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von Dieter Langewiesche


Hochschulpolitik aus historischer Sicht

Festvortrag zum 65. Geburtstag von Wolfgang Frühwald und zum 60. Geburtstag von Georg Jäger, gehalten am Dienstag, den 18.7.2000, in der Siemens-Stiftung München.



Die deutsche Universität steht unter Reformdruck. Das ist verständlich. Denn eine Gesellschaft, die sich als Wissensgesellschaft versteht, muß die Einrichtungen, in denen dieses Wissen erzeugt und weitergegeben wird, befähigen, sich ständig zu überprüfen und zu verändern, um den neuen Aufgaben gerecht werden zu können. Dem können und dürfen sich die Universitäten nicht entziehen. Einem erfahrungsblinden Reformaktivismus sollten sie sich allerdings widersetzen. Sie, lieber Herr Frühwald, haben immer wieder gedrängt, nicht "der Krankheit der Moderne zu verfallen, dem schwindelerregenden Erfahrungswandel keinen Widerstand entgegensetzen zu können". So haben Sie es 1993 formuliert, als Sie vor dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft über den Wandel des Gelehrtenbildes gesprochen haben.1 Ohne Erinnerung, also "ohne Kontinuität und ohne Identität", so mahnten Sie, werde es zu einem "immer schnelleren Gedächtnisverlust" kommen.

Zwischen Kontinuitätsstarre und Kontinuitätsverlust einen Reformweg zu finden ist allerdings schwer. Historische Rückblicke können dabei nützlich sein – nicht um Neuerungen abzuwehren. Wohl aber, um ihre Wirkungen abzuschätzen, indem geprüft wird, was sie fortsetzen, was sie abbrechen. In dieser Absicht, nicht als vergangenheitsverliebter Historiker, will ich die gegenwärtige Hochschulpolitik in Deutschland betrachten - in einigen Aspekten nur, aber doch in wichtigen. Aus der Sicht eines Geisteswissenschaftlers; sie begrenzt den Blick, gewiss, aber sie richtet ihn aus auf die Erfahrungen, die unser historisch gewachsenes kulturelles Gedächtnis bereit hält. Ich will meine Ergebnisse und meine Fragen zu sechs Thesen zuspitzen, möglichst scharf, gelegentlich vielleicht überscharf, denn ich blicke nicht auf das, was fortläuft, wie bisher, sondern auch die Brüche, die sich abzeichnen, und auf das, worum gestritten wird. Die ersten drei Thesen zielen auf die Forschung, die letzten drei auf die Lehre, auf die Verbindung zwischen beiden und auf die Folgen, die sich daraus ergeben.


1. These: Die gegenwärtige Hochschulreform erzwingt einen neuen Professorentypus: der Professor als Wissenschaftsunternehmer.

Diese Entwicklung ist nicht neu – in Ihrer Rede, Herr Frühwald, aus der ich zitierte, haben Sie auch darüber gesprochen. Doch nun wird das, was in den Natur – und Ingenieurwissenschaften seit langem normal ist, für die gesamte Universität erzwungen, auch für die Fächer, in denen die Forschungsleistung des Einzelnen bislang im Mittelpunkt steht, in den Geisteswissenschaften. Diesen Wandel sollten wir nicht als selbstverständlich ansehen, als nachholende Reform durch zurückgebliebene Geisteswissenschaftler, die sich endlich anpassen. Wir stehen vor einem tiefen Einschnitt, der die gesamte Fachkultur in den Geisteswissenschaften grundlegend ändern wird. Der Maßstab für Bedeutsamkeit bricht um. Bisher wurden und werden andere Fähigkeiten prämiert. Die große Einzelleistung, in der Detailforschung und in der Synthese. Bedeutende Gelehrte in der Literaturwissenschaft, in der unsere beiden Jubilare wirken, aber auch in meinem Fach, der Geschichtswissenschaft, bedeutende Gelehrte, die auch heute noch in unseren Fächern Maßstäbe setzen, ihnen Glanz geben, haben nie Drittmittel eingeworben, oder allenfalls hin und wieder beiläufig, nicht als Fundament ihrer eigenen Forschung. Vielleicht ist diese Drittmittelabstinenz sogar eine Voraussetzung für ihre herausragende Forscherleistung, eine Forschung, die nicht im Team erwächst, nicht aus dem arbeitsteiligen Labor hervorgeht.

Für diesen Gelehrtentypus, der im 19. Jahrhundert mit der modernen Forschungsuniversität in Deutschland entstanden ist und bis heute die Geisteswissenschaften prägt, für diesen Gelehrten wird die künftige deutsche Universität wohl ein feindliches Gebiet sein - ein Nebeneffekt dessen, was heute als leistungsbezogene Mittelvergabe überall gefordert und zur Zeit exekutiert wird, unausweichlich für jeden, der in der Hochschule arbeitet. Die Drittmittelquote, also die Gelder, die außerhalb der Hochschule eingeworben werden, entscheiden künftig in erheblichem Maße auch darüber, was man innerhalb der Hochschule erhält oder verteidigen kann. Drittmittelabstinenz wird also bestraft – es sei denn, wir wagen es, die Leistung des Einzelforschers zu bewerten, sie in eine Relation zu bringen zu den Leistungen, die aus Drittmittelteams hervorgehen. Eine außerordentlich schwierige Aufgabe, wenn man die Tonnenideologie der Drittmittelquote nicht mit einer Tonnenideologie des Publikationsausstoßes beantworten will.

Was not tut ist - nachdenken über die Aussagekraft der Drittmittelquote, über ihre Wirkungen in den unterschiedlichen Fachkulturen, nachdenken darüber, was denn innerhalb der Hochschule mit der Drittmittelquote belohnt wird: zunächst einmal ausgegebenes Geld, nicht erzielte Forschungsleistung. Qualität kann keineswegs umstandslos aus der Höhe der eingesetzten Gelder erschlossen werden. Die Forschungsressourcen einer Hochschule, ihrer Fächer und ihrer einzelnen Mitglieder nach der Forschungsqualität zu bemessen, ist etwas anderes als das, was jetzt in Deutschland überall anläuft.


2. These: Die einseitige Prämierung der Drittmittelforschung verändert die Nachwuchsförderung grundlegend

Dieser Wandel hat mehrere Facetten. Da ist zum einen die schiere Vermehrung der Stellen für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Denn die Drittmittelforschung eröffnet viele Qualifikationswege zur Professur – jenseits des traditionellen Weges über die Assistentenstellen. Doch das Zielgebiet, die Professuren in dem jeweiligen Fach, hat sich nicht ausgeweitet. Vor diesem Ziel sehen wir einen wachsenden Stau an Hochqualifizierten, für die kein alternativer Arbeitsmarkt zur Verfügung steht; jedenfalls nicht für Geisteswissenschaftler. Wie soll dieser Stau aufgelöst werden? Im Internet läuft zur Zeit unter jungen Geisteswissenschaftlern eine lebhafte Debatte über diesen nicht vorausgesehenen Nebeneffekt der erfreulichen Expansion an Qualifikationsmöglichkeiten für Nachwuchswissenschaftler dank der vielen Drittmittelprojekte, die es nun auch in den Geisteswissenschaften gibt. Die Hochschulpolitik, wir alle sollten uns diesem Problem stellen. Die Geschichte bietet dafür keine Lösungsvorschläge, wohl aber Anschauungsmaterial, an dem sich Entwicklungen und Nebenwirkungen studieren lassen.

Der international bewunderte Aufstieg der deutschen Universität, der sie im ausgehenden 19. Jahrhundert auf den Gipfel der Weltgeltung führte, geschah auf der Grundlage einer staatlich-gesellschaftlichen Mischfinanzierung. Der Lehrkörper wurde nämlich in beträchtlichem Maße privat finanziert, über Studiengebühren. Für die enorm expandierende Zahl von Privatdozenten, die als Forscher den wissenschaftlichen Fortschritt durch stetige Spezialisierung vorantrieben und als Lehrer dafür sorgten, dass die anschwellenden Studentenzahlen verkraftet wurden, war das Kolleggeld der Studenten das einzige Honorar. Der Staat zahlte dem Privatdozenten nichts. Und auch für den staatlich besoldeten Professor floss aus den Hörgeldern ein Gutteil des monatlichen Einkommens.

Die staatlichen Kosten für den dynamischen Ausbau der Hochschullandschaft wurden so gesenkt, doch mit einem Preis bezahlt, den schließlich die deutsche Gesellschaft nicht mehr angemessen fand. Zu diesem Preis gehörte das "Fegefeuer des Privatdozententums", wie es der Geschichtsschreiber der Berliner Universität 1910 genannt hatte. Max Weber sprach vom Hasard der Habilitation. Ihn gibt es noch heute, und gerade heute wieder. Die Drittmittelforschung trägt inzwischen dazu erheblich bei.

Dieser Hasard wird nicht beendet, wenn man die Habilitation abschafft. Ich gehöre nicht zu den Verfechtern dieser Einrichtung, die in ihrer heutigen Gestalt viel jünger ist als ihre Verteidiger wähnen. Als zweite große wis- senschaftliche Arbeit, die der Hasardeur auf dem Wege zur Professur vorzulegen hat, ist sie erst in der Bundesrepublik zum Normalfall geworden. Denn auch die Dissertation wurde erst in der Nachkriegszeit zu dem, was sie heute ist: ein Ergebnis mehrjähriger Forschung. Alt ist nur der Name, nicht der Inhalt. Die Anforderungen sind enorm gestiegen, bei der Doktorarbeit ebenso wie bei der Habilitation, und erst recht bei den vorgelagerten Abschlusswerken, Diplomarbeit, Magisterarbeit, Staatsexamensarbeit – auch sie präsentieren Forschungsleistungen, auch dies ist jüngsten Datums. Inzwischen kann man bei Agenturen diese studentischen Forschungsarbeiten kaufen.

Die Folgen der ständigen Niveausteigerung kennen wir. Der Weg zur Professur wurde immer länger, und die Kandidaten immer älter. Die großen Wissenschaftsorganisationen versuchen nun gegenzusteuern, zu Recht. Ob es jedoch reicht, die Habilitation abzuschaffen? Sie umfasst nur die letzte Strecke auf einem Parcours, dessen Hürden im letzten halben Jahrhundert wie nie zuvor vermehrt und erhöht wurden.

Auch daran ist inzwischen die Drittmittelforschung beteiligt. In Berufungsverfahren wird auch in den Geisteswissenschaften das Kriterium Projekterfahrung zunehmend gewichtiger. Verständlich. Denn einen Kollegen zu berufen, der lieber forscht als forschen zu lassen, schadet jedem Fachbereich, der sich innerhalb der Hochschule über die Drittmittelquote rechtfertigen muß. Deshalb mag es angemessen erscheinen, wenn ein neues Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft, mit dem junge frisch promovierte Spitzenwissenschaftler ohne Habilitation zur Professur geführt werden sollen, schon in dieser Phase Gelder für eine eigene Forschergruppe vorsieht. Für die Geisteswissenschaften markiert dies einen tiefen Einschnitt. Die Phase des Wissenschaftsunternehmers setzte in der Biographie eines Geisteswissenschaftler bisher viel später. Und sie war ein freiwilliger Akt. Das ist vorbei.


3. These: Die einseitige Prämierung der Drittmittelforschung zentralisiert und hierarchisiert die Promotionsförderung

Indem über die Drittmittelquote die Verteilung der Forschungsressourcen in den Hochschulen und zwischen ihnen gesteuert wird, droht eine neue Hierarchie in der Promotionsförderung, einschließlich der Förderinstitutionen. Ich erläutere das an einem Beispiel. Doktorand in der Studienstiftung des Deutschen Volkes zu sein, gilt als Auszeichnung. Noch. Aber wie lange noch? Der promovierende Studienstiftler erhält ein Stipendium, der Doktorand in einem Drittmittelprojekt ein Gehalt. Das ist ein gewichtiger Unterschied, Monat für Monat auf dem Konto zu erkennen, während der Arbeit an der Promotion und als Sozialversicherungsbürger auch noch danach.

Finanzielle Nachteile hat auch der Betreuer zu tragen. Unser Wissenschaftssystem rechnet nämlich Promotionsstipendien nicht zu den Drittmitteln – in meiner Zeit im Wissenschaftsrat habe ich die vergeblich zu ändern versucht -, obwohl gerade in den Geisteswissenschaften ein großer Teil der Doktorarbeiten nach wie vor so gefördert wird. Übrigens preiswerter für den Steuerzahler als in Drittmittelprojekten. Wer seine Doktoranden in Stiftungen oder in der Graduiertenförderung eines Landes unterbringt, wird bestraft. Das ist neu. Es muß geändert werden, wenn man verhindern will, dass die sogenannte leistungsbezogene Mittelvergabe in den Hochschulen neue Hierarchien in der Promotionsförderung erzeugt. Sie wären nur zu rechtfertigen, wenn aus den Drittmittelprojekten, aus Sonderforschungsbereichen und Graduiertenkollegs höherwertige Doktorarbeiten hervorgingen als aus der herkömmlichen Einzelförderung über Stipendien. Ist das so? Ich kenne keine Untersuchungen. Meine eigenen Beobachtungen sprechen dagegen.

Die Hochschulpolitik, wir alle sollten zur Kenntnis nehmen, dass zumindest in den Geisteswissenschaften der Individualdoktorand, nicht eingebunden in einen großen drittmittelbewehrten Forschungsverbund, kein isolierter Einzelgänger sein muß. Vielerorts werden Kolloquien angeboten, aus denen sich unseren findigen, aufgeweckten Doktoranden das heraussuchen, was sie für sich als förderlich einschätzen. Wer das Internet konsultiert, weiß, dass Doktoranden dieses neue Medium nutzen, um diejenigen aufzuspüren, mit denen sie sich eigenfinanziert und ohne institutionelles Gehäuse wissenschaftlich austauschen wollen. Ist das weniger wert als die brave Mitarbeit im Drittmittelverbund?

Wir verfügen in Deutschland über ein vielfältig differenziertes Netz an Fördereinrichtungen, private und öffentliche, auf die einzelnen Bundesländer begrenzt und sie übergreifend, ein ausgewogenes, offenes System, das der föderativen Struktur der Bundesrepublik eingepasst ist. Die heutige Wertschätzung der Drittmittelforschung, das Gebot an alle Fachkulturen, sich darauf einzustellen oder in der Konkurrenz um die Arbeitsgrundlagen zu unterliegen, wird hier neue Hierarchien erzwingen. An der Spitze werden die Institutionen stehen, deren Forschungsgelder in die Drittmittelquote eingehen und vor allem - deren Gutachter die Verteilung der Drittmittel steuern.

Für die Hochschulforschung ist der Deutschen Forschungsgemeinschaft diese zentrale Position zugewachsen. Das liegt nicht nur an der Höhe der Mittel, die sie zu vergeben hat, sondern an ihren neuen Rolle. Die Rolle der DFG verändert sich in dem Maße, in dem das neue Instrumentarium zur Leistungskontrolle und Leistungssteigerung an den Hochschulen die Drittmittelquote so stark auszeichnet, wie es nun beginnt, und zugleich den Begriff Drittmittel auf das aus- richtet, was die DFG zu vergeben hat. Die Gremien der DFG werden dadurch viel stärker als bisher zu zentralen Steuerungsinstanzen für die Geldflüsse innerhalb und zwischen den Hochschulen. Das ist ein Schritt in Richtung Entföderalisierung der deutschen Hochschullandschaft – ein tiefer Bruch mit der Geschichte. Vielleicht ein notwendiger Bruch. Wie auch immer man dazu steht, wir sollten diesen Bruch nicht blind vollziehen, ihn nicht als ungeplanten Nebeneffekt einkaufen.

Meine Damen und Herren, die Hochschulpolitik, wir alle, die wir in irgendeiner Form daran beteiligt sind, bestimmen zur Zeit neu, was an den Hochschulen als Forschung anerkannt werden soll. Das neue Maß folgt dem, was die Natur- und Ingenieurwissenschaften vorgeben; die Geisteswissenschaften müssen sich einfügen. Neu für alle sind die Sanktionen, die greifen, wenn Effizienzkriterien nicht erfüllt werden, hochschulintern und zwischen den Hochschulen eines Landes. Wenn man Änderungen erzwingen will, muss man so ansetzen. Ob aber die Kriterien angemessen sind, das sollte breit debattiert werden, mit Blick auf die eigene Geschichte und auf das internationale Umfeld. Forschung und Ausbildung wird man dabei nicht trennen dürfen. Dazu möchte ich zum Schluss drei Thesen skizzieren.


4. These: Nie zuvor in der deutschen Geschichte waren Forschungs- und Ausbildungsuniversität so eng verbunden wie in der Gegenwart

Damit widerspreche ich entschieden den geläufigen Klagen über den Auszug der Forschung aus der Universität, verbunden meist mit nostalgische Rückblicken in die Vergangenheit. Gewiss, außerhalb der Universitäten sind große Forschungszentren entstanden, und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten hat diesen Prozess fortgesetzt. Eine neue Säule im Forschungsgebäude ist mit der Leibniz-Gesellschaft hinzugekommen. Die Hochschulforschung wird diesem Prozess der Ausfächerung relativiert. Aber das ist etwas anderes als Auszug der Forschung aus der Universität. Ihn hat es nicht gegeben. Ganz im Gegenteil. Nie zuvor ist die Forschung so intensiv in das Studium hineingenommen worden, nie zuvor waren Ausbildungs- und Forschungsuniversität so eng miteinander verzahnt. Wenn wir die Einheit von Forschung und Lehre als den Kern der Humboldtschen Idee einer neuen Universität verstehen, dann hat sich erst die Massenuniversität der Gegenwart diesem Ideal angenähert. Zumal in den Geisteswissenschaften, möglicherweise stärker als in den Natur- und Ingenieurwissenschaft und in der Medizin. Dazu fehlt mir die Anschauung. Ich spreche von der Praxis in den Geisteswissenschaften.

Einheit von Forschung und Lehre, darunter ist heute nicht mehr allein der lehrende Forscher, der forschende Lehrer zu verstehen – immer noch, glücklicherweise, der Normalfall an der deutschen Universität. Auf ihn ausgerichtet ist der gesamte Ausbildungsweg für den wissenschaftlichen Nachwuchs bis hin zur Berufung auf eine Professur. Einheit von Forschung und Lehre, seit dem frühen 19. Jahrhundert Leitbild der neuen Universität, diese alte Formel wird in der heutigen Massenuniversität anspruchsvoller realisiert – der forschende Lehrer als Voraussetzung für forschendes Lernen durch die Studenten, für Lehrforschung. Wie erfolgreich sie ist, erkennen wir an den studentischen Abschlussarbeiten. Ganz gleich, ob sie als Diplom-, Magister- oder Staatsexamen ausgeflaggt sind, es handelt sich ganz überwiegend um Forschungsleistungen, thematisch eng begrenzt, natürlich, aber in diesen Grenzen wird eigenständig geforscht. Wer in meinem Fach eine Magisterarbeit von heute mit einer Dissertation vor fünfzig Jahren vergleicht oder gar mit einer aus der Vorkriegszeit, kann an der enormen Niveausteigerung nicht vorbeisehen. Was vor gar nicht so langer Zeit mit dem Doktortitel belohnt wurde, erhält heute nur noch eine schmucklose Examensbezeichnung. Nicht nur dieser Qualitätssprung ist eine Leistung der so oft verschrienen Massenuniversität, historisch neu ist die Anforderung, das Studium mit einer wissenschaftlichen Arbeit abzuschließen. Ist das wünschenswert? Soll es fortgeführt werden?. Darauf zielt meine zweite These:


5. These: Forschendes Lernen ist die beste Berufsvorbereitung in einer Zeit, die lebenslanges Lernen verlangt

Bitte vergegenwärtigen wir uns, was im Bereich der Geisteswissenschaften in den letzten beiden Jahrzehnten, seit den achtziger Jahren, geschehen ist: Die geisteswissenschaftlichen Fächer bildeten seit jeher vorrangig für den Staatsdienst aus, insbesondere für die höheren Schulen. Dieser angestammte Arbeitsmarkt brach plötzlich weitgehend zusammen. In den letzten beiden Jahrhunderten, also seit die moderne Universität entstanden ist, die Aus- bildungs- und zugleich Forschungsuniversität - in diesen rund 200 Jahren hat es für die Geisteswissenschaften nie einen ähnlich dramatischen Strukturbruch auf dem Arbeitsmarkt gegeben wie in den letzten beiden Jahrzehnten. Unsere Studenten und Absolventen haben darauf erstaunlich reagiert: als praktizierende Marktwirtschaftler, ganz ungewöhnlich in unserer Gesellschaft. Sie haben sich neue Berufsfelder erschlossen, still und unaufgeregt, so still, dass es unsere Gesellschaft, die gewohnt ist, nur die zu hören, die laut rufen und organisierte Interessenpolitik in Marsch zu setzen, nicht zur Kenntnis genommen hat.

Warum konnten die geisteswissenschaftlichen Studenten und Absolventen diesen dramatischen Zusammenbruch eines großen Arbeitsmarktes so erfolgreich meistern? Die Antwort ist einfach. Wir finden sie in allen Untersuchungen, die es dazu gibt. Möglich wurde dieser Erfolg, weil die Studenten geisteswissenschaftlicher Fächer in ihrem Studium forschendes Lernen einüben. Sie erhalten eine methodische Schulung, die sie in die Lage versetzt, offene Fragen selbständig erkennen und beantworten zu können. Zu lernen, sich immer aufs neue mit ungelösten Problemen auseinandersetzen zu können, ist aber die beste Berufsvorbereitung in einer Zeit, die überliefertes Wissen schneller als je zuvor entwertet. Für Fächer, die keine bestimmten Berufsfelder bedienen können, ist es die einzige Möglichkeit, eine hochwertige Berufsqualifikationen zu vermitteln. Forschendes Lernen befähigt zum lebenslangen Lernen. Der Kampfruf "Humboldts Universität ist tot", den manche für den Ausweis von Progressivität halten, geht deshalb der Realität vorbei, wohlgemerkt: an der Realität des Arbeitsmarktes.

Von diesem Befund geht meine letzte These aus:


6. These: Die notwendige Reform des Studiums muss das Prinzip des forschenden Lernens in allen Phasen des Universitätsstudiums beibehalten

Das ist ein Widerspruch gegen alle Empfehlungen, die Grundausbildung bis zu einem ersten Examen, Bachelor oder Bakkalaureat, praxisnah und erst die zweite Phase bis zum Master oder Magister oder Diplom forschungsnah zu gestalten – zwei zur Zeit vielgenutzte Etiketten. Für die Geisteswissenschaften wäre eine solche Zweiteilung ein Verhängnis. Sie würde ihre Fähigkeit, für einen unübersichtlich vielfältigen Arbeitsmarkt zu qualifizieren, einbüßen. Wir sollten die Arbeitsmarkterfahrungen der letzten beiden Jahrzehnte zur Kenntnis nehmen. Ich lese sie als ein Veto gegen diese Art von Zweiteilungsplänen.

Gegen diese Art, wohlgemerkt, dine Zweiteilung des Studium ist gleichwohl dringend erforderlich. Alle Studenten bis zum Spitzenexamen führen zu wollen, nur dieses anzubieten, ist überholt. Dieser Ehrgeiz folgt einem historisch überlebten Leitbild. Die heutige Universität der Vielen kann nicht mehr wie die vergangene Universität der Wenigen allen Studenten ein und dasselbe Ausbildungsziel anbieten. Hier muss differenziert werden, und hier sollten wir nach Lösungen suchen, welche die internationale Mobilität der Studenten fördert. Angleichung ist notwendig, nicht aber Verzicht auf das Prinzip des forschenden Lernens, auch nicht in der Phase bis zum ersten Examen. Gerade hier sollte die notwendige Straffung erreicht werden durch die Konzentration auf eine methodische Schulung, die darauf zielt, forschendes Lernen zu trainieren, um zu lebenslangem Lernen fähig zu werden.

Dies zu fordern, plädiert zugleich gegen eine Teilung der deutschen Hochschullandschaft in Ausbildungs- und in Forschungsuniversitäten. Es gibt schon jetzt, und es gab auch in der Vergangenheit, viele Differenzierungen zwischen den deutschen Universitäten. Sie zu deutlicheren Profilen weiterzuentwickeln, wie es der gegenwärtige Trend der Hochschulpolitik will, mag nützlich sein. Stärkere Profilierung sollte jedoch nicht gleichgesetzt werden mit der Trennung in Ausbildungs- und Forschungsuniversitäten. Damit würde eine Hierarchie erzwungen, die es bisher in Deutschland nicht gibt. Die im Vergleich zu anderen Staaten, etwa den USA, außerordentlich hohe Homogenität des Ausbildungs- und Forschungsniveaus unter den Hochschulen in Deutschland ist ein Ergebnis der deutschen Geschichte – genauer: ihres föderativen Grundmusters, seit den Anfängen bis heute. Föderative Grundstruktur bedeutet hier: hohes Niveau überall, an allen Universität, in allen Teilen Deutschlands. Mit diesem historischen Erbe sollten wir nicht leichtfertig brechen. Ich hoffe, ja, ich meine zu wissen, lieber Herr Frühwald und lieber Herr Jäger, dass wir darin übereinstimmen.


Prof. Dr. Dieter Langewiesche
Universität Tübingen
Historisches Seminar
Wilhelmstraße 36
D-72074 Tübingen

Ins Netz gestellt am 26.07.2000.

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Anmerkungen

1 Wolfgang Frühwald, Zeit der Wissenschaft. Forschungskultur an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Köln 1997, Zitate S. 46.   zurück


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