emotionale Zustände des Benutzers erkennen kann, ist schon in Arbeit.
Akustisch oder optisch gesteuerte Interfaces ebenfalls. Wenn also Interaktivität
ein Grundmerkmal der neuen medialen Kunstform ist, so findet diese Interaktivität ihre Beschränkung vor allem im Interface. Kommt die Emo-Maus, sind beispielsweise fiktionale Texte denkbar, die auf die emotionalen Zustände des Lesers reagieren.
These 4
Netzliteratur darf nur im Netz möglich,
also nicht verlustfrei auf einem lokalen Datenträger speicherbar sein.
Diese These ist falsch. Üblicherweise
wird unterschieden zwischen elektronischem Text, digitalem Text und Netzliteratur.
Dabei wäre das Merkmal des elektronischen Textes, dass er das Internet
nur als neue Distributionsform nutzt, im übrigen traditioneller, druckbarer
Fließtext bleibt. Digitaler Text wäre Literatur, die den Computer
genuin ästhetisch nutzt, allerdings auf lokale Datenträger speicherbar
ist (wie beispielsweise die ganze amerikanische Hyperfiction um Michael
Joyce). Wahre Netzliteratur wäre gekennzeichnet durch das Computernetz
als ästhetische Bedingung und einzige Existenzmöglichkeit.
Letzteres ist mir zu puristisch. Ich
denke auch digitale Literatur kann Netzliteratur sein. Entweder dadurch,
dass sie z.B. Möglichkeiten von Browsersoftware ästhetisch nutzt,
also von Komponenten der Bildschirmoberfläche, durch die sich in der
Regel das Internet für uns visualisiert (ich denke hier an Susanne
Berkenhegers Hilfe! oder Olia Lialinas My
Boyfriend came back from the war).
Oder wenn sie auch dann wird für
mich digitale Literatur zu Netzliteratur beispielsweise während
des Entstehungsprozesses zu den Bedingungen des Internets kommuniziert,
etwa per E-mail kollaborativ erarbeitet wurde oder, als "work in progress"
in einer Mailingliste oder auf einer Webpage veröffentlicht, sich
der Diskussion stellt. Last but not least kann auch durch den Rezeptionsprozess
digitale Literatur zu Netzliteratur werden.
These 5
Das, was wir als ästhetisches
Produkt auf dem Bildschirm zu sehen bekommen, hat, wenn es Netzkunst ist,
zwei weitere Ebenen, eine technische (Programmierung) und eine soziale
(Interaktion der Nutzer).
Das ist absolut richtig, stammt als
These von Reinhold Grether, der diese drei Ebenen Desk, Tech, Soz genannt
hat. Dabei können diese Ebenen jeweils ein verschiedenes Gewicht bekommen.
Der letztweihnachtliche etoy / etoys-Konflikt,
bei dem eine Internetfirma gegen eine Künstlergruppe vorzugehen versuchte
und durch den "Toywar", einer Straf-Performance der Netz-Community, die Hälfte ihres milliardenschweren Börsenwertes einbüßte, dieser
"Toywar" gerade beim Prix Ars Electronica mit einer lobenden Erwähnung ausgezeichnet hat aufs eindrucksvollste die Bedeutung
der Soz-Ebene bestätigt. Dass Reinhold
Grether diesen Toywar im Rückgriff
auf Beuys als soziale Plastik bezeichnete, führt
weiter zur nächsten These.
These 6
Internetkunst reaktiviert alte Avantgardekonzepte.
Erstaunlich aber wahr. Ein gutes, altes
Avantgardekonzept ist die Selbstreferentialität. Also die Untersuchung
der Mittel der Kunstproduktion und ihre Reflexion. So rückte im Impressionismus
die Farbe ins Zentrum der künstlerischen Auseinandersetzung, der Kubismus
thematisierte die Bildoberfläche oder Nam June Paik untersuchte alles,
was man mit dem Videomonitor nicht machen sollte etc. ...
Im Netz visualisiert Lisa
Jevbrett mit großem Programmieraufwand die technischen Infrastruktur
des Internets. Netzkunstduo Jodi
wurde von seinem Provider vor die Tür gesetzt, weil es mit einem Javascript
die Surfsoftware der virtuellen Besucher zum Tanzen brachte. Es gibt als
Kunstprojekt einen Webshredder,
der auf Wunsch jede wohlgeordnete Website durch den virtuellen Fleischwolf
dreht, oder den Assoziationsblaster,
Gewinner beim letztjährigen Ettlinger Literaturwettbewerb, der sich
durch "Materialprüfung" auszeichnet, wie Tilmann
Baumgärtel das ironisch nennt. Beim "Assoziationblaster" wird
die assoziative Verknüpfung des Hyperlinks zum Thema.
These 7
Netzliteratur ist lesbar.
Ja natürlich! Allerdings unter
der Voraussetzung, dass mit dem genuinen Material des Netzes gearbeitet
wird als Ausdrucksmittel für Inhalte. Selbstreferentielle Ironiespiele
(Beispiel: der Assoziationsblaster)
erschöpfen sich meines Erachtens ebenso schnell, wie bloße Illustrierungen
von postmoderner Theorie.
Kurz: die Notwendigkeit der Kongruenz
von Inhalt und Form gilt auch im Internet. Und als gutes Beispiele für
eine so gewonnene Lesbarkeit möchte ich abschließend nochmals
auf Susanne Berkenhegers Projekt Hilfe!
verweisen, das gerade durch die Kongruenz von Inhalt und Form überzeugt.
Michael
Charlier hat in seiner Laudatio zum Ettlinger Literaturwettbewerb sehr
richtig hervorgehoben, dass der Bildschirm der Lebensraum von Hilfe!
ist und dass die Windows und Rahmen vor unseren Augen zu Personen werden,
die miteinander reden und jeweils ihre eigene Geschichte erzählen.
Michael Böhler
Stichworte zu den Ausgangsthesen des Rundgesprächs
These I
In Anlehnung an Lichtenbergs Aphorismus, wonach die Begriffe immer wieder überprüft werden müssen, weil die Sachen sich ändern und die Wörter stehenbleiben,
sollten im Umgang mit den neuen Netzkunstformen von Hypertext und Hyperfiction
jeweils auch die Begriffskategorien, mit denen sie beschrieben werden, einer
Überprüfung auf ihre Angemessenheit und Tragfähigkeit unterzogen werden.
Dies gilt vor allem für jene beliebten binären Oppositionsbegriffe wie z.B. >linear< / >nicht-linear<, mit denen das Neue der literarischen Netzkunst vom Alten der bisherigen Literatur als etwas ganz Anderes abzugrenzen versucht wird. Dazu weitere Thesen:
These II
Kultursoziologisch betrachtet ist die Einordnung von Hyperfiction in das Musterschema >Avantgarde< / >Arrièregarde< ein problematisches Verfahren. Denn dadurch werden die neuen Produkte in ein vorhandenes Ensemble von Literatur und in den sozialen Raum eines bestehenden literarischen Feldes eingereiht, aus deren Warte sich dann ihre relative Position zum Gegebenen und im Gegebenen bestimmen soll.
Indessen zeigt sich möglicherweise gerade an den literarischen Formen der
Internetliteratur und der Hyperfiction besonders deutlich jene
Entwicklungstendenz der "kulturellen Segmentierung" und der
"Entvertikalisierung der Alltagsästhetik", 1 die Gerhard Schulze in seiner Kultursoziologie der Gegenwart diagnostiziert hat der Tatbestand nämlich, dass
die Gegenwartskultur in unterschiedlichste Kulturmilieus zerfällt, die nicht
nur nicht mehr hierarchisch aufeinander bezogen werden können und deren
Produktionen damit auch nicht mehr in ihrem Verhältnis zu andern
Kulturprodukten als mehr oder weniger neu bzw. avanciert beurteilbar sind,
sondern die weitgehend losgelöst voneinander ihre je eigenen kontingenten
Ästhetiken und Geschmackskulturen pflegen und entwickeln. 2
Das heisst dann aber auch, dass eine neue, avantgardistische Kunstpraxis nicht mehr notwendigerweise in ein bestehendes Kulturmilieu integriert wird als deren >Neues<, sondern dass sie ein neues Kulturmilieu bildet. Trifft dies zu, so wäre Internetliteratur als Literaturpraxis und Kulturmilieu sui generis zu betrachten und nicht als Fortschreibung eines Alten mit neuen Mitteln.
These III
Strukturell wichtigste Merkmale des Kultur- und Literaturmilieus der
Internet-Literatur und der Netzkunst sind ihre
- >Transversalität< und
- >Transfugalität<.
Als >transversal< hat Wolfgang Welsch in seiner Philosophie der
zeitgenössischen Vernunftkritik zwar allgemeine Denk- und Gestaltungsformen der
Gegenwartsgesellschaft bezeichnet, die nun freilich im Kontext von
Internetliteratur und Hyperfictions nicht mehr bloss metaphorisch zu verstehen
sind, sondern geradezu strukturbildenden Charakter haben, nämlich: "Denkformen
des Gewebes, der Verflechtung, der Verkreuzung, der Vernetzung" statt der
"alten Denkweisen sauberer Trennung und unilinearer Analyse". 3
Und was Welsch in der Sphäre der Kunst als ansatzweise Tendenzen dieser neuen Denkformen ausmacht, das gilt wortwörtlich und konstitutiv für die Internetliteratur als literarisches Genre und kulturelle Praxis schlechthin: Eine "geradezu auffallende Bereitschaft, die neue Verfassung [des Denkens] zu erproben und ihr Ausdruck zu verleihen" sowie die "künstlerischen Gestaltungen [...] als Darstellungsexperimente von Pluralität und Transversalität", als "Hybridformen" aufzufassen; ferner die "Verkreuzung
unterschiedlicher Codes":
Diese bleiben dabei zwar im einzelnen klar erkennbar, aber keiner von ihnen trägt allein durch die Gesamtgestalt hindurch, so daß Übergängigkeit zwischen den Codes zur
Elementarverfassung der Gestaltung und zur Bedingung ihrer Rezeption wird.
Das Ganze besteht aus einer Mehrzahl möglicher Durchgänge und Übergänge. Das Geregelte, in Teilen auch Übergeregelte, an Gelenkstellen aber immer auch schon ein Stück weit Entregelte nimmt insgesamt Züge des Ungeregelten und Unfaßlichen an.
Polyregularität ohne Totalitätsregel so könnte man diese Struktur bezeichnen. 4
Mit dem zweiten Begriff, dem des >Transfugalen<, soll der
Tatbestand der transitorischen Flüchtigkeit umschrieben werden, der in
mehrfacher Hinsicht die neue Literaturform bestimmt:
Auf der Ebene des materialen Datenträgers hat die elektronische Basis der Texte in Form binärer Datenspeicherung und die generelle Unkontrollierbarkeit des Mediums Internet zur Folge, dass die einzelnen elektronischen Texte und Werke ebenfalls höchst flüchtigen Charakter annehmen. >Speichern< und >Löschen< bestimmen über Verfügbarkeit oder Verlust, über Präsenz oder Absenz der elektronisch gesicherten Daten, die den Text der elektronischen Werke konstituieren.
So sind denn viele der Texte, welche die ersten Gehversuche von Hyperfictions repräsentierten, schon jetzt wieder von den Server-Computern gelöscht, mithin aus dem Raum der Internetliteratur verschwunden und einer weitern Rezeption unwiderruflich entzogen. Die bereits getilgten Texte hinterlassen zwar im Netz meist Spuren, doch eine komplette Regenerierung erweist sich wenn die Texte nicht auf einem separaten Datenträger gespeichert wurden oft als nicht mehr möglich. So ist der Internetliteratur und den Hyperfictions der prekäre Status des Flüchtigen, einer steten Fluchtbewegung durch das Medium Internet hindurch eingeschrieben, das sie gleichsam nur temporär passieren; im Sinne von Gilles Deleuze und Claire Parnet liesse sich auch von einem steten Prozess der
>Deterritorialisierung<, der temporären >Reterritorialisierung< und erneuten >Deterritorialisierung< sprechen. 5
Aber nicht nur auf der materialen Ebene des Mediums gilt dieses Konstitutionsmoment des Transfugalen; es bestimmt auch die Modalitäten des Umgangs, der Produktion und der Rezeption, ebenso wie der Textstruktur: Ihnen allen ist die Bewegung der Durch-Flucht eingezeichnet.
These IV
Ästhetisch betrachtet ist Hyperfiction weniger eine neue literarische Textform als eine neue Lektüreweise und ein neues Text-Leser-Verhältnis. Darin wird der Ort des literarischen "Theaters" aus dem Gehirn-Innenraum mentaler Prozesse in den äussern Interaktionsraum sensorieller Wahrnehmungs- und haptischer
Selektionshandlungen verlagert. Aus der stillen Kontemplationslektüre wird die
bewegte Perfomance-Lektüre Hyperfiction: die Externalisierung des Imaginären.
So kann zum Beispiel die über unterschiedliche Typen von Verknüpfungen hergestellte Variations- und Permutationsstruktur eines Hypertexts neben ihrer unmittelbar fassbaren Funktion des Angebots verschiedener narrativer Parcours durch ein Handlungs- oder Ereignisgeschehen auch als externalisierte Bereitstellung eines mehrfachen Schriftsinns betrachtet werden, wie ihn der traditionelle Leser in der Textdeutung gemäss den hermeneutischen Grundregeln aus seinem kulturellen Repertoire innerlich abrief und durchspielte. Oder die häufig anzutreffende interaktive Spielform des Hypertexts bzw. seine Verschmelzung mit Adventure Games etc. externalisiert den hermeneutischen Prozess des Verstehens als Hin und Her eines Sinngebungsentwurfs und seiner laufenden Anpassungen bzw. Abwandlungen in der fortschreitenden Lektüre und "entmetaphorisiert" damit die Rede vom Spielcharakter des Verstehensprozesses im Sinne Gadamers und der Rezeptionsästhetik.
1 Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a.M.: Campus Verlag 1993, S.166f.
2 vgl.
dazu auch: Herrnstein Smith, Barbara: Contingencies of Value: Alternative
Perspectives for Critical Theory. Cambridge, Mass. & London: Harvard University Press 1988: "Since the relativist knows that the conjoined systems ... of which her general conceptual taste and specific conceptualization of the world are a contingent function are probably not altogether unique, she expects some other people to conceptualize the world in more or less the same ways she does ... She may have found it worth her while to seek out such fellow relativists, to promote conditions that encourage their emergence, and, where she has had the resources, to attempt to cultivate a few of them herself: >worth her while< because, since she cannot herself live any other way, she's glad for a bit of company." (184f.)
3 Welsch, Wolfgang: Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt a.M. 1996, S.774.
4 Ebd. S.775.
5 Deleuze, Gilles / Parnet, Claire: Dialogues. Paris 1977; dt.: Dialoge. Frankfurt a. Main 1980. Was hier im Kap. II als die Überlegenheit der anglo-amerikanischen Literatur gegenüber der
kontinental-europäischen beschrieben wird, kann strukturell tel quelle für
Internetliteratur und Hyperfictions in Anspruch genommen werden: "Die anglo-amerikanische Literatur ist eine fortwährende Darstellung dieser Brüche, dieser Figuren, die ihre Fluchtlinie und sich selbst kraft der Fluchtlinie erschaffen. [...] Da ist Abreise, Werden, Übergang, Sprung, Leidenschaft, Blick nach draußen. Sie schaffen eine neue Erde. Doch ist es gerade nicht ausgeschlossen, daß die Bewegung der Erde die Deterritorialisierung selbst ist. Die amerikanische
Literatur folgt geographischen Linien: die Flucht nach Westen, die Entdeckung,
daß der wahre Osten im Westen ist, das Gespür für Grenzen als für etwas, das
überschritten, zurückgedrängt, aufgehoben werden muß." (S. 45)
Meine Ausführungen kreisen im folgenden im wesentlichen um drei Fragestellungen:
Erstens: Inwieweit unterscheidet sich traditionelle Literatur, wie sie uns in Buchform vorliegt, im Hinblick auf den Darstellungs- und Rezeptionsmodus der Linearität von Hyperfiction-Literatur?
- Dieser Punkt ist weitgehendst erforscht. Hyperfiction verfügt gegenüber dem Buch über eine Größe, die man als informationellen Mehrwert bezeichnen könnte. Die Komponenten dieses Mehrwerts seien stichpunktartig aufgelistet: a) Multimedialität Die Möglichkeit unterschiedliche Text- Bild- und Tonmedien miteinander interagieren zu lassen. b) Hypertext: Die nicht-lineare Organisation und Präsentation dieser Informationseinheiten, was schlicht und ergreifend bedeutet, daß dem Leser beim Gang durch den Hypertext mehrere Pfade der Lektüre offenstehen. c) Interaktivität: Dies meint, daß der Rezepient im ursprünglichsten Sinne des Wortes als Vollender des Kunstwerks zu agieren vermag. Besagtes vollzieht sich über sogenannte offene links, also Verbindungen, die vom Rezipienten gefüllt werden können und als Notizen, Kommentare oder als Weiterführung des Textes in das vorgegebene Autorenprodukt integriert werden.
Zweitens: Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive wesentlich interessanter ist die Frage, wie diese vorgebliche Nicht-Linearität der Hyperfictions mittels oben genannter Kriterien den Akt der Rezeption beeinflußt.
Hier spalten sich die Lager. Netzpuristen wie Idensen oder Bolz sehen durch den Hypertext die Mythen der Textgesellschaft geschlossener Text, feststehende Autorenschaft, Legitimation der Poesie im Kontext der sinnstiftenden Meta-Erzählungen ad absurdum geführt. Dies klingt provokant und im 21. Jahrhundert gehört mehr denn je Klappern zum Handwerk. Auf die empirische Basis hin abgeklopft, kommt derartige Argumentation erstaunlich schwachbrüstig daher. Unklar ist eben aufgrund zu weniger empirischer Studien inwieweit die vernetzte Wissensrepräsentation den Akt der Rezeption tatsächlich erweitert. Herauszukristallisieren beginnt sich immerhin, daß die nicht-lineare Form der Wissensorganisation vor allem jener Rezipientengruppe zugute kommt, die a) über einen hohen Stand an Vorwissen in dem digital aufbereiteten Wissensgebiet verfügt und b) Handlungskompetenz im Navigieren durch die Datenbasis eines Hypertextes besitzt.
- Auf die Literatur gemünzt bedeutet dies, daß der ästhetische Reiz bei der Lektüre eines Hypertextes in der Aufdeckung dessen verdeckter Referenzen besteht. Der Rezipient wird zu einer Art Spürhund, der sich durch das Netzwerk der Bezüge und Verweise schnüffelt. Ob er erfolgreich bei seiner Suche ist, und allein von solchem Erfolg hängt der ästhetische Reiz und das geweckte kreative Potential ab steht und fällt a) mit der Elaboriertheit der Link-Semantik des jeweiligen Hypertextes und b) mit den oben beschriebenen Kompetenzen, über die der Rezipient verfügt oder eben nicht verfügt.
Drittens: Ist nun die Linearität der Erzählung tatsächlich jener Fluch, den Hyperfiction nicht schnell genug abschütteln kann? Entspricht sie nicht eher einem zutiefst verinnerlichten menschlichen Wahrnehmungmodus? Bedeutet Verzicht auf lineare Struktur nicht zugleich auch Verzicht auf die Gabe der Erzählung?
Aus hermeneutischer Perspektive gilt der bekannte Grundsatz, daß Rezipienteninteresse nur über eine schrittweise Abnahme der Erkenntnisdifferenz zwischen Text und Rezipient zu leisten ist. Der Leser unterzieht sich nur dann der Mühe der Rekonstruktion einer ihm unbekannten Weltversion, wenn ihm der Text dieses Wechselspiel von Bekanntem und Unbekanntem, von kontingenten und kohärenten Bausteinen bietet. Nur Bekanntes langweilt, nur Codiertes nicht minder. Was sich dazu dem mehrmaligen Versuch einer Sinnkonstruktion verweigert, wird gnadenlos weggeklickt, daran wird sich auch oder vor allem Netzliteratur zu orientieren haben. Bereits Umberto Eco hat in seiner berühmten Definition des offenen Kunstwerks darauf aufmerksam gemacht, daß der Versuch, mehrere Bedeutungsebenen zu konzipieren und den Text dadurch zu "öffnen", stets mit der Gefahr gekoppelt ist, über einen zu starken Verzicht auf Linearität, in diesem Falle einen Kausalnexus innerhalb der Handlung, das Leserinteresse zum Erlahmen zu bringen.
Einfacher ausgedrückt: Wo wir in der Erzählung mittelfristig keinen roten Faden finden, werfen wir das Knäuel in die Ecke.
Prognose:
Hyperfictions werden daher wollen Sie eine Zukunft haben sich einem Spagat unterziehen müssen.
Sie sollten mit dem linken Bein die Chancen des Mediums Computer Multimedia, Hypertext nutzen. (Ob Interaktivität, also Mitschreibprojekte als praktizierte Basisdemokratie im Reich der Ästhetik sich als Qualitätsmerkmal von Netzliteratur durchsetzen werden, würde ich bezweifeln. Wenn hundert schmachtende Jünglinge sich zusammentun und der Tastatur ihre literarischen Phantasien einbläuen, werden unter Umständen interessante Dada-Konstruktionen entstehen, sicher aber kein zweiter Don Carlos.)
Das rechte Bein des Hyperfiction Garde sollte den Boden der guten alten Erzähltradition zumindest noch berühren. Anders gesagt: Ich sollte einmal beherrscht haben, womit ich zu brechen gedenke: Erzählpositionen, Zeitverhältnisse, Figurenkonstellationen, Motivgeflechte etc. ...). Allzuoft verbirgt sich hinter dem revolutionären Gestus, mit jeglicher Form zu brechen, bei den Netzautoren fehlende Gestaltungskompetenz. Aber das Medium ist noch jung und der digitale Schiller wird nicht jede Woche geboren.
Ein Bein mit Bodenberührung, das andere im Hypertext, den Kopf in den Lüften die Zukunft besteht aus Null und Eins.
Reinhard Döhl
Voraussetzungen
Voraussetzungen (1)
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden für
die Künste entscheidende Weichen gestellt durch
- die Forderung einer unpersönlichen Dichtkunst
durch Lautréamont;
- Lautréamonts Prognose eines von den Dichtern in Folge der neuen Medien cinéma und phonographe zu schreibenden sichtbaren und hörbaren Buches der Zukunft;
- eine Tendenz zum Dialogischen der Künste,
zu Gemeinschaftsarbeiten bis zu Ansätzen kollektiver Kunst;
- Versuche automatischen Schreibens und
- die Entdeckung des Zufalls.
Und man sollte diese Voraussetzungen mitbedenken,
wenn man über die Genese der elektronischen Medien und ihrer Künste
sprechen will.
Voraussetzungen (2)
Bei Entwicklung der Künste in 20.
Jahrhundert spielen die elektronischen Medien ihre Rolle in einer Doppelfunktion
als Aufzeichnungs- bzw. Übermittlungssysteme (reproduktiv) ebenso
wie (produktiv) bei Fortschreibung traditioneller und der Genese neuer
>Gattungen<, z.B. des Films, des Hörspiels, des Hypertextes.
Dabei ist es nach der historischen Abfolge
Mündlichkeit / Schriftlichkeit, heute zu einem Nebeneinander von Mündlichkeit
(Rundfunk / akustische Kunst) und Schriftlichkeit (Internet / Netzkunst) gekommen.
Die Hervorbringungen dieser neuen Mündlichkeit
und Schriftlichkeit haben in der CD ein gemeinsames Medium gefunden. Die
These, eine solche Aufzeichnungsmöglichkeit spräche gegen die
Originalität eines richtig verstanden nur im und durch das Netz relevanten
Netztextes / relevanter Netzkunst [u.a. Florian Cramer], schüttet
das Kind vor dem Bade aus.
Der Hypertext ist nicht die einzige Möglichkeit
produktiver Internetnutzung, wohl aber die noch dominierende literarische
Gattung. Solche Hypertexte ohne Bild, Ton, Animation (im Sinne der von
Michael Joyce und anderen entwickelten Hyperfiction) zeichnen sich durch
eine häufig recht komplexe, oft nicht-lineare Struktur aus, auf deren
Grenzen u.a. von Bernd Wingert ("Aufmerksamkeitsverschiebung") und Johannes
Auer hingewiesen wurde
Auf der anderen Seite sind unseren Stuttgarter
Experimenten für multimediale scriptgesteuerte Netzwerke mit gleichen
oder aussagebestimmt wechselnden Anteilen an Text, Bild, Ton, Animation
durch die noch bestehenden technischen Beschränktheiten deutlich Grenzen
gesetzt.
Netztext / Netzkunst in ihrer ans Medium
gebundenen Form sind eine Fortschreibung von Computertext / Computerkunst.
Letztere entstanden, als man sich einigte, daß es bei den programmgesteuerten,
elektronischen Rechenanlagen nicht entscheidend sei, was
die Maschine tue, entscheidend dagegen, wie man die Funktion der
Maschine interpretiere [Theo Lutz]. Dieser Schritt einer Uminterpretation
erfolgte, als Ende der 50er Jahre in Stuttgart das Verfahren der Herstellung
von Wortindices umgekehrt und der Computer angewiesen wurde, mit Hilfe
eines eingegebenen Lexikons und einer Anzahl von syntaktischen Regeln Texte
zu synthetisieren und auszugeben. Experimente, die sich Ende der 60er
Jahre in ihren Möglichkeiten erschöpften.
Sie hatten ihre Entprechung in der Etablierung
und Diskussion einer konkret-visuellen Poesie und Kunst, die ebenfalls
Ende der 60er / Anfang der 70er Jahre mit den großen (Wander)Ausstellungen
in Zürich, Amsterdam und Stuttgart museal wurden.
Heute scheint die Netzliteratur und -kunst
diese beiden Ansätze auf einer neuen Basis zusammenführen und
weiterentwickeln zu können.
Ich muß hier einschränken, daß
Netztext / Netzkunst kein Spezifikum des Internets sind. Vernetzte Literatur
hat es vor dem Netz gegeben und sie kann außerhalb des Netzes existieren
- in Form von Netzen, die ein Autor auswirft
und in denen sich der Leser (in dessen Kopf ja das Buch beim Lesen je neu
entsteht) auf vielfache Weise und oft überraschend neu verstricken
kann (was für die Fußnotenprosa eines Jean Paul ebenso gilt
wie für die Zettelkastenwirtschaft eines Arno Schmidt).
- oder in Form der Korrespondenz des zum Renshi
mutierten altehrwürdigen japanischen Kettengedichts oder in der mail
art.
Wir haben deshalb in Stuttgart auch versucht,
auf der Basis von e-mails Internettexte zu entwickeln, vernetzte Autoren-Projekte
aufzubauen, oder die Spielregeln des Schachspiels für das Netz produktiv
zu machen.
Bei diesen Versuchen
- ist der Autor nicht wie immer wieder behauptet
oder für die Zukunft angenommen im Netz verschwunden, er hat sich
vielmehr, vergleichbar wichtigen Hörspielmachern seit Ende der 60er
Jahre, neu definiert: u.a. als Materiallieferant, Programmierer und Manipulateur,
- ist auf der anderen Seite der Leser nicht
zum Wreader sondern zum Mitspieler geworden, der sich als gesteuerter Navigator
neu verstehen lernen muß. Es liegt im Willen des im Netz agierenden
Autors, wie weit er dem Leser freie Hand geben, einen Dialog mit ihm inszenieren
will. Eine Frage, über die Susanne Berkenheger ausführlich nachgedacht
hat.
Alles ist möglich. Alles ist erlaubt
Wenn nach der ersten Aufgeregtheit der
>Gründerjahre<, z.B. in den projezierten Thesen zur heutigen Gesprächsrunde,
von nicht erfüllten Hoffnungen gesprochen wird, geschieht dies voreilig,
wird vergessen, daß es sich beim Internet und seiner Schreib- und
Lesemaschine um ein Medium in statu nascendi handelt, das sich eigene Gattungen
zu seinen Bedingungen erst einmal entwickeln will. Zwischen welchen Positionen
dies geschehen kann, versuche ich mit Blick auf das ältere akustische
Medium Rundfunk anzudeuten.
Helmut Heißenbüttel hat in seinem
berühmten "Horoskop des Hörspiels" 1968 mit der bis dato gültigen
Auffassung des Hörspiels als Literatur aufgeräumt. Und er hat
dabei an ein völlig frei disponierbares Hörspiel zwischen
Auseinandersetzung, Kritik, Tabuverletzung, Schock usw. als purem Inhalt
auf der einen und an Laut- und Geräuschpoesie auf der anderen
Seite gedacht eine Poesie, die ja ebenso wie vernetzte Texte oder konkret-visuelle
Poesie ihre Geschichte zunächst außerhalb des Mediums schrieb.
Was, übersetze ich Heißenbüttels
abschließende These, an Möglichkeiten des Internettextes heute
zeig- und lesbar gemacht wird, bestimmt, was es darauf aufbauend künftig an Möglichkeiten überhaupt geben kann. Denn es kann nur das geben,
was zeig- und lesbar gemacht werden kann. In dem Spannungsfeld zwischen
purem Informationsfluß auf der einen und Hyperfiktion, animiertem
und/oder animierbarem interagierendem und/oder interagiertem Text zwischen
Schrift und Bild in Bewegung also ist dabei experimentell alles möglich,
ist versuchsweise alles erlaubt.
Während es an allgemeinen wissenschaftlichen Abhandlungen zu den sogenannten >Neuen Medien< nicht mangelt, haben fiktionale, narrative Computerspiele bisher kaum ernsthafte Beachtung gefunden. Sie sind aber nicht nur die populärsten digitalen Texte, sondern gehören auch zu den komplexesten und aufwendigsten Hypertexten. In einem Vergleich zwischen literarischen und multimedialen sowie zwischen populären Spielen und Spielumgebungen mit künstlerischem Anspruch lassen sich Veränderungen beim Einsatz von Sprache, Bild und Ton beobachten und tatsächliche multimediale Textpraktiken untersuchen.
In Auseinandersetzung mit den spielerischen Textpraktiken können die Wissenschaften ihren eigenen Textbegriff überprüfen: Herkömmliche, auf Geschlossenheit drängende Definitionen von Text, Identität und Körper sehen sich angesichts der multimedialen, interaktiven, offenen Formen gefährdet. Diese Definitionen herrschen in den traditionellen Literaturwissenschaften vor, nehmen demnach sprachbasierte Texte zur Grundlage und geben dem künstlerischen Drucktext vor allen anderen Textsorten den Vorzug. Andere Definitionen von Text, die poststrukturalistischen Theorien und der Textpraxis der Postmoderne ebenso verpflichtet sind wie den populären Medien (Comics, Film, Video), tendieren zur Offenheit und erlauben neue Kategorisierungen und Beurteilungen der herkömmlichen und digitalen Medien. Der Umgang mit Spieletexten bildet demnach nicht nur die passionierten Spielerinnen und Spieler im Umgang mit zeitgenössischen Texten aller Art weiter, sondern potentiell auch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich auf die Spiele einlassen. Die Wirkungen sind keineswegs spielerisch-beliebig, sondern haben weitreichende Folgen für den Wissenschaftsbetrieb und die Analyse von Texten im allgemeinen.
Es ist nämlich keineswegs so, daß im Umgang mit den neuen Medien allen Nutzern alles erlaubt wäre. Vielmehr knüpfen ProduzentInnen und RezipientInnen digitaler Texte an populäre und künstlerische Traditionen an. Sie schaffen im Sinne Michel Foucaults diskursive Regeln, die Machtverhältnisse fortführen bzw. etablieren helfen. Diese Regeln haben wiederum Auswirkungen auf die >traditionellen< Medien und das nicht nur in Auseinandersetzungen mit dem Cyberspace, sondern auch mit den jeweils eigenen Diskursstrukturen. Systemische Bedingungen des Diskurses wie Autor- und Rezeptionsfunktion, Wissenschaftsbegriff, Zugangsbeschränkungen und Analysekonzept können sich wandeln.
Der Spielbegriff etwa verändert sich auf allen diskursiven Ebenen. Grenzen zwischen Spiel und Arbeit, Spiel und Kunst, fiktionalem bzw. virtuellem Spiel und >Lebensrealität< verschwimmen. Ein geschlossener, stabiler Identitätsbegriff weicht zunehmend Auffassungen von offenen, prozessualen und multiplen Identitäten. Das individualisierte, in Computernetzen aber auch interaktive >Durchspielen< von Identitätspositionen ist in immer komplexerer Weise möglich. Es bilden sich unter ComputernutzerInnen neue Fähigkeiten heraus, und es entstehen neue "interpretive communities" (Stanley Fish). Diese Interpretationsgruppierungen verbinden nicht weniger nationale Gemeinsamkeiten als vielmehr alters- bzw. geschlechtsspezifische und populärkulturelle Kenntnisse Kenntnisse, die wiederum durch die Interaktion mit zeitgenössischen digitalen und nicht-digitalen Texten gefördert werden.
Dabei gilt es, die Zugangsbeschränkungen zu analysieren, die sowohl durch die Hard- und Softwareanforderungen bedingt sind wie durch im engeren Sinne soziokulturelle Faktoren: Spezifische Fähigkeiten, von der generellen >computer literacy< über die manuelle Geschicklichkeit im Umgang mit Computer und Schnittstelle bis zum Wissen um populärkulturelle oder kunstgeschichtliche Zusammenhänge sind notwendig, um in Spielewelten aller Art zu bestehen.
Der Cyberspace, wie er sich heute präsentiert, ist als eine "offene Baustelle" zu verstehen, auf der haufenweise kreative Prozesse ablaufen. Hyperfictions mit ihren experimentellen Konzeptionen gehören zu den neuen Türmen und Verliesen, die auf dieser Baustelle in einem ungewöhnlichen, ständigen Auf- und Abbauen entstehen. Hyperfiction und Netzliteratur sollten deshalb vorläufig unter dem Aspekt des Experimentellen betrachtet werden. Die entstehenden literarischen Entwürfe und Hybridformen eröffnen ein spannendes und weites Experimentierfeld, das neue Grenzziehungen verlangt, seine Konturen jedoch noch herausarbeiten muss.
Text im Internet nimmt keine eindeutig prioritäre Stellung mehr ein, so könnte man meinen, wenn man all die Bildchen, Animatiönchen, Filmchen und "E-Commerce-Angebote" betrachtet. Denn der Text hat sich mittlerweile brav neben Bild, Ton und Animation als gleicher Partner eingereiht. Doch die "Klickibunti" allein machen noch keinen gelungenen Abend. Wie wichtig Text im Netz noch immer ist, zeigt sich in einer neuen Studie der Augenfixierungen von Online-Nachrichten-Lesern.
Die Stanford University hat im
Poynter Project die Augenbewegungen von Online-News-Lesern untersucht und nach 24 000 Mausklicks und 600 000 Augenfixierungen festgestellt, dass die Mehrheit der Leser sich zuerst auf Text fixiert und nicht auf Bilder. Erstaunlich auch, dass 75 Prozent der Leser die ganze Textlänge eines Online-Artikels lesen, Zeitungsleser brechen viel öfter ihre Lektüre ab. Die Folgerung: Text ist im Internet nach wie vor viel wichtiger als oft angenommen wird.
Der Hyperfiction-Autor ist ein universaler Künstler: Schriftsteller, Programmierer und Gestalter in einem. Ein Universalgenie wie im 18. Jahrhundert? Er beherrscht nicht nur das theoretische Instrumentarium der neuesten Kommunikations- und Medientheorien, sondern ist stark praxisorientiert und verknüpft sowohl computertechnologische als auch soziale und künstlerisch-ästhetische Kompetenz.
Hinzuzufügen ist hier vielleicht noch: Der Autor hat teilweise auch keine Wahl; er muss die wichtigsten Tools kennenlernen und mit ihnen umgehen können, will er denn vorwärts kommen und sobald er einmal damit begonnen hat, kann er nicht mehr aufhören, denn nun muss er mit den Software-Entwicklungen Schritt halten.
Hyperfiction als Genre steckt in einer experimentellen Frühphase und sollte immer unter dem Aspekt des Experimentellen betrachtet werden. Man darf schlichtweg nicht mit dem althergebrachten Verständnis an die Sache gehen, dass mit den Hyperfictions perfekte, abgeschlossene Meisterwerke entstehen, sondern muss immer Offenes, Unfertiges und Experimentelles erwarten, bzw. man muss eine Verlagerung der Erwartung einkalkulieren, nämlich vom Autor weg zum Leser oder Nutzer hin.
Pauschal formuliert begegnen wir heute in den Hyperfictions einem Sender als Herausgeber oder Produzenten, der mittels Schreiben und Programmieren das Regelwerk und die narrativen Möglichkeiten des virtuellen Fiktionsraumes entwickelt, und einem Empfänger, der als "Performer" eine aktive Rolle einnimmt und eine Geschichte "nachschreibt".
Prof. Dr. Georg Jäger
Universität München
Institut für Deutsche Philologie
Schellingstr. 3
D-80799 München
Dr. Fotis Jannidis
Universität München
Institut für Deutsche Philologie
Schellingstr. 3
D-80799 München
E-Mail-Adressen der Teilnehmer:
Auer, Johannes
Boehler, Prof. Dr. Michael
Daiber, Dr. Jürgen
Doehl, Prof. Dr. Reinhard
Gunzenhäuser, Dr. Randi
Suter, Dr. Beat
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Ins Netz gestellt am 20.06.2000. Update 27.06.2000, 04.07.2000.
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