IASL 2009, 1Aufsätze (Band 1)
Dass im Mittelalter Dichtungen, vor allem volkssprachliche Dichtungen, zum großen Teil laut vorgetragen worden sind, ist Handbuchwissen. Demgegenüber wird wie selbstverständlich angenommen, dass die neuzeitliche Dichtung auf stumme Lektüre hin angelegt sei. Diese Kontrastierung von mittelalterlicher und neuzeitlicher Literaturrezeption verdankt sich verbreiteten Vorstellungen über (angebliche) Auswirkungen der Erfindung des Buchdrucks. In der vorliegenden Studie wird der Versuch unternommen, Mediengeschichte nicht als ein Nacheinander von medialen Bedingungen zu begreifen, sondern als eine Ausdifferenzierung der Funktionen von mündlicher und schriftlicher Literaturrezeption. Die Neuzeit kennt nicht nur stilles und individuelles Lesen und Literalität, sondern ist gekennzeichnet durch eine Vielfalt mündlicher Literaturvermittlung. Möglicherweise kann sogar die Etablierung eines gesonderten ästhetischen Textbereichs Dichtung im 18./19. Jahrhundert durch die spezifische mediale (stimmgestützte) Rezeption erklärt werden. It is general knowledge that vernacular poetry was mainly presented orally in the Middle Ages. In contrast, there is a general assumption that modern age poetry was intended for silent reading. This contrasting of Medieval and modern age literary reception is founded on widespread concepts of the effects of the invention of printing. In this study, media history is not understood as a sequence of media pre-conditions, but as a differentiation of the functions of oral and written literary reception. The modern age not only knows quiet and individual reading and literality, but is also characterised by diverse oral literary consumption. The establishment of poetry as a separate aesthetic text field in the 18th/19th centuries might even be explained by this specific medial (voice-supported) reception. Gegenstand des Aufsatzes ist die Frage nach der Bewertung des Brackenseiles aus medientheoretischer Perspektive. Ausgangspunkt der Argumentation ist die Beobachtung, dass der Text eine medienspezifische Differenzierung in der Konnotation des Brackenseiles vornimmt: Während das Lesen zu Trennung, Rivalität und Tod führt, stiftet das Vernehmen der Brackenseil-Inschrift bei ihrer Verlesung am Artushof durch einen Kleriker Versöhnung und Glück. Der Aufsatz unternimmt den Versuch, diese Bewertung mit zeitgenössischen Konnotationen von Schrift zu verknüpfen. The object of the essay is to evaluate the brackenseil from a media-theoretical perspective. The starting point of our analysis is the observation that the text undergoes a media-specific differentiation in its connotation: While its reading leads to separation, rivalry and death, the hearing of the brackenseil inscription during its presentation by a cleric in Arthur's Court leads to reconciliation and happiness. This essay attempts to link this evaluation with contemporary connotations of the written word. Die Ruine fungiert in der romantischen Literatur durchgehend als Chiffre zur Darstellung von Zeit und Geschichtlichkeit. Im Verlauf der Epoche vollzieht sich an der Ruinendarstellung jedoch ein Funktionswechsel. In den ersten Jahrzehnten nach 1800 wird die Ruine vor allem als Metapher eingesetzt. Die Spätromantik dagegen tendiert zu einem metonymischen Gebrauch der Ruine, der die Fragment-Poetik der Frühromantik wieder aufgreift. Der vorliegende Aufsatz zeichnet diese Entwicklung beispielhaft nach und erkennt in ihr einen Beleg für die Modernität und Einheit der ganzen romantischen Epoche. In Romantic literature, ruins served as a cipher for the representation of time and historicity. In the course of the epoch, however, the function of the depiction of ruins changed. In the first decades after 1800 the 'ruin' was mainly used as a metaphor. In late Romanticism, however, it tended to be used in a metonymic way, drawing on the poetics of fragmentation of early Romanticism. This essay uses examples to trace this development, and recognizes in it proof of the modernity and unity of the entire Romantic period. Der Aufsatz untersucht die diskursive Koppelung von ästhetischer Produktion und biologischer Reproduktion am Beispiel des österreichischen Dramatikers Franz Grillparzer. Zur Diskussion steht die Verwendung von prokreativen Analogien und variablen Geschlechtszuschreibungen in der imaginativen Selbst- und Fremdkonstruktion von Grillparzers Autorschaft in Verbindung mit der genealogischen Problematik seines schauerromantischen Erstlingsdramas Die Ahnfrau (1817). Der erste Teil erörtert Grillparzers diskursive Femininität auf der Folie der engen Beziehungen zu seinem Wiener Mentor Joseph Schreyvogel; der zweite Teil beschreibt Grillparzers literarhistorisches Profil als österreichischer Klassiker und Weimarer Epigone bei Eduard von Bauernfeld, August Sauer, Friedrich Gundolf und verwandte Aspekte der Grillparzer-Rezeption bei Hugo von Hofmannsthal. The essay examines the discursive link between aesthetic production and biological reproduction in the case of the Austrian dramatist Franz Grillparzer. The argument focuses on the use of procreative analogies and variable gender ascriptions in the imaginative construction of Grillparzer's authorship in conjunction with the genealogical issues raised by his gothic first play, Die Ahnfrau (1817). The first section discusses Grillparzer's discursive femininity vis-à-vis his close relationship to his Viennese mentor Joseph Schreyvogel; the second section describes Grillparzer's literary-historical profile as a preeminent Austrian writer and heir to Weimar Classicism as perceived by Eduard von Bauernfeld, August Sauer, Friedrich Gundolf, and in some related aspects of Hugo von Hofmannsthal's reception of Grillparzer. Zwischen 1930 und 1956 wechseln Hans Grimm und Ernst Jünger eine Reihe von Briefen miteinander, in denen verschiedene literaturpolitische Erwägungen mitgeteilt werden. Vor allem aber spiegelt der Briefwechsel das Verhalten und die unterschiedliche Einstellung der beiden Schriftsteller gegenüber dem Nationalsozialismus. Der Briefwechsel wird hier erstmals präsentiert. Between 1930 and 1956, Hans Grimm and Ernst Jünger exchanged a series of letters in which they shared various literary-political notions. Above all, however, their correspondence mirrored their behavior and divergent attitudes towards National Socialism. This exchange is presented here for the first time. Obwohl Peter Hacks nach Ansicht der Forschung zu den bedeutendsten DDR-Dramatikern zählt, gelten seine Produktionsstücke - im Gegensatz zu denen Heiner Müllers - als nur bedingt systemkritisch. Mit der Forderung nach einer »totalen Dialektik«, die alles mit allem kontrastiert und den »Konflikt« zum »einzige[n] Thema der Kunst« macht, stellt aber auch Hacks das marxistische Narrativ in Frage. Weder Text (Drama) noch Paratext (Kommentar) können das »Wesen« der Wirklichkeit adäquat abbilden, wodurch das Kunstwerk, das dem sozialistischen Realismus zufolge realutopischen Charakter haben soll, inkommensurabel wird. Dies betrifft insbesondere Hacks' Zeitstücke Die Sorgen und die Macht sowie Moritz Tassow. Die dialektische Hypertrophie beider Schauspiele, die schon das zeitgenössische Publikum konstatiert, beendet schließlich wie bei Müller den dramatischen Gegenwartsbezug; an seine Stelle tritt der Rekurs auf historisch-mythische Stoffe. Although research situates Peter Hacks among the most significant DDR dramatists, his productions are only to a limited extent system-critical - in contrast to Heiner Müller's plays. However, with his demand for a "total dialectic"; that contrasts everything with everything and makes "conflict" the "sole theme of art", Hacks also questions the concept of Marxist narrative. Here, neither text (drama) nor para-text (commentary) can adequately represent the "essence" of reality, based on which a work of art - which in socialist Realism has a real-utopic character - becomes incommensurable. This particularly applies to Hack's period pieces Die Sorgen und die Macht and Moritz Tassow. The dialectic hypertrophy of both plays, which was affirmed by the contemporary public, ultimately ends the dramatic link to the present, as in Müller's plays. In its place we find a recourse to historic-mythical subject matter. Forschungsberichte und Forschungsdiskussion
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