IASL 2005, 1 + 2Aufsätze (Band 1)
Bislang galt der Hof Mechthilds von der Pfalz in Rottenburg als ein Ort literarischer Kultur, der Autoren des 15. Jahrhunderts faszinierte und zum Schreiben motivierte. Die literarischen Zeugnisse über Pfalzgräfin Mechthild können aber auch anders bewertet werden. Das außerordentliche Selbstbewußtsein der einzelnen Autoren reduziert die Bedeutung der Pfalzgräfin und relativiert die Kategorie des "literarischen Zentrums" zur Beschreibung des Kulturbetriebs der Zeit. The Court of Mechtild of the Palatinate in Rottenburg has up to now been considered a centre of literary culture that fascinated and inspired authors of the 15th century. However, there are other ways of interpreting the literary testimony on Countess Mechthild. The extraordinary self-confidence of the individual authors reduces the significance of the countess and qualifies the category "literary centre" in the description of the cultural production of the times. An zwei Dissertationen des Christian Thomasius zu Randbereichen der Ehelehre De crimine bigamiae (1685) und De concubinatu (1713) lässt sich die Problematik einer Lektürepraxis illustrieren, die Texte der Aufklärung immer gleich auf verborgene polemische Aussagen reduziert. Gegenüber einer solchen Tiefenhermeneutik eröffnet ein Vorgehen neue Verständnisperspektiven, das die Texte als Ganze auf ihrer Oberfläche liest und so etwa ihre latente Widersprüchlichkeit zum Ausgangspunkt einer funktionalen Deutung machen kann. With the help of two dissertations by Christian Thomasius on peripheral topics of marriage instruction, De crimine bigamiae (1685) und De concubinatu (1713), the paper illustrates the problematics of a reading practice that continually reduces the Enlightenment to hidden, polemic statements. In contrast to this type of depth hermeneutics, new perspectives of understanding are opened up by a method that reads the texts as wholes on their surface, thereby using their latent contradictory nature as a basis for a functional interpretation. Die Geschichte des Romans läßt sich als Prozeß verstehen, in dessen Verlauf das schriftliche Erzählen eine den ästhetischen Möglichkeiten des Mediums angemessene Gestalt gewinnt. Medial hybride Formen der Gattung verfallen der Kritik. Diese Literarisierung des Erzählens ist Teil einer umfassenden Literalisierung der Kultur: In dem Maße, in dem das 18. Jahrhundert Formen des Wissens entwickelt, die strukturell apersonal sind, beginnt die Literatur das Andere des Wissens die Erlebniswirklichkeit des Lebens mimetisch nachzubilden. The history of the novel can be understood as a process in which written story-telling takes on a form suited to the aesthetic possibilities of the medium. Medial hybrid forms of the genre fall prey to criticism. This literarisation of story-telling is part of an encompassing literalisation of culture. To the extent to which the 18th century develops forms of knowledge that are structurally apersonal, literature begins to mimetically recreate the Other of knowledge the experiential reality of life. Der vorliegende Beitrag befaßt sich mit der Bedeutung der österreichischen Theaterzensur für die Spieltexte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Hilfe der Untersuchung von originalem Zensurakt, begutachtetem Zensurbuch und einer adäquaten Druckversion. Anhand einiger Textbeispiele aus den fünfziger und sechziger Jahren wird die unvermindert strenge Handhabung der Zensur gemäß der Theaterordnung von 1850 belegt. Die dokumentierten Zensureingriffe erstrecken sich auf alle drei Hauptbereiche der Zensur: Moral, Religion/Kirche und Staat/Politik. The essay explores the significance of Austrian theatre censorship for dramatic texts in the second half of the 19th century by examining the original censorship file, the officially censored copy and an adequate printed version. Based on several text samples from the 1950s and 1960s, the essay demonstrates the unrelentingly strict process of censorship under the Theatre Ordinance of 1850. The documented cases of censorship include all three main fields of censorship: morality, religion/church and state/politics. Die vorliegende Studie rekonstruiert mit Hilfe bislang nicht ausgewerteter Archivalien die Entstehungsgeschichte der ungedruckt gebliebenen Textsammlung Jahrbuch für realistische Dichtung (1887), für die Hermann Conradi und Otto Erich Hartleben als Herausgeber zeichnen sollten. Dieses Projekt stellt eine direkte Fortsetzung der berühmten Lyrikanthologie Moderne Dichter-Charaktere (1885) dar, in der sich die junge Generation naturalistischer Autoren erstmals weitgehend geschlossen zu Wort meldete. Anhand der hier vorgelegten Materialien läßt sich nicht nur der Entwicklungsverlauf der naturalistischen Bewegung genauer als bisher nachzeichnen, auch die scharfe Konkurrenzsituation der Schriftsteller innerhalb des sich herausbildenden Gruppenzusammenhangs tritt nun sehr viel klarer hervor. With the help of previously unexamined archive material, the paper reconstructs the ceation of the unprinted collection Jahrbuch für realistische Dichtung (1887), originally intended to be published by Hermann Conradi and Otto Erich Hartleben. This work is a direct continuation of the famous anthology of poetry Moderne Dichter-Charaktere (1885), the first largely united appearance of the young generation of Naturalist authors. Based on the materials examined here, we can not only trace the development of the Naturalist movement more closely than before, but we also receive a much clearer picture of the intense competition among the writers within the group as it was forming. Der Philosoph und Literaturnobelpreisträger Rudolf Eucken bemühte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts um eine weltanschauliche Standortbestimmung und zivilisationskritische Selbstreflexion der Moderne. Der Beitrag untersucht, wie Euckens neoidealistische Weltanschauungsliteratur die Jahrhundertwende als Epochenschwelle der Moderne inszeniert. Euckens Zeitdiagnose interpretiert die Jahrhundertwende als "Wendepunkt" und als ein Kampffeld unterschiedlicher Weltanschauungen, die einen aggressiven Wettstreit um ein Deutungsmonopol ausfechten. Besonderes Augenmerk gilt der Gleichzeitigkeit von wissenschaftshistorisch traditionellen und intellektuellengeschichtlich modernen Anteilen in Euckens Neoidealismus und seiner philosophischen Außensicht auf die Literatur der Jahrhundertwende als ästhetisches Symptom einer Krisenerfahrung Toward the end of the 19th century, the philosopher and winner of the Nobel Prize for Literature, Rudolf Eucken, strove toward a Modernity characterized by >Weltanschauung< and self-reflection critical of civilization. The essay examines how Eucken's neo-idealistic worldview literature depicts the turn of the century as a threshold to Modernity. His diagnosis of the times interprets the turn of the century as a >turning point< and battlefield of divergent worldviews aggressively competing for a monopoly on interpretation. The essay pays special attention to the simultaneity of scientific-historic traditional and intellectual-historic modern aspects of Eucken's neo-idealism, as well as his external philosophical perspective on turn of the century literature as an aesthetic symptom of a crisis experience. Der Beitrag untersucht Rainer Maria Rilkes Auseinandersetzung mit Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes mit Hilfe der Lese(r)forschung. Im Ergebnis zeigt sich dreierlei: erstens, daß Rilke den Untergang anders als die Forschung vermutete gründlich liest und zum epochalen Text erklärt. Zweitens pflichtet Rilke Spenglers wortgewaltigen Spekulationen nicht einfach bei, sondern er kritisiert sie performativ im Wettstreit um den >gültigen< Ausdruck. Drittens erörtert der Beitrag Rilkes späte Gedichte mit Blick auf das Vorkommen von Spenglers Vokabeln und Denkmustern. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse beschreibt der Beitrag Desiderata der Rilke-Forschung. The paper examines Rainer Maria Rilke's reception of Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes with the help of reader research, and comes to three main conclusions. First, that Rilke carried out a thorough reading of the Untergang contrary to what research has suspected up to now and declared it an epochal text. Second, that Rilke did not passively accept all of Spengler's eloquent speculations, but rather criticised them in a performative way, in a competition for the one >valid< expression. Third, the paper examines Rilke's later poems for the presence of Spengler's vocabulary and thought patterns. With these results as a backdrop, the paper describes >desiderata< of research on Rilke. Pierre Bourdieu beschreibt das literarische Feld als ein Kräftefeld, das auf alle einwirkt je nach der Position, in die sie sich begeben, wie auch als Arena, in der Konkurrenten um die Bewahrung oder Veränderung dieses Kräfefeldes kämpfen. Der Beitrag versucht die These am Beispiels des Aufstiegs von Jakob Wassermann zum "Welt-Star des Romans" (Thomas Mann) zu überprüfen. Überdies präsentiert er die Quintessenz einer umfassenden Soziobiographie des Autors. Pierre Bourdieu describes the literary field as a force field that affects everyone depending on their position within the field, as well as an arena in which rivals compete to uphold or change the field. The essay attempts to put this thesis to the test, using as an example the rise of Jakob Wassermann to the "world star of the novel" (Thomas Mann). It also delivers the quintessence of a comprehensive socio-biography of the author. Aufsätze (Band 2)
Vorliegender Aufsatz behandelt Heinrich Heines Aufenthalt in München in den Jahren 1827-1828 und die Frage seiner Beziehungen zum dortigen Kunstverein. Zunächst wird anhand von Archivmaterial gezeigt, daß Heine höchstwahrscheinlich Mitglied in diesem Verein war, der im damaligen Münchener gesellschaftlichen Leben und für die Entwicklung der Münchener Genre-Malerei von zentraler Bedeutung war. Es werden weiterhin die möglichen Gründe für seine Mitgliedschaft untersucht. In diesem Zusammenhang zeigt sich, daß eine vom Kunstverein geförderte neuartige Beziehung zur Kunst für Heine eine entscheidende Rolle gespielt haben dürfte. Deshalb wird zum Schluß die These entwickelt, daß der Verein Heine erste Anregungen zur Formulierung seiner in der Schrift Französische Maler (1831) vertretenen Kunstauffassung lieferte. The paper explores Heinrich Heine's stay in Munich from 1827 to 1828 and the question of his relationship with the Munich Kunstverein. Archive material is first used to show that Heine was in all likelihood a member of this art association, which at the time was of central importance to Munich society and the development of Munich genre painting. We then examine the possible reasons for his membership. In this context, we see that the new relationship to art promoted by the art association must have played a decisive role for Heine. This provides the foundation for the development of the thesis that it was the Kunstverein which gave Heine his first impulse for the formulation of his perspective on art as represented in his text Französische Maler (1831). Gustav Freytags Musterroman des deutschen Realismus, Soll und Haben, wird hier erstmals eng auf zwei für seine ästhetische Komposition maßgebliche Kontexte bezogen: den sozialgeschichtlichen Kontext des Mitte des 19. Jahrhunderts dominant werdenden Normalitätsdiskurses, und den quellengeschichtlichen Kontext der einflußreichen Programmschrift Ludwig August von Rochaus, Grundzüge der Realpolitik. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß das Verhältnis zwischen realistischer Literatur und Realpolitik kein bloß kompensatorisches ist: vielmehr wird, vor allem am virulenten Antisemitismus und Antislawismus des Romans, vorgeführt, daß das für den deutschen Realismus kennzeichnende, ästhetische Verfahren der 'Verklärung' sich unmittelbar auf den neuen Diskurs der Normalisierung stützt, während es umgekehrt einen konstitutiven Beitrag zur Herausbildung des eigenartigen nationalen Identifikationsschemas der Deutschen leistet. For the first time, Gustav Freytag's exemplary novel of German Realism, Soll und Haben, is studied in close relation to two contexts of great importance to his aesthetic composition: first, the socio-historical context of the discourse on normality which became dominant in the mid-19th century, and second, the source-related context of Ludwig August von Rochau's influential programmatic text Grundzüge der Realpolitik. Against this background it becomes clear that the relationship between Realist literature and realpolitik is not a purely compensatory one. In particular consideration of the virulent anti-Semitism and anti-Slavism of the novel, we show that the aesthetic process of 'transfiguration' which is typical of German Realism instead draws directly from the new discourse on normalisation, while at the same time contributing to the formation of a unique German national identification scheme. Die tief greifenden Veränderungen literarischer Kommunikation im Laufe des 19. Jahrhunderts, die aus Literatur ein Journalphänomen machen, resultieren aus der Überlagerung des Literatursystems durch das System der Massenmedien. Der Poetische Realismus erweist sich in dieser Hinsicht als Indifferenzphänomen von Kunst und Unterhaltung, wobei zu beobachten ist, daß Schreiben und Lesen neu auf die Geschlechter verteilt wird: Von dem flüchtigen Erscheinungsort der periodischen Printmedien, über die seriellen Genres Roman und Novelle bis hin zum Lektüreverhalten der Zerstreuung sind sämtliche Positionen weiblich codiert, während die 'eigentliche' (männliche) Dichtung in eine ungewisse Zukunft verschoben wird. The deep changes in literary communication in the course of the 19th century which made literature a magazine phenomenon are the result of a superimposition of the mass media system onto the literary system. In this sense, poetic realism can be considered an indifference phenomenon of art and entertainment. At the same time, one must observe a new gender distribution in writing and reading. Ranging from the fleeting publication of periodic print media and the serial genre novel and novella to the reading behaviour of diversion, all positions have feminine coding, while 'actual' (male) writing is relegated to an uncertain future. Wie die Situation im Schützengraben im Ersten Weltkrieg beschrieben wurde, weiß man einerseits aus Publikationen von Propaganda-Institutionen und andererseits aus Feldpostbriefen. Ungeklärt blieb bisher, wie sie in der Kriegslyrik verarbeitet wird: ob sich der vom militärischen Diskurs entworfene emotionslose, standhafte >Frontkämpfertypus< darin findet, welche literarischen Traditionen dominieren und inwiefern sich expressionistische Autoren vom Gros der Verfasser von Kriegsgedichten (mit oder ohne Fronterfahrung) abheben. Ein Blick auf Schützengrabengedichte der Zwischenkriegszeit und auf das Werk von Ernst Jandl ergänzt das Bild. We know how the situation in the trenches during the First World War was described, on the one hand in publications of propaganda institutions and on the other hand in forces' letters. It is not clear, however, how this situation was processed in war poetry whether the emotionless, steadfast 'front fighter type' created by military discourse can be found here, which literary traditions dominated and to what extent expressionist authors diverged from the bulk of authors of war poems (with or without experience on the front). A glance at poetry of the trenches written during the Period Between the Wars and the poetry of Ernst Jandl enhances the picture. Der Beitrag befaßt sich mit Günter Grass' im Jahr 2002 erschienener Novelle Im Krebsgang. Grass thematisiert in gesellschaftskritischer Perspektive, dabei satirisch zugespitzt, die Folgen, die das Ausbleiben einer Geschichtserzählung über 'Flucht und Vertreibung 1945/46' im Deutschland der 1990er Jahre zeitigt. Die Novelle wird mit Blick auf eine Literaturgeschichte von 'Flucht und Vertreibung' analysiert; Referenzpunkte sind Debatten der 90er Jahre W. G. Sebald und der polnische Autor Stefan Chwin und Christa Wolfs Roman Kindheitsmuster (1976/77). In der Konfrontation mit Wolfs Ansatz der Rekonstruktion historischer Ereignisse im Kontext einer Befragung der Gegenwart gewinnt Grass' literarische Reflexion auf die Wirklichkeit von Geschichte, d. h. auf deren andauernde Wirksamkeit, deutliche Kontur. The paper deals with Günter Grass's novella Im Krebsgang from the year 2002. Writing from a socio-critical perspective, Grass takes a satirical approach to the consequences of the lack of historical narrative on flight and expulsion during the 1990s in Germany. The novella is analysed within the context of a literary history of flight and expulsion. Reference points are debates carried out in the 1990s by W. G. Sebald and the Polish author Stefan Chwin, as well as Christa Wolf's novel Kindheitsmuster (1976/77). A confrontation of Grass's novella with Wolf's method of reconstructing historical events within the context of an examination of the present offers new insight into Grass's literary reflection on the reality of history and its lasting effects. Schwerpunkt: Kategorien der Literaturwissenschaft
Der Beitrag untersucht den Status des Interessanten als kulturwissenschaftlicher Beschreibungskategorie. Er kommt zu dem Ergebnis, daß das Interessante im wissenschaftlichen Entdeckungs- und Darstellungszusammenhang eine wichtige Rolle spielt, daß es dagegen bei der Begründung und Bewertung wissenschaftlicher Aussagen schwer möglich und nicht wünschenswert ist, die Leitunterscheidung 'wahr falsch' durch die Leitunterscheidung 'interessant uninteressant' zu ersetzen. The paper examines the status of the 'interesting' as a descriptive category in cultural studies. It comes to the conclusion that, while the 'interesting' plays an important role in the context of scholarly discovery and presentation, when founding and evaluating scientific statements it is not possible and is even undesirable to replace the leading distinction 'true untrue' with the leading distinction 'interesting uninteresting'. Der Beitrag diskutiert die Rolle der Evidenz als Erkenntnisform in der Literaturwissenschaft. Er zeigt die Aufmerksamkeit auf das Konzept nicht nur bei Staiger, Szondi, Schlaffer und anderen, sondern auch in neueren kulturwissenschaftlich orientierten Beiträgen wie zuletzt Gumbrechts Diesseits der Hermeneutik; und er entwickelt vor dem Hintergrund der Frage nach der spezifischen Wissenschaftlichkeit der 'Interpretation' einen Vorschlag, wie Evidenz als ereignishafter Effekt an die Analyse von Texturen zurückgekoppelt werden kann. Abschließend wird der disziplinäre Ort und die öffentliche Funktion einer Literaturwissenschaft als Kunstwissenschaft im Verhältnis zur Literaturkritik skizziert. The essay discusses the role of evidence as a form of knowledge in literary studies. It shows the attention paid to this topic in Staiger, Szondi, Schlaffer and others, as well as in newer cultural studies orientated contributions, such as most recently Gumbrecht's Diesseits der Hermeneutik. Furthermore, against the background of the question on the specific scientific nature of 'interpretation', it develops a proposal as to how evidence can be linked to the analysis of texts. Finally, the paper outlines the disciplinary place and public function of literary studies as studies in art in relation to literary criticism. Forschungsbericht
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