IASL 2008, 1+2


Aufsätze (Band 1)

  • Katja Mellmann: Die Mädchenfrage. Zum historischen Bezugsproblem von Gabriele Reuters Aus guter Familie, S. 1-25.


  • Gabriele Reuters Roman Aus guter Familie (1895) wurde im Rahmen der feministischen Literaturkritik vornehmlich als literarischer Ausdruck der Frauenbewegung verstanden. Der vorliegende Beitrag rekonstruiert einen bislang unberücksichtigten diskursgeschichtlichen Kontext des Romans, der sich in den Rezeptionszeugnissen und der zeitgenössischen Ratgeber- und Sachliteratur abzeichnet. Unter dem Titel der »Mädchenfrage« wurden im ausgehenden 19. Jahrhundert die besorgniserregende demographische Beobachtung eines statistischen Frauenüberschusses und die dadurch verminderten Heiratschancen bürgerlicher Mädchen diskutiert. Eine Berücksichtigung dieses Problemdiskurses ermöglicht es, hinter einige Übergeneralisierungen im heutigen Verständnis des Romans zurückzusetzen und sein Sujet historisch so zu spezifizieren, dass seine makrostrukturelle Anlage transparent wird.

    In feminist literary criticism, Gabriele Reuter's novel Aus guter Familie (1895) was primarily understood as a literary expression of the women's liberation movement. The present contribution reconstructs one discourse-historical context of the novel that has not been considered up to now, and which can be observed in contemporary reception, non-fiction and companion books. At the end of the 19th century, under the title of the »Mädchenfrage«, discussions were held on the worrying observation of a statistical surplus of women and the resulting diminished chances of marriage for bourgeois girls. Taking this problem discourse into consideration allows us to reassess some of the over-generalisations in today's understanding of the novel and historically specify its subject in such a way that its macrostructural composition becomes transparent.

  • Marion Linhardt: Schau-Ereignisse der Großstadt. Theaterwissenschaftliche Überlegungen zur räumlichen Ordnung Berlins in der Kaiserzeit, S. 26-47.


  • Die inszenatorischen und dramatischen Konzepte, die die Berliner Theatermoderne kennzeichneten und die als avancierte künstlerische Hervorbringungen Gegenstand einer als Kunstwissenschaft aufgefassten klassischen Theaterwissenschaft sind, gewannen ihre Spezifik aus der vielgestaltigen und bislang kaum reflektierten Theaterszene der frühen Kaiserzeit. Diese wiederum erschließt sich nur, wenn sie in ihrer stadträumlichen Bedingtheit begriffen wird. Der Wandel Berlins von einer mittleren Residenzstadt zu einer Millionenstadt von Weltgeltung bildete sich in der Theatertopographie unmittelbar ab. Stadträumliche Veränderungen wurden in verschiedensten Schau-Ereignissen reflektiert, zu denen auch, aber keineswegs nur die Angebote der Theater gehörten; zugleich strukturierten diese Schau-Ereignisse die Wahrnehmung und Nutzung des städtischen Raums.

    The dramaturgical and scenical concepts that characterized Berlin's Modern theatre, that have since been deemed advanced artistic products by classical theatre studies, drew their specifics from the varied and up to now seldom examined theatre scene of the early 'Kaiserzeit'. This period, on the other hand, can only be understood within its urban context. The transformation of Berlin from a medium-sized residential town to a globally significant city with a population of millions was directly reflected in the city's theatre topography. Changes in urban spaces were reflected in a variety of spectacles, which included, but were not limited to, theatre performances. At the same time, these shows had an influence on the perception and use of urban space.

  • Rüdiger Schnell: Handschrift und Druck. Zur funktionalen Differenzierung im 15. und 16. Jahrhundert, S. 66-111.


  • Dieser Beitrag versucht anhand ausgewählter Textbeispiele zu belegen, daß sich wesentliche Funktionen des Drucks (literarischer Werke von noch lebenden Autoren) dem Mit- und Gegeneinander der beiden Medien (Handschrift und Druck) im 15./16. Jahrhundert verdanken. Während der Status literarischer Texte in der Handschriftenkultur oft diffus anmutet, bildet sich nun eine (auch reflektierte) funktionale Differenzierung aus: Öffentlichkeit vs. Privatheit; Anspruch auf literarische Perfektion vs. Sich-Bescheiden mit Unfertigem; Vollständigkeit vs. Vorläufigkeit.

    Based on selected text excerpts, this paper aims to prove that significant functions of printing (the literary works of living authors) can be attributed to competition and interaction between the two media (manuscripts and printing) during the 15th and 16th centuries. While the status of literary texts within the culture of manuscripts often appears diffuse, this period saw the development of a (consciously reflected) functional differentiation between, for example, the public vs. the private, standards of literary perfection vs. acceptance of incompletion, and completeness vs. temporariness.

  • Thomas Wegmann: Erzählen vor dem Schaufenster. Zu einem literarischen Topos in Thomas Manns Gladius Dei und anderer Prosa um 1900, S. 48-71.


  • Als frühes Medium moderner Werbung entziehen Schaufenster käufliche Dinge zu Ausstellungszwecken der Warenzirkulation, um eben diese dadurch zu befördern. Die Ware erscheint dann weniger als das Produkt von Arbeit, sondern wird zum magischen Attraktor , der bei seiner Performanz hinter Glas den Glanz von Wunscherfüllung erzeugt. Dass um 1900 solche Produktinszenierungen nicht nur Fiktionsräume für Konsumenten eröffneten, sondern auch literarische Fiktionen auf spezifische, nämlich Schaulust und Fetischismus ebenso wie den Zusammenhang von Verzauberung und Entzauberung implizierende Weise anregten, lässt sich exemplarisch durch eine Re-Lektüre von Thomas Manns früher Erzählung Gladius Dei und weiteren Texten - etwa Oskar Panizzas Der Corsetten-Fritz oder Walter Benjamins Denkbild Die Mauer - im zeitgenössischen Kontext.

    As an early medium of modern advertising, shop windows removed purchasable things from circulation in order to promote them. In this context, the goods appeared to be less the product of work than magical attractors, carrying the lure of wish fulfilment in their performance behind the glass. Around 1900, these product presentations not only opened up fictional spaces for consumers, but also inspired literary fiction in a specific way that implied voyeurism and fetishism, as well as the connection between enchantment and disenchantment. This can be studied in a contemporary context by re-reading Thomas Mann's early story Gladius Dei and other texts, such as, for example, Oskar Panizza's Der Corsetten-Fritz or Walter Benjamin's Die Mauer.

  • Irmela Marei Krüger-Fürhoff / Tanja Nusser: Die Fabrikation des Menschen. Literarische Imaginationen von tissue engineering, Reproduktionstechnologien und Transplantationsmedizin im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, S. 72-93.


  • Der Beitrag, der narratologische und wissenschaftshistorische Perspektive verbindet, untersucht exemplarisch, wie biologisches Wissen und chirurgische Praktiken in literarischen Texten dargestellt sowie imaginär weiterentwickelt werden und auf welche Weise Fiktionen zur Durchsetzung, aber auch zur kritischen Reflexion von biomedizinischen Technologien beitragen. Im Mittelpunkt stehen Julian Huxleys Kurzgeschichte The Tissue Culture King (1926) und Hanns Heinz Ewers Roman Fundvogel. Geschichte einer Wandlung (1928), die zeitgenössische Experimente auf den Gebieten der Gewebezüchtung und Transplantationsmedizin thematisieren und dabei das inhaltlich Neue durch Rückgriff auf tradierte Muster (Reisebericht und Wissenschaftsparodie bzw. mythologische, hagiographische und biomedizinische Diskurse) erzählbar machen.

    Linking narratological and scientific-historical perspectives, this essay examines how biological knowledge and surgical practices are portrayed in literary texts, and how they are further developed in the imaginary. It also looks at the way in which fictions contribute to the success of bio-medical technologies and the critical reflection thereof. The focus is on Julian Huxley's short story The Tissue Culture King (1926) and Hanns Heinz Ewers's novel Fundvogel. Geschichte einer Wandlung (1928), both of which deal with contemporary experiments in the fields of transplantation and tissue cultivation, and the way in which new content is made 'tellable' through the use of existing literary patterns (travel literature and scientific parody, or mythological, hagiographical and biomedical discourses).

Schwerpunkt: Arthur Schnitzler im sozialgeschichtlichen Kontext, herausgegeben von Norbert Bachleitner

  • Norbert Bachleitner: Vorwort, S. 94-100.


  • Evelyne Polt-Heinzl: Der Genia-Effekt oder Schnitzlers Umgang mit den strukturellen Lücken im Verhältnis der Geschlechter, S. 101-112.


  • In Arthur Schnitzlers figurenreichem Ehedrama Das weite Land sind alle Akteurinnen und Akteure mit einem konkreten Bündel an Merkmalen und einer präzisen, in den Dialogen sich entwickelnden Vorgeschichte ausgestattet. Doch so penibel Schnitzler keine Eventualitäten offen zu lassen scheint, so sicher baut er immer auch programmatische Leerstellen ein. In Das weite Land sind es Modernisierungsdebatten, ungeklärte Herkunftsfragen, aber auch scheinbar unbedeutende Nebensächlichkeiten und blinde Motive, die überraschende »verborgene« Hinweise auf Charaktere und Vorgeschichten enthalten und zentrale Elemente der Oberflächenhandlung neu interpretierbar machen.

    In Arthur Schnitzler's marriage drama, Das weite Land, each of the characters is equipped with a concrete bundle of characteristics and a precise prehistory that is revealed in the dialogues. However, no matter how carefully Schnitzler appears to have constructed the drama, he has taken equal care to include programmatic empty spaces. In Das Weite Land these are debates on modernisation and blind motifs containing surprising >hidden< clues about characters and their backgrounds, permitting a new interpretation of central elements of the superficial plot.

  • Reinhard Urbach: Schnitzlers Anfänge. Was Anatol wollen soll, S. 113-154.


  • Die Wirkung Victorien Sardous (1831-1908) auf das europäische Theater des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts schloss zahlreiche Aufführungen im Wiener Burgtheater ein. Viele Plots, Pointen und Aperçus, Bonmots und Sentenzen des jungen Schnitzler lassen sich auf Sardou zurückführen, er verzichtet jedoch auf ein harmonisierendes Happyend. Den Namen der titelgebenden Figur des Anatol-Komplexes (Gedichte, Einakter, Varianten) scheint Schnitzler einem der Stücke Sardous entlehnt zu haben. Anatol ist Schnitzlers frühestes und wichtigstes Instrument der Ablehnung der Moralsanktionen der Vätergeneration. Anatol ermöglicht durch sein Verhalten den Frauen, sich von männlicher Dominanz zu befreien. Schnitzler stellt das männliche Komplott dar, das die Frauen als Triebwesen den Männern erneut und unausweichlich verfügbar macht.

    The influence of Victorien Sardou (1831-1908) on European theatre in the final third of the 19th century can be seen in several performances staged at Vienna's Burgtheater. Many plots, illuminating comments, bonmots and aphorisms in young Schnitzler's work can be traced to Sardou. However, Schnitzler stops short of concluding with a harmonious happy ending. The name of the title character in the Anatol complex (poems, one-act plays, variations) appears to have been borrowed from one of Sardou's plays. Anatol is Schnitzler's earliest and most important instrument of rejection of the moral sanctions of the father generation. Through his behaviour, Anatol enables women to free themselves from male domination. Schnitzler reveals a male conspiracy that conceives of women as instinct-driven creatures, thereby again making them available to men.

  • Karl Zieger: Arthur Schnitzler und der Verlag Stock, S. 155-170.


  • Wenn Arthur Schnitzler heute in Frankreich zu den bekanntesten österreichischen Schriftstellern zählt, so liegt das auch an der Verbreitung seiner Werke durch den Verlag Stock. Der vorliegende Aufsatz geht den Kontakten, die der Wiener Schriftsteller zu den verschiedenen Verantwortlichen des Verlags gehabt hat, nach und versteht sich als Beitrag zur Erhellung der im literarischen Translationsbetrieb herrschenden Zwänge. Exemplarisch veranschaulicht werden diese an drei Beispielen, und zwar an der Auseinandersetzung zwischen P. V. Stock und Schnitzler bezüglich der ersten Ausgaben von Reigen und Anatol, an der Veröffentlichung von Fräulein Else in der Überseztung von Clara Katharina Pollaczek, sowie an der Rolle, die Suzanne Clauser / Dominique Auclères für die Verbreitung von Schnitzlers Werk in Zusammenarbeit mit dem Verlag Stock gespielt hat.

    If Arthur Schnitzler is one of the most well-known Austrian writers in France today, it is due to the publication of his works by the Stock Verlag. The present essay follows the contact the Viennese author had with various responsible parties at the Stock publishing house in an attempt to illuminate the conditions of literary translation at the time. These are discussed using three examples: the conflict between P.V. Stock and Schnitzler regarding the first editions of Reigen and Anatol, the publication of Clara Katharina Pollaczek's translation of Fräulein Else, and the role which Suzanne Clauser / Dominique Auclères played in the diffusion of Schnitzler's work through the Stock Verlag.

Forschungsdiskussion

  • Thomas Anz: Über einige Missverständnisse und andere Fragwürdigkeiten in Anke-Marie Lohmeiers Aufsatz »Was ist eigentlich modern?«, S. 227-232.



Aufsätze (Band 2)

  • Rüdiger Schnell: Erzähler - Protagonist - Rezipient im Mittelalter, oder: Was ist der Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung? S. 1-51.


  • Die vorliegende Studie fragt nach dem Seinsstatus von literarisch vorgestellten Emotionen. Einerseits wird die literaturwissenschaftliche Skepsis gegenüber Versuchen und Versuchungen, solche 'Emotionen' mit realen Emotionen gleichzusetzen und entsprechend auszuwerten, geteilt. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass es zahlreiche Autoren mit ihren Emotionsdarstellungen nicht nur auf die emotionale Affiziertheit der Rezipienten abgesehen haben, sondern diese sogar dazu animieren, ihre eigenen emotionalen Emotionen mit denen der Protagonisten kurzzuschließen. Infolge dieses Zusammenspiels von Text und Rezipient kommt es zur - vom Autor intendierten - Korrespondenz von fiktionaler und realer Emotion hinsichtlich ihres Seinsstatus.

    The study looks into the nature of emotions as they are portrayed and imagined in literature. On the one hand, there is shared skepticism towards attempts and temptations to equate such 'emotions' with real emotions and analyze them accordingly. On the other hand, it can't be overlooked that, beyond striving for an emotional reaction on the part of the reader, the aim of many authors is to encourage readers to merge their own emotions with those of the protagonists. As a result of this interplay between text and recipient, there is an (intentional) correspondence between fictional and real emotions.

  • Harald Haferland: Verschiebung, Verdichtung, Vertretung. Kultur und Kognition im Mittelalter, S. 52-101.


  • Der Aufsatz illustriert anhand von Beispielen aus der mittelhochdeutschen Literatur eine charakteristische kognitive Operation - zunächst an einem spezifischen Gegenstandsbereich, der Struktur von Affekten (Kap. I). Sie erscheint eingebunden in politische und rechtliche Handlungsvollzüge als breitflächig wirksame kognitiv-konzeptuelle Formation (Kap. II). Ihre systematische Analyse führt auf drei Teilmomente: Verschiebung, Verdichtung und Vertretung (Kap. III). Die Teilmomente messen einen durch Kontiguität bestimmten Bereich aus. Im mittelalterlichen Rechtsdenken sorgen sie etwa dafür, dass Rechtsfolgen auf einen metonymischen Vertreter verschoben werden können (Kap. IV). Die kognitive Operation lässt sich in die Konstruktion von Erzählhandlungen, z. B. beim Nibelungenlied, hinein verfolgen (Kap. V) und taucht auch in Erzählverfahren, z. B. in Wolframs Willehalm, auf (Kap. VI). Sie bildet einen zentralen Baustein kultureller Kognition im Mittelalter, wie er primär in der Volkssprache zum Ausdruck kommt.

    Based on examples from Middle High German literature, the essay illustrates a characteristic cognitive operation - first, by example of a specific subject field: the structure of emotions (Chapter I). This structure appears to be incorporated in the execution of political and legal actions as a broadly effective cognitive-conceptual formation (Chapter II). A systematic analysis of it yields three partial moments: displacement, compression and representation (Chapter III). These partial moments delineate an area determined by contiguity. In medieval legal thought they ensured that legal consequences could be transferred to a metonymic proxy (Chapter IV). This cognitive operation can be observed in the construction of narratives, as in, for example, the Nibelungenlied (Chapter V) as well as in narrative techniques, such as in Wolfram's Willehalm (Chapter VI). It constitutes a central element of cultural cognition in the Middle Ages, as was primarily expressed in popular dialect.

  • Julia Danielczyk: Editionsunternehmungen oder hilfswissenschaftliche Institutionen? Ein Beitrag zur Erforschung der Geschichte der österreichischen Literaturarchive (1878-1918), S. 102-144.


  • Der Beitrag beleuchtet den historisch-politischen Kontext, in dem die Einrichtung von Archiven für Literatur in Österreich diskutiert wurde. Im Sinne eines nationalen Selbstverständnisses, das sich nach 1848 vermehrt über kulturelle Werte definierte, gewannen literarische Archive neue Bedeutung. Vor dem Hintergrund des Definitionsversuchs von österreichischer Literatur wurden verschiedene Institutionalisierungsmodelle dafür entwickelt, parallel dazu wuchs in der Wiener Stadtbibliothek eine Handschriftensammlung, deren Grundstock der 1878 übergebene literarische Nachlass von Franz Grillparzer bildete. Der Aufsatz stellt den Zusammenhang zwischen literatur- und editionswissenschaftlichen Interessen und bibliothekarischen Überlegungen bei der Einrichtung österreichischer Literaturarchive her.

    The essay illuminates the historic-political context of the discussion on the creation of literary archives in Austria. After 1848, the literary archive took on new meaning as part of a national self-image increasingly defined through cultural values. Diverse institutional models for archives were developed against the background of an attempt to define Austrian literature. At the same time, the Vienna City Library (Wiener Stadtbibliothek) was in the process of ammassing a growing collection of manuscripts, built upon the literary estate of Franz Grillparzer, handed over to the library in 1878. The essay demonstrates the connection between scholarly literary interests and library system concepts in the establishment of Austrian literary archives.

  • Els Andringa: »Die Sesshaftigkeit hat in Europa aufgehört«. Rezeption und Reflexion der deutschen Emigrantenliteratur im niederländischen Polysystem der dreißiger Jahre, S. 145-183.


  • Das Ziel dieser Untersuchung ist einerseits, das sich verändernde Literatursystem in den Niederlanden in der Auseinandersetzung mit der deutschsprachigen Exilliteratur in den 1930er Jahren zu erfassen und andererseits einen theoretischen und methodologischen Beitrag zur Rezeptionsforschung zu leisten. Den theoretischen Rahmen für das Unternehmen bildet die »Polysystemtheorie«. Analytisch wurde frei nach der »differenztheoretischen Textanalyse« vorgegangen. Roter Faden durch die Darstellung der Forschungsergebnisse ist die Rezeption von Joseph Roths Werk Der Antichrist (1934), das die damaligen Diskurse in den Niederlanden wie ein Prisma einfing und reflektierte.

    The aim of this study is, on the one hand, to study the changing literary system in the Netherlands as it was reflected in the reception of German exile literature in the 1930s, and on the other hand to offer a theoretical and methodological contribution to reception studies. »Polysystems Theory« serves as the theoretical framework for the study, and the analytical approach was freely inspired by »Difference Theory analysis«. The study focuses on the reception of Joseph Roth's essayistic work Der Antichrist (1934) which, like a prism, captured and reflected the Dutch discourses of the period.

  • Irving Wohlfarth: Anachronie. Interferenzen zwischen Walter Benjamin und W. G. Sebald, S. 184-242.


  • Benjamins Werk nimmt einen einzigartigen Platz in Sebalds Œuvre ein, die Rezeption wirkt aber gefiltert und gestört. Dieses doppeldeutige Verhältnis kann am besten an Austerlitz studiert werden. Gemeinsame Motive sind hier die »Wiederkehr des Flaneurs«, die »Metaphysik der Zeit«, »geheime Verabredungen« mit der unterdrückten Vergangenheit, ihrer beider Forschung knüpft an das »Passagenprojekt« an. Aber Benjamins Projekt weicht in Austerlitz einem autobiographischen Imperativ, die revolutionäre Ausrichtung fällt weg, der Flaneur wird wieder entpolitisiert. Gewiss, diese Verschiebungen und Interferenzen zeigen die große dazwischen liegende Tendenz- und Zeitenwende an. Aber es fragt sich, ob Sebalds anachronisches Rückzugsgefecht nicht auch anachronistisch, seine unzeitgemäße Melancholie nicht auch allzu zeitgemäß und heute von Benjamin her nicht nur zu verfechten, sondern auch anzufechten ist.

    Benjamin's work looms large in Sebald's oeuvre, yet its reception is muted and disturbed. This ambiguous relation is best studied in Austerlitz. Many common motifs are in evidence here: the »return of the flaneur«, a »metaphysics of time«, »secret assignations« with the oppressed past, indeed a kind of Arcades Project. The latter is, however, replaced midway by an autobiographical quest, its revolutionary thrust falls away, the flaneur is depoliticised. While these shifts mark the larger historical ones, they also raise the question whether Sebalds »anachronic« stance isn't also an anachronistic posture, his untimely melancholy also of the times.

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