IASL online spezial
von Renate von Heydebrand


Rede zur Feier zweier Jubiläen:

Festvortrag zum 65. Geburtstag von Wolfgang Frühwald und zum 60. Geburtstag von Georg Jäger, gehalten am Dienstag, den 18.7.2000, in der Siemens-Stiftung München.



Liebe Jubilare, geehrte Festversammlung,

man hat mich gebeten, am heutigen Nachmittag anstelle der Dekanin, Frau Heitmann, und anstelle der Geschäftsführenden Vorsitzenden des Instituts für deutsche Philologie, Frau Mülder-Bach, zu sprechen. Grund für diese Vertretungswünsche ist die erfreuliche Verjüngung der Fakultät: Beide Amtsinhaberinnen könnten über frühere Zeiten, in denen die heutigen Jubilare sich bereits große Verdienste um Institut, Fakultät und Universität erworben haben, aus eigenem Miterleben nichts sagen. Und was verraten schon die dürren Daten und Fakten! Legitimiert bin ich also primär als 'Oldie'. - Da die Veranstaltung aber in der Siemens-Stiftung stattfindet und deshalb durch Vorträge ge- prägt zu sein hat, ist mir außerdem die Aufgabe zugefallen, die zu Feiernden einlei- tend insgesamt ein wenig zu würdigen.

Das war und ist, wie Sie sich denken können, eine schwierige und heikle Aufgabe: in einer einzigen Rede und in engem Zeitrahmen gleich zwei herausragende Menschen zu charakterisieren und zu ehren. Worauf greift man in solcher Lage zurück? Auf das, was man als Literaturwissenschaftler am gründlichsten gelernt hat, nämlich - in meinem Falle - Textbeschreibung und historische Einordnung, vergleichende Interpretation und Wertung.

Ich werde Ihnen also Wolfgang Frühwald und Georg Jäger als Texte vorstellen.

Dieser Ansatz hat mehrere Vorteile: Er trägt dem Rechnung, daß Personen wie Texte genaugenommen unverständlich und jedenfalls für unsere Verstehensversuche unerschöpflich sind. Wahrnehmung und Verstehen, Analyse und Interpretation sind notwendig begrenzt und perspektivisch, und sie sind ebenso notwendig auch subjektiv. Noch viel mehr gelten Perspektivik und Subjektivität natürlich für die Wertung. Zum Glück - so hoffe ich - wird diese subjektive Vorurteilsstruktur nicht zum Vorziehen des einen der zu Würdigenden vor den anderen führen. Wir werden zwar sehen, daß die beiden 'Texte', bei vielleicht unerwartet vielen Gemeinsamkeiten, doch - jedenfalls in ihrer historischen Situierung, in Stil und Struktur - bedeutende Unterschiede aufweisen. Aber mein Wertsystem, so schien es mir jedenfalls beim Nachdenken, steht den Wertsystemen, die in den Texten inkorporiert sind, bei gewissen Abweichungen in quantitativ ganz gleicher Weise nahe. Einfacher gesagt: Ich schätze die beiden Personen, die beiden 'Texte', beide sehr hoch - was viel zu unpersönlich gesagt ist.

Das Textmodell für Wolfgang Frühwald muß ein synthetisches sein. Ich möchte es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ansiedeln, im aufgeklärten Absolutismus. Es hat zum einen Züge des Staatsromans, der - jedenfalls in einer seiner Varianten - auf der Folie eines unverdorbenen Naturzustands die Schwächen der Gegenwart analysiert und ihr eine positive Utopie entgegenstellt. Ein Fürstenspiegel könnte zu diesem Typ gehören. Der ideale Fürst ist Repräsentant einer höheren Ordnung, die er zur Geltung zu bringen und zu schützen hat. Naturrecht, Vernunft, Religion - nicht gleichzusetzen mit Kirche! - und Aufgeschlossenheit gegenüber dem wissenschaftlichen - auch naturwissenschaftlichen - Fortschritt leiten sein Handeln zum Wohle des ganzen Staatswesens. Dieses ist hierarchisch gegliedert, und die Einsicht in das Wohl des Ganzen ist daher ungleich verteilt; Räte der Weisen, Geheimbünde, Geheimdiplomatie - ein wichtiger Bestandteil vieler solcher Texte - haben darin ihre Rechtfertigung.

Aber letztlich wird jeder Untertan an seinem Platz dazu angeregt und angeleitet, wie der Fürst, nach seinen Fähigkeiten für das Ganze zu wirken, und jeder, der so seine Pflicht erfüllt, wird deswegen auch gleich hoch geachtet. Klug eingerichtete pädagogische Anstalten - Schulen, Hochschulen, Werkstätten - machen jeden nach seinem Stand und seinen Fähigkeiten mit seinen Aufgaben vertraut und vermitteln ihm die nötigen Kenntnisse und erwünschten Werthaltungen. Nicht zuletzt: Für jeden, auch den Schwächsten, wird nach seinen Bedürfnissen gesorgt. - Die bürgerliche Variante dieses Modells setzt die Lehren der schon im 16., 17. Jahrhundert ausgebildeten Hausväterliteratur in didaktische Fiktion um. Dem Fürsten entspricht hier der Hausvater, den Untertanen die Familie und das Gesinde. In diesem Typus wird deutlicher als im ersten auch die Strenge sichtbar, mit der die für alle verbindliche Ordnung des ganzen Hauses durchgesetzt wird. Beide Textmodelle verbindet strukturell der auktoriale, allwissende, weise und gerechte Erzähler, der alle Fäden in der Hand behält und in der Regel auch die Wertvorstellungen des realen Autors vertritt.

Haben Sie in Autor, Erzähler oder idealem Subjekt dieses synthetischen Modells Wolfgang Frühwald erkannt? Ohne Ihre Phantasie einschränken zu wollen, gebe ich einige Hilfen: Unser Jubilar hat, wo immer er auftrat, Führungspositionen eingenommen. Seine erste Berufung 1970 war ein Lehrstuhl an der neugegründeten Universität Trier, und sofort wurde er Dekan, bald darauf auch Senator. Kaum nach München zurückgekehrt - sie bemerken die Bindung des absoluten Fürsten an sein Territorium, hier an Bayern! - durchlief er auch hier alle Ämter, bis hin zum Prorektor 1989-1991, ehe er - unter Überspringung des Rektorats oder der Kanzlerposition - 1992 zum Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft gewählt wurde. Nach zwei Amtsperioden seit 1998 wieder in München, regiert er nun ehrenamtlich die Humboldtstiftung zur Förderung von Wissenschaftlern mit Zukunft aus aller Welt.

Aber wie regiert Wolfgang Frühwald? Würdige Repräsentation nach außen macht ihm keine Schwierigkeit, doch seine Person bleibt bescheiden im Hintergrund. Er versteht sich als "erster Diener seines Staates"; seine anspruchslosen, wenn man so will, altmodischen Dienstzimmer in unserer Universität machten und machen das unmittelbar anschaulich. Als 'Fürst' - vor allem auf der Ebene der Gesamtuniversität - hat Wolfgang Frühwald zu ihem Nutzen weitreichende Verbindungen nach außen geknüpft und gepflegt, als 'Hausvater' - besonders im Institut - hat er innen eine effektive, bis heute bewährte Ordnung geschaffen und durch seine ständige mitdenkende Präsenz gestützt. Die Richtlinien der Politik bestimmte in seinen jeweiligen Herrschaftbereichen er, aber er wußte auf allen Ebenen unterstützende Kräfte zu aktivieren und hörte auch auf ihren Rat - freilich in 'ständischer' Abstufung. Klare Linien für das Wohl des Ganzen vor Augen, suchte er als Kollegen und Berater natürlich solche, die mit ihm an einem Strang zogen, gegebenenfalls auch als Mitverschworene. Konflikte mit Andersdenkenden scheute er nicht, durfte er nach seiner Amtsauffassung auch nicht scheuen.

Die 'unteren Stände' motivierte er, heutige Rezepte für effektive Teamarbeit vorwegnehmend, durch die Übertragung selbständiger Verantwortung. So richtete er als Geschäftsführender Vorsitzender des Instituts 1978/79 bis heute funktionierende Referate für die wichtigsten Sachgebiete der Verwaltung ein, arbeitete mit den Referenten - oft in entspannter Atmosphäre eines Arbeitsessens - die Leitlinien aus und gab ihnen dann freie Hand für die Umsetzung. Vor allem aber wirkte er durch sein Vorbild, indem er die eigene Person nicht schonte: Er machte sehr viel selbst, begnügte sich mit einer halben Sekretärin und gab auch, als die Zeiten der Stellen- und Mittelknappheit anbrachen, großzügig aus den sonstigen Ressourcen seines Lehrstuhls ab, was irgend noch entbehrlich schien. Nie hätte er sich - das unterstreicht noch einmal den Verzicht auf äußere Repräsentation, aber auch auf Entlastung - von einer Wolke von Assistenten umschwänzeln lassen, die ihm im Wortsinne hätten assistieren müssen: ihm Arbeit abnehmen, ihn ständig begleiten oder gar - das soll es gegeben haben - Tasche und Mantel nachtragen. Das 'Gesinde', das sich ernsthaft und erfolgreich weiterqualifizierte oder für ihm zugewiesene Forschungs- und Verwaltungsaufgaben intensiv einsetzte, konnte mit Frühwalds Wertschätzung und Fürsorge rechnen; die Stellen seiner Habilitanden während seiner Abwesenheit in Bonn, die zusätzlichen freien Tage (z.B. in der Weihnachtspause) für die Sekretärinnen, die zu unkonventionellen Zeiten zu arbeiten bereit waren oder besondere häusliche Lasten trugen, hat er mit Zähnen und Klauen verteidigt.

Und nun der 'Hausvater' und die 'Kinder': Zu den Studenten hielt Wolfgang Frühwald, was im Gefolge der 60er Jahre nicht selbstverständlich war, eine gewisse Distanz und erwartete von ihnen 'Zucht' im Auftreten sowie natürlich Fleiß. Dann aber erfuhren auch sie 'väterliche' Zuwendung und wurden als ernste Gesprächspartner respektiert. Frühwalds Lehrangebot war stets auf die Erwartungen und Bedürfnisse der Vielen ausgerichtet, und er hat dafür notorisch überfüllte Seminare in Kauf genommen. Den Verzicht auf die Annahme eines Rufes nach Berlin in den 80er Jahren ließ sich Frühwald durch die Einrichtung der Münchner Poetikvorlesungen, die vor allem den Studenten zugute kamen, entgelten. Als Prorektor hat er, noch über das Studium hinaus vorsorgend, das Projekt "Student und Arbeitsmarkt", das den Absolventen der Geisteswissenschaften den Zugang in die Wirtschaft eröffnen sollte, mit initiiert. Lehre war und ist für Wolfgang Frühwald ein Stück seiner Identität als Hochschullehrer; nicht zuletzt die auf die Vermittlung von Literatur begierigen Studenten waren, wie ich hörte, für ihn ein Grund, von der DFG auf seinen alten Lehrstuhl zurückzukehren, anstatt Rufen auf Ordinariate für Bioethik oder für christliche Weltanschauung und den Angeboten durchaus reizvoller politischer Ämter zu folgen.

Was Frühwald in der Forschung getan hat, darf man mit Fug "Dienst am 'Volk'" nennen - in höherem Auftrag, wie der ideale absolute Fürst. Das beginnt mit dem Dienst am Text, seiner unverfälschten Tradierung und historischen Erläuterung. Mit Editionen, Kommentaren und Reflexionen über deren Probleme liefert Frühwald unschätzbare Vorarbeit für die interpretierende Zunft und für das Verstehen suchende Publikum. Hier wie als Interpret ist er in erster Linie dienender Historiker, nicht einer, der sich im originellen Einfall, in der jeweils aktuellen Interpretationsmethodik kreativ selbst verwirklicht; er orientiert sich an den Intentionen der Autoren und erläutert die sozialhistorische und politische Einbettung der Werke. Und erst recht die inhaltlichen Schwerpunkte von Frühwalds Forschung entsprechen wie von selbst der Sorge des 'Fürsten' um das gemeine Wohl und um den einzelnen. Frühwald liebt die Literatur, die - wie gebrochen auch immer - eine substantielle religiöse, ethische, soziale, politische Botschaft vermittelt, und er erschließt sie und ihre Kontexte in dieser Perspektive: Dichtungen und Schriften der Mystik, der Romantik, besonders der katholischen und nationalen, die Literatur revolutionärer Umbrüche, des Widerstands im Dritten Reich und des Exils, christliche und engagierte Literatur der Nachkriegszeit. Die wissenschaftspolitischen Reden und Schriften des letzten Jahrzehnts, die jede disziplinäre Begrenzung hinter sich lassen, fügen sich bruchlos in das Konzept, das in all diesem zum Ausdruck kommt: Literatur wie Wissenschaft stehen im Dienst des guten, vernünftigen, ethisch verantworteten Lebens, und so auch derjenige, der sie öffentlich vertritt. Das Textmodell, das vielleicht anachronistisch scheinen könnte, zeigt sich den Anforderungen von Gegenwart und Zukunft durchaus gewachsen.

Nun aber zu Georg Jäger. In ihm möchte ich einen - Hypertext sehen. (Ich rechne damit, daß manche von Ihnen keine eigene Anschauung mit dieser Textsorte verbinden; auch ich habe meine vagen Vorstellungen durch sekundäre Information ergänzen müssen und kann nur hoffen, daß mein Verständnis der Sache in etwa entspricht). Literarische Hypertexte oder hyperfiction gab es noch nicht, als Jäger das Licht der Welt erblickte, und nicht einmal, als er seine wissenschaftliche Laufbahn begann. Dennoch schien mir dieses Textmodell auf Anhieb das geeignetste, um seine Persönlichkeit zu veranschaulichen. Ich zitiere zunächst eine Definition von Beat Suter, dem Verfasser der ersten deutschsprachigen Monographie über Hyperfictions, Zürich 2000: "Hyperfiction ist [...] die literarische Ausformung eines elektronischen Textes mit Verbindungen, die den multiplen Zugang zu Informationen ermöglichen". Ein Hypertext ist demnach ein Produkt der neuen Medien, der digitalen Speicherung; das Textmodell ist erst mit der Entwicklung und Etablierung des World Wide Web entstanden. Zu situieren ist dieser Text also in der jüngsten Gegenwart, obwohl er - wie wir noch sehen werden - die Möglichkeit hat, auch mit der Vergangenheit zu interagieren.

Zum Hypertext gehört kein Erzähler, er hat überhaupt keine lineare, narrative Abfolge von Textelementen, nicht einmal - wie der 'moderne' Roman spätestens seit Tristram Shandy - eine gestörte. Seine Struktur ist vielmehr komplex und netzartig, weil der Autor durch Sprungmarken, sogenannte 'links', für vielfältige Verbindungen zwischen Textelementen, ggf. auch hin zu andern Texten und Kontexten, gesorgt hat. Die 'Macht' des Autors beschränkt sich aber auch schon auf dieses Setzen der 'links', also auf das Öffnen von Zugängen zu vielen Möglichkeiten; was als "Text" auf den Bildschirmen und in den Köpfen von Lesern real wird, liegt völlig in deren Hand und Mausclick. Aber nicht nur die Leser werden zu einer offenen Kommunikation mit und in dem Hypertext befähigt, sondern auch andere Texte und Autoren. Lust am Spiel ist Voraussetzung, aber auch Freude an Kooperation: Autoren arbeiten zusammen an Texten, ihre Hypertexte werden untereinander vernetzt. Und ein letztes: 'Hinter' dem Text auf dem Bildschirm läuft ein Programm, das die sichtbare Oberfläche generiert. Der kreative Autor muß oftmals mit einem Programmierer zusammenarbeiten; aber mehr und mehr eignen sich die Autoren auch selbst Programmierkenntnisse oder Kenntnisse zur Seitengestaltung im Internet an.

Sicher ist Ihnen nach dieser Charakteristik sofort klar geworden, warum ich Georg Jäger als Hypertext imaginiere. Am wenigsten deshalb, weil er sich in ungeahnter Schnelligkeit und Intensität mit den Möglichkeiten des neuen Kommunikationsmediums Internet vertraut gemacht hat und es bereits planmäßig und in ausgreifenden Projekten wie "IASL Online" nutzt. Entscheidend waren für mich die Elemente, in denen sich, bei manchen Gemeinsamkeiten, der Gegensatz zum Textmodell "Frühwald" manifestiert. Im Hypertext ist 'Führung' durch eine individuelle Persönlichkeit aufs Äußerste zurückgenommen; sie verbirgt sich hinter scheinbar rein sachbezogenen, technischen Leistungen, dem Programmieren, dem Setzen der Links. Auch Georg Jäger tritt bei dem, was er tut, als Person, als 'Autor' nur wenig in Erscheinung; er geht ganz im Dienst an der Sache auf. Sein Arbeitszimmer - mit Verlaub gesagt, eine Bruchbude mit Urväterhausrat und modernstem technischen Gerät, mit allem funktional Unentbehrlichen, aber eigentlich ohne Sitzplatz für den Besucher - ließe sich herrlich als Symbol für die Potentialität des in sich unvollkommenen, aber alles ermöglichenden Hypertexts interpretieren. (Zu den ungeahnten Möglichkeiten gehört, daß der Charme des Besitzers den Raum sogar noch gemütlich macht ...)

Natürlich hat auch Jäger - 1985/86 - das Institut als Geschäftsführender Vorsitzender geleitet und u.a. eine bis heute nutzbringende Strukturveränderung vorgenommen, nur ganz im Hintergrund: Das geheime Zentrum des Instituts, die Aktenablage, hat Jäger neu organisiert. Wiederum an unspektakulärer Stelle, in der Haushaltskommission, in der jedoch die ganze Universität im Hinblick auf den nervus rerum, die Personal- und Sachmittel, "verlinkt" erscheint, hat er von 1987 bis 1993 über zwei Amtsperioden hin mit großem Einsatz und hochgeschätzter Kompetenz gewirkt; durch fast zwei Jahre hindurch habe ich das als Frauenbeauftragte beobachten können. Die Referenten, die ihren gesamten Referatsbereich im Detail kennen müssen, werden dabei notwendigerweise selbst zu Hypertexten, zu Speichern, deren Informationen rasch und nach vielen Aspekten hin abrufbar sein müssen. Als Fachgutachter der DFG - wieder über zwei Wahlperioden, von 1988 bis 1994 - hat Georg Jäger erneut im Verborgenen eine immense Arbeitslast geschultert - ich sehe noch sein ständig von Aktenpaketen überquellendes Fach im Geschäftszimmer - , dabei aber unsere Disziplin und vor allem den wissenschaftlichen Nachwuchs in allen Schattierungen kennengelernt: der netzartige Hypertext wuchs sich in dieser fachbezogenen Dimension weiter aus.

So war es nur folgerecht, daß Jäger bereits zu Anfang der Evaluationen von Universitäten in den 90er Jahren in den jeweiligen Kommissionen an der Evaluation der Neueren deutschen Literaturwissenschaft von Hamburg und Kiel mitgewirkt und die PH Dresden mit "abgewickelt" hat, wie der scheußliche Ausdruck für eine höchst prekäre Aufgabe heißt. Weitere, über die Universität und das etablierte Fach hinausweisende "Links" des Jäger-Hypertexts führen in die Bereiche Bibliothek, Archiv und Verlagswesen: seine langjährigen Mitgliedschaften, teils auch als Vorsitzender, in der Ständigen Arbeitsgruppe für germanistische Bibliographie und im Verlagsausschuß DFG sowie in der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Als Georg Jägers wichtigste, in der Öffentlichkeit von Verlag und Buchhandel überall gerühmte Leistung ist jedoch die Einrichtung des Aufbaustudiengangs Buchwissenschaft 1987 und sein erreichter Ausbau zum Diplomstudiengang 1996 anzusehen. Auf den stärker historisch ausgerichteten Vorarbeiten Herbert G. Göpferts fußend, organisierte Jäger ein praxisbezogenes Studium, dessen Lehrangebot von Kollegen verschiedener Fakultäten und vielen universitätsfremden Praktikern bestritten wird. Dieser komplexen Koordinationsleistung wird, scheint mir, wieder allein die Struktur des Hypertexts gerecht; der 'Autor' hat sich eine gewisse Kontrolle nur als Vorsitzender der Prüfungsausschüsse bewahrt.

Wurden in allen diesen Aktivitäten Jägers vor allem die Leistungen seines 'Textes' durch vielfältige Vernetzung nach außen sichtbar, so ist mit den Forschungen Jägers das Profil nach innen nachzuzeichnen. Es setzt sich aus mindestens vier ganz disparaten Elementen zusammen: Zum ersten (auch zeitlich) stoßen wir auf akribische, von großen Materialmengen gestützte historische Studien zu literarischen Strömungen (Empfindsamkeit, Realismus und Gründerzeit), zum Lesen, auch der trivialen Unterhaltungsliteratur, und vor allem zu den Institutionen der Literaturvermittlung (Schule, Leihbibliotheken, zuletzt Buchhandel); diese Studien sind oft - vrgleiche Hypertext - in Kooperation mit Kollegen erarbeitet. Zum zweiten gibt es höchst anspruchsvolle theoretische Entwürfe - zuletzt in Adaption der Systemtheorie von Niklas Luhmann - , die synchron und diachron das Verhältnis von Literatur und Gesellschaft, auch an konkreten Beispielen, modellieren. Zum dritten finden wir ein ausgeprägtes Interesse an der Erschließung experimenteller Texte des eben vergangenen Jahrhunderts, bis zur unmittelbaren Gegenwart, und als viertes, ganz neues Element, Reflexionen über neue Medien, ihre Auswirkungen auf Literatur, ihre Vermittlung und Wahrnehmung, und auf die Literaturwissenschaft; sie sind eng mit Jägers gegenwärtiger Praxis korreliert. So disparate Elemente doch noch zu integrieren, vermag nur ein auch intern eng verlinkter Hypertext!

Schließlich noch ein Blick auf Georg Jägers Verhältnis zu Mitarbeitern und Studenten: Zu den Mitarbeitern muß es nach dem Textmodell die Struktur von Kommunikation und Kooperation unter Gleichen haben und hat es auch. Viele Worte werden nicht gemacht, die Sache steht im Mittelpunkt und begeistert alle, inzwischen auch quer durch das Institut. Hier kommt tatsächlich auch die Lust am Spiel zum Zuge - das einzig hedonistische Moment in Jägers sonst eher asketischen Arbeitsmoral. Nicht verschwiegen sei, daß gelegentlich auch keine "Links" gesetzt werden, wo man es erwartet hätte. - Zu den Studenten gibt es natürlich ein Gefälle von Informiertheit, das Jäger durch sorgfältig und mit großem didaktischen Geschick durchgeführte Vorlesungen zu verkleinern sucht. Freilich sind 'die Vielen' unter den Germanisten den Ansprüchen, die seine Arbeitsgebiete stellen, kaum gewachsen, und die Buchwissenschaftler, durch die Eingangsbedingungen für den Studiengang bereits 'gesiebt', stellen von vornherein eine hochmotivierte Auslese dar. So zieht der Hypertext Jäger tendenziell nur diejenigen an, die von seiner komplexen Struktur profitieren können.

Bleibt ein Phänomen zu erklären, das uns auf den Textvergleich hinführt: Die beiden 'Texte', obwohl scheinbar so verschieden, haben an zwei Stellen aufs Fruchtbarste interagiert: von 1979 bis 1985 in der "Münchener Forschergruppe für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770 bis 1910", und in der Herausgeberschaft des Internationalen Archivs für Sozialgeschichte der Literatur, in die Wolfgang Frühwald 1982 eintrat (zu den Gründern von 1976, zu Alberto Martino, Georg Jäger und Friedrich Sengle hinzu). An beiden Stellen haben sich Jäger und Frühwald ihrem Textmodell entsprechend aufs beste, wenn auch nicht immer konfliktfrei, ergänzt: Wolfgang Frühwald repräsentierte und verantwortete die Forschergruppe, die in der Situation erster, einschneidender Stelleneinsparungen zur Weiterbeschäftigung wissenschaftlicher Mitarbeiter entstanden war, zusammen mit Friedrich Sengle nach außen, gegenüber der DFG, und vertrat nach innen die strenge Historie; Georg Jäger arbeitete mit Jörg Schönert, Dieter Pfau, mir selbst und einigen weiteren Interessierten, manche spätere Entwicklung vorwegnehmend, an einer Theorie, mit der die sehr heterogenen Projekte der Gruppe systematisch 'vernetzt' werden sollten (das Wort kannte man damals noch nicht). Gern hätten wir damals auch den historischen Wandel mit modelliert, aber die dritte Verlängerung kam nicht zustande. Da auch das IASL die produktive Spannung zwischen Historie und Theorie widerspiegelt, stelle ich mir hier eine ähnliche Rollenverteilung zwischen den Herausgebern vor.

Nun aber der Textvergleich: Trotz der so unterschiedlichen Textsorten lassen sich doch große Gemeinsamkeiten zwischen Frühwald und Jäger entdecken - so sehr, daß in vielen Hinsichten auch Frühwald als Hypertext beschreibbar gewesen wäre. (Die zahlreichen Beispiele für seine verantwortliche Mitarbeit in Jurys, Kommissionen, Vorständen von Gesellschaften und Akademien usf. oder auch seine Teilnahme an studentischen Fortbildungsveranstaltungen, die seine weniger nach außen sichtbaren Aktivitäten markieren, habe ich vorhin gar nicht erwähnt). Gemeinsam ist bei beiden das Zurücktreten der Person hinter den Aufgaben, die selbstlose Bereitschaft zum verantwortlichen Dienst an der Sache, an ihrem Fach, an der Wissenschaft und an den Menschen, die diese betreiben, um aus ihr Erkenntnis und Orientierung zu gewinnen, und natürlich Chancen für den Einstieg ins Arbeitsleben; beiden gemeinsam ist der ungewöhnliche Überblick über das breitgefächerte Fach und weit darüber hinaus; beide haben die Gabe, Probleme rasch zu erkennen, pragmatische Lösungen zu finden und in nahen, machbaren Projekten umzusetzen; beiden gemeinsam ist eine geradezu asketische Arbeitsdisziplin, die sie - das wage ich jetzt einmal zu behaupten - doch nicht als workoholics erscheinen läßt; und beide teilen die kritische Distanz zu einer Welt, die von der Gier nach Geld und Konsum angetrieben wird.

Die gleichwohl bestehenden Verschiedenheiten resultieren bei geringem Altersabstand doch wohl u.a. aus einem Generationswechsel - das wollten die Textmodelle andeuten. Was jeweils den Text generiert, ist verschieden. Bei Wolfgang Frühwald liegt es am Tage: Er ist verwurzelt in einem unorthodoxen katholischen Christentum. Bei Georg Jäger ist das 'Programm hinter dem Text' nicht so leicht zu erkennen: Ist noch ein Programmierer mit am Werk, oder hat er die Produktion schon ganz selbst übernommen - vielleicht noch imprägniert von dessen Wissen und Wollen? Wir müssen es nicht wissen. Eins ist sicher, wir haben zwei Texte vor und unter uns, die in den 'Spitzenkanon' gehören, weil sie ihr Modell in bester Form repräsentieren: musterhaft, vorbildlich, nachahmenswürdig.

Wolfgang Frühwald und Georg Jäger haben nach außen und innen das Ansehen und die Wirkung der Universität, der Fakultät, des Instituts und unseres Faches in ungewöhnlicher Weise gefördert. Ich danke den Jubilaren im Namen meiner Auftraggeber. Und ich danke ihnen ganz persönlich und herzlich - weil sie so sind, wie sie sind.

Ein Nachtrag: Ich habe mit Ihnen das bekannte Spiel gespielt: "Personen durch Vergleiche erraten". Bei jedem solchen Spiel erheben sich mittendrin schon Diskussionen, ob und inwiefern die Vergleiche treffen oder vorbeigehen, und diese Erörterungen geben oft über die zu erratenden Charaktere erst den wahren Aufschluß. So mögen Sie im Verlauf dieses Abends weiterspielen!


Prof. Dr. Renate von Heydebrand
Universität München
Institut für Deutsche Philologie
Schellingstr. 3
D-80799 München

Ins Netz gestellt am 26.07.2000.

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