Rudolf Tippelt

Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band VI: 1945 bis zur Gegenwart. Erster Teilband: Bundesrepublik Deutschland. Herausgegeben von Christoph Führ und Carl-Ludwig Furck. München: Verlag C.H. Beck 1998. 694 S. 228,-.



Der Anspruch des vorliegenden Handbuchs ist es, die breite Diskussion zur Bildungsgeschichte der Nachkriegszeit zusammenzufassen. Es ging den Herausgebern darum, ein Handbuchwissen zur Bildungsentwicklung nach 1945 zu sichern. Dem Leser soll ein Überblick geboten werden über die interdisziplinär ge- fächerte bildungsgeschichtliche Forschung, um für die gegenwärtigen Auseinandersetzungen in der Bildungsforschung und der Bildungspolitik Grundlagen zur Lösung anstehender Probleme in Erinnerung zu bringen. Damit wendet sich das Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte nicht nur an Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, sondern auch an Verwaltungsbeamte und Politiker, an Lehrer und an Dozenten der Erwachsenenbildung sowie an Erzieher und Eltern, die sich über die oberflächlich geführten Tagesauseinandersetzungen zu Erziehungsfragen hinaus eine fundierte Urteilsfähigkeit erarbeiten wollen.

Es stört keineswegs, daß in die sehr informationsreiche Schrift mit dem deutlichen Bemühen um objektive Tatsachenfeststellung auch Urteile und Stellungnahmen eingehen, die keineswegs homogen und bildungspolitisch wie bildungstheoretisch aufeinander abgestimmt erscheinen. Auch gibt es zwischen den einzelnen Kapiteln Überschneidungen, die keinen Nachteil darstellen, denn nur so ist es möglich, daß der Leser jeden einzelnen Artikel als Informationsbasis heranziehen kann, ohne mühsam immer Querverweisen nachzugehen. Der vorliegende erste Teilband zur Bundesrepublik Deutschland gewinnt noch dadurch an Reiz, daß ein zweiter Teilband zur Deutschen Demokratischen Republik und den neuen Bundesländern ebenfalls vorliegt, der aufgrund einer ähnlichen Gliederung vergleichend herangezogen werden kann.

Worum geht es nun in diesem Handbuch der Bildungsgeschichte? In einem ein- führenden Artikel von Christoph Führ sowie in einer breit konzipierten Einleitung werden Grundzüge der deutschen Bildungsgeschichte seit 1945 übersichtlich und klar dargestellt. Es wird auf rechtliche, administrative, bildungspolitische und institutionstheoretische Grundlagen der Bildungsentwicklung eingegangen. In den anschließenden neun Kapiteln wird beispielsweise der Wandel von Familie, Kindheit und Jugend in bezug zur Bildungsentwicklung analysiert, werden pädagogische Reformen und der Wandel der Erziehungswissenschaft reflektiert, wird äußerst differenziert und kenntnisreich über die institutionelle und inhaltliche Entwicklung von Schulen und Hochschulen informiert, wird die Berufsausbildung in ihrer Ausdifferenzierung präzise dargestellt, werden sozial- pädagogische Problemlagen und institutionelles Handeln in diesem Feld analysiert und die Ausformung der Erwachsenenbildung zum quartären System des Bildungswesens aufgezeigt, und es wird auf den Einfluß der Medien im Erziehungsbereich differenziert nach Perioden eingegangen. Nicht selbstverständlich findet man auch einen instruktiven Artikel über die Bildungsanstrengungen im Bereich des Militärs.

Schon aus dieser formalen Gliederung und Übersicht wird deutlich, daß es den Herausgebern und den Autoren darum geht, die Grundzüge der bildungspolitischen Entwicklung der letzten 50 Jahre zu skizzieren und dabei die zeitgeschichtliche Forschung im Blick auf bildungshistorische Aspekte einzuordnen. Kritische Fragen über die Restauration oder den Neuaufbau des Bildungswesens nach 1945, über die Wirkungen der Studentenrevolte, über das Scheitern einer Strukturreform des Bildungswesens und den Abbruch einer Gesamtbildungsplanung in den 70er Jahren werden behandelt. Allerdings bleibt unstrittig, daß sich im Bildungswesen ein tiefgreifender Wandel vollzog, der einige allgemeine Trends, die in den verschiedenen Kapiteln aus pluralen Perspektiven dargelegt werden, erkennen läßt. Die Bildungsentwicklung ist mit einer komplexen Modernisierung des Gesellschaft verbunden.

Modernisierung wiederum meint zwei verschiedene und in ihrer historischen Dynamik manchmal widersprüchlich auftretende Strömungen. Einerseits geht es bei Modernisierungsprozessen um die Steigerung von Effizienz, um das Durchsetzen des Leistungsprinzips, um die Behauptung von Qualifikationsansprüchen. Dabei geraten Modernisierungsprozesse regelmäßig in Widerspruch zu den Privilegien saturierter Bevölkerungsgruppen. Andererseits sind Modernisierungsanstrengungen mit den Zielen individueller Menschenbildung verknüpft. Die europäische Aufklärung verpflichtete die Modernisierung der Gesellschaft auf die Emanzipation des Individuums, auf die Entfaltung von Lernbereitschaft, Vernunft, Mitmenschlichkeit und Selbstbestimmung jedes einzelnen sowie auf die Entwicklung von Solidarität untereinander. Das Werk wird aber auch konkreter:

Die deutsche Bildungspolitik ist Teil einer europäischen Innenpolitik im Rahmen des vereinten Europas geworden, die strukturelle Arbeitslosigkeit stellt eine der herausragenden Anforderungen an die aktuelle Bildungsentwicklung dar. Die Entwicklung hin zu einem lebenslangen Lernen in einer Wissensgesellschaft prägen Bildungseinrichtungen und Bildungskonzepte. Friedrich Paulsen hat in seiner unübertroffenen Skizze zum deutschen Bildungswesen des 19. Jahrhunderts im Rückblick zwei durchgehende Grundzüge hervorgehoben. Der eine Grundzug betrifft die fortschreitende Verstaatlichung und Verweltlichung des Bildungswesens und der andere die beständige Ausweitung schulmäßiger Bildung auf immer weitere Kreise und eine damit einher- gehende Demokratisierung der Bildung. Zutreffend hebt Christoph Führ einleitend hervor, daß diese Feststellung Paulsens nicht nur für das 19. Jahrhundert, sondern auch für das 20. Jahrhundert gelten kann. Die "Demokratisierung der Bildung" - immer auch als Teil des Aufbaus einer demokratischen Grundordnung zu betrachten - führte nach 1950 zur größten Expansion des Sekundar- und Hochschulwesens in der deutschen Bildungsgeschichte und zum Aufbau eines stark differenzierten beruflichen Schulwesens sowie zu sich professionalisierenden sozialpädagogischen Einrichtungen. Überblickt man die zu analysierende Epoche zwischen 1945 und 1990 und versucht herausragende Entwicklungstrends im Bildungsbereich zu charakterisieren, so kann man neben der in vielen Artikeln zum Ausdruck kommenden quantitativen Expansion und dem erwähnten Demokratisierungsanspruch folgende wesentliche Merkmale erkennen:

(1) Es kam zu einer deutlichen institutionellen Differenzierung des Bildungswesens, so daß nicht nur im Bereich der Berufsbildungsmaßnahmen unterhalb des akademischen Niveaus der Grad der Verflechtungen von Einrichtungen miteinander, die Eingangsvoraussetzungen und die erreichbaren Berechtigungen nahezu unüberschaubar geworden sind. Institutionelle Differenzierung läßt sich auch in anderen Bereichen, z. B. in der Erwachsenenbildung, als eine Pluralisierung von Angeboten und Trägern kennzeichnen.

(2) Die Institutionalisierung und Formalisierung von Bildung und Ausbildung hat zugenommen. Die Gesetzgebung hat im Sekundar-, im Hochschul- und im Berufs- bildungsbereich genauso wie im Bereich der Sozialpädagogik und noch am wenigsten in der Erwachsenenbildung, normierend und teilweise auch reglementierend eingegriffen. Es gibt kein Handbuch auf dem deutschen Markt, das die rechtlichen Grundlagen und Rahmenbedingungen, die Verrechtlichung der Bildungsprozesse zwischen 1950 und 1990 und die damit einhergehenden Probleme auch mit Blick auf die europäische Einigung ausführlicher und differenzierter darstellen würde. Die wichtigen politischen Institutionen, wie die Kultusministerkonferenz, das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, die Bund-Länder- Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung, der Planungsausschuß für den Hochschulausbau, die verschiedenen und mit wechselndem Erfolg arbeitenden Gremien der Politikberatung, die Hochschulrektoren- konferenz usw. werden in ihrer Entstehung, ihrem Einfluß und mit ihren Schwierigkeiten analysiert. In einem spannenden Artikel begründet der Politologe Thomas Ellwein die These, daß eine öffentliche Bildungsdiskussion zwar stattgefunden hat, diese aber zwei äußerst wichtige Themen, nämlich das Bild einer zukünftigen Gesellschaft und die Rolle des Staates dabei weitgehend ausgeklammert hat. Ellwein zeichnet nach, wie ein pluralistisches Bildungswesen im Westen Deutschlands entstehen konnte, ein Bildungswesen, das staatlich gelenkt, organisatorisch ziemlich einheitlich, aber inhaltlich relativ offen und vom Staat nur bedingt geprägt ist. Seine Analyse mündet in die Forderung, daß die Gesellschaft wieder mehr Verantwortung für bildungspolitische Ziele und für die Bildung von Tradition und Zukunft übernimmt.

(3) Diese Forderung des Politologen sehen andere Autoren bereits eingelöst, so daß als weiterer Entwicklungstrend die Vergrößerung der bildungsinteressierten Öffentlichkeit benannt wird. Die wirtschafliche und politische Bedeutung von Bildung, auch im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Krisenerscheinungen und dem gesellschaftlichen Wandel hat dem Bildungswesen und der bildungspolitischen Diskussion erneut einen höheren Stellenwert verschafft. Besonders der Artikel über Medien zeigt, wie in den 70er und 80er Jahren durch Expansion, Verflechtung und Differenzierung und wie dann in den 90er Jahren durch die neuen Medien und die multimedialen Innovationen, interaktive Netze entstehen, die neue Chancen und auch Gefahren der Wissensgesellschaft implizieren. Die neue Entfachung öffentlicher Diskurse, die zur gesellschaftlichen Regulierung des beständigen Wissenszuwachses und der Medieneinflüsse baut auf den selbstbewußten mündigen Bürger, der seine gesellschaftliche Existenz auch jenseits der Arbeitsgesellschaft zu definieren weiß. Unabhängigkeit gegenüber der Bevormundung von Experten und Freiheit auf den Zugriff von Datensystemen wird als eine neue zusätzliche Zielperspektive öffentlicher Bildungsdiskurse genannt.

(4) Als vierte Entwicklungslinie ist die Verlagerung der Pädagogisierung von der bildungsphilosophischen auf die instrumentelle Ebene erkennbar. Der pädagogische Charakter von Bildung und Ausbildung, verstanden als die Begründung interpretationsbedürftiger oberer Ziele und einer scheinbar stimmigen Bildungs- oder Berufsbildungstheorie, wurde in den letzten 50 Jahren von der bildungsphilosophischen Ebene auf eine instrumentelle Ebene verlagert, geprägt durch Curriculumrevisionen (Wandel von Lehrplänen, von Ausbildungsordnungen und von Programmen) und die Professionalisierung der Lehrer, betrieblichen Ausbilder, Sozialpädagogen und Erwachsenenbildner. Die Vor- und Nachteile einer solchen Entwicklung werden für die verschiedenen Bildungsbereiche in den einzelnen Kapiteln dargelegt. Die wissenschaftstheoretischen Konsequenzen einer solchen Abwendung von Bildungsphilosophie hat Oelkers in seinem provozierenden Artikel benannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe sich angesichts der Vielheit pädagogischer Theorien die Einheit der Pädagogik konzeptionell und auch institutionell nur schwer bewahren lassen. Die Erziehungswissenschaft als die für die Analyse von Bildungsprozessen vorrangig zuständige Disziplin befände sich in dem schwierigen Prozeß des Übergangs von einer philosophischen Pädagogik zu einer multidimensionalen Erfahrungswissenschaft mit philosophi- schen Anteilen. Diese Entwicklung sei noch längst nicht abgeschlossen. Es drohe eine überkomplexe Disziplin zu entstehen, die durch eine äußerst dynamische Heterogenität gekennzeichnet ist. Aber wie auch in Nachbardisziplinen würde die Vereinheitlichung von pädagogischen Theorien, die Nivellierung des theoretischen Niveaus, einer Einzeldisziplin die Bildungsforschung nicht weiterbringen und das sich ausdifferenzierende Fach keineswegs zusammenhalten. Als Möglichkeit der Integration bietet sich einzig der normativ nicht festgelegte, organisatorisch voranzutreibende Diskurs der Bildungsforscher, der Bildungspolitiker und der praktischen Pädagogen über Struktur und Wirksamkeit von erzieherischem Handeln an.

Die besondere Stärke des vorliegenden Handbuchs liegt nicht in der wissenschaftstheoretischen Erörterung pädagogischer Themen und Theoreme, das ist auch nicht sein Anspruch. Vielmehr gelingt es den Herausgebern und den Autoren, äußerst kenntnis- und bisweilen auch datenreich Periodisierungen und Phasen der Entwicklung einzelner Teilbereiche pädagogischer Praxis und besonderer Institutionen übersichtlich und gut verständlich darzustellen. Bislang wurden vor allem die bildungspolitischen und institutionellen Entwicklungen hervorgehoben, aber das Handbuch enthält auch breite sozialisationstheoretische Erörterungen über den Wandel der Familie, den Wandel der Kindheits- und der Jugendphase, die ebenfalls in einem sozial- und bildungshistorischen Kontext diskutiert werden. Das Zusammenspiel von bildungspolitischen, gesellschaftstheoretischen, sozialisationstheoretischen und institutionentheoretischen Erörterungen überzeugt. Dieses gründlich und bis in die Mitte der 90er Jahre auch aktuell informierende Werk verfügt, das ist fast selbstverständlich, über eine ausgezeichnete Überblicksbibliographie nach jedem Artikel und ein Sach-, Namens- und Ortsregister hilft bei der zielgerichteten praktischen Nutzung.

Insgesamt gesagt, liegt ohne Zweifel ein neues Standardwerk zur Bildungsgeschichte von 1945 bis 1990 vor, das den eingangs formulierten Anforderungen in der Tat entspricht.


Prof. Dr. Rudolf Tippelt
Fakultät für Psychologie und Pädagogik der Ludwig-Maximilians- Universität München
Pädagogik II
Leopoldstraße 13
80802 München

Ins Netz gestellt am 12.01.1999.

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