IASL 2003, 1



Aufsätze (Band 1)

  • Peter Czerwinski: Allegorealität, S. 1-37.


  • Michael Niehaus: Was ist ein Herrscher? Der falsche Woldemar von Willibald Alexis, S.38-56.


  • Der im 14. Jahrhundert spielende Roman Der falsche Woldemar von Willibald Alexis bearbeitet, indem er in der Figur des Markgrafen Woldemar einen möglicherweise falschen Herrscher umkreist, die Frage nach dem Grund von Herrschaft überhaupt. Dies gelingt diesem Vaterländischen Roman nur, weil er die Logik des Genres >Historischer Roman< überschreitet und die Opposition von Realismus und Romantik unterläuft.

  • Bozena Choluj: Grenzliteraturen und ihre subversiven Effekte. Fallbeispiele aus den deutsch-polnischen Grenzgebieten (Wirbitzky, Skowronnek, Bienek, Iwasiów), S. 57-87.


  • Im dem Beitrag werden Grenzliteraturen, für deren Entstehung politische Grenzprovinzen konstituierend sind, einer neuen Lektüre unterzogen. Da für diese Literaturen die Spannung zwischen politischen Zielen und kultureller Identitätssuche charakteristisch ist, lassen sie sich als Teil der Kultur an der Grenze, daher auch als Teil performativer Praktiken lesen, die einen normierenden und ausschließenden Charakter haben. Doch das Ausgeschlossene, Ausgegrenzte wirkt zurück, indem es sich subversiv gegen den normierten Raum wendet. An Texten von Wirbitzky, Skowronnek, Bienek und Iwasiów, die zwei unterschiedliche deutsch-polnische Grenzgebiete vertreten, wird dieser Mechanismus an den sprachlichen Mitteln, Redewendungen, Metaphern, Symbolen und Wertvorstellungen untersucht. Es erweist sich, daß die Grenzliteraturen selbst Kulturräume darstellen, die sich mit den Grenzräumen im politischen Sinne nur zum Teil decken. Sie bilden die räumliche Form für die politische Grenze, indem sie Mischkulturen repräsentieren und diese gleichzeitig herstellen.

  • Michael Westdickenberg: "Es ist zu empfehlen, dem Buch ein Nachwort über die Alternative beizugeben." Veröffentlichungsstrategien und Literaturzensur westdeutscher belletristischer Literatur in der DDR am Beispiel von Thomas Valentins Roman Die Unberatenen, S. 88-110.


  • Die detaillierte Rekonstruktion der Publikationsgeschichte von Thomas Valentins Roman Die Unberatenen in den sechziger Jahren anhand unveröffentlichter Archivmaterialien thematisiert die Kriterien zur Herausgabe westdeutscher Literatur in der DDR und offenbart Zwänge und Abhängigkeiten innerhalb des DDR-Verlagswesens, aber auch Strategien, diese zu umgehen. Dass sich die Frage einer Veröffentlichung letztlich darauf zuspitzte, ob die Benennung Walter Ulbrichts als "Spitzbart" zulässig sei und die für die DDR politisch wenig schmeichelhaften Stellen keinen Hinderungsgrund mehr darstellten, ist ein Indikator für die Machtfülle einzelner leitender Funktionäre und Teil der spezifischen Form der öffentlichen Aufwertung der Person Ulbrichts, die man in der DDR betrieb. Die Analyse der Funktion des Nachwortes zu Die Unberatenen in der Ausgabe des Aufbau-Verlages zeigt, dass man wissentlich Fehlinterpretationen abdruckte, um einen politisch abweichenden Text veröffentlichen zu können.

Interview

  • Petra Boden: Reformarbeit als Problemlösung. Sozialgeschichtliche und rezeptionstheoretische Forschungsansätze in der deutschen Literaturwissenschaft der 60er und 70er Jahre – eine Vorbemerkung und drei Interviews, S. 111-170.


  • In den nachfolgend abgedruckten Interviews berichten die Literaturwissenschafter Wolfgang Iser, Walter Müller-Seidel und Eberhard Lämmert über die kognitiven und strukturellen Veränderungen, die sich im Rahmen der westdeutschen Hochschulreform am Ende der 60er Jahre vollzogen haben. Sie verorten diese Veränderungen sowohl in der Geschichte der Literaturwissenschaft als auch im Kontext der Studentenunruhen, die ab 1967 eskalierten und den Reformdruck vor allem auf die lehrerausbildenden Fächer enorm verstärkten. In der Vorbemerkung werden diese von diesen und anderen Literaturwissenschaftlern maßgeblich mitbestimmten Reforminitiativen in bezug gesetzt zu den 20er und 90er Jahren, in denen die Literaturwissenschaft unter einem vergleichbaren Veränderungsdruck stand. Daran wird sichtbar, daß Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsforschung unverzichtbare Instrumente der disziplinären Selbststeuerung sind.

Forschungsberichte

  • Susanne Marten-Finnis / Katarzyna Jastal: Presse und Literatur in Czernowitz 1918-1940. Vom kolonialen Diskurs zum eigenständigen Feld der kulturellen Produktion. Eine Forschungsskizze, S. 171-180.


  • Die seit 1918 als ein Teil des rumänischen Königreiches bestehende Bukowina mit ihrer einzigen Groß- und Hauptstadt Czernowitz schreibt sich in das kollektive Bewusstsein als eine besondere Kulturlandschaft, deren Blütezeit mit den Zwischenkriegsjahren gleichgesetzt wird. Als ein wichtiges Postulat der wissenschaftlichen Erforschung dieser Kulturlandschaft, die nur allzu oft als ein nachträgliches Konstrukt der literarischen Erinnerungen und Projektionen einzustehen hat, erscheint eine systematische Erforschung von deren Presse, denn der bisherigen literaturwissenschaftlichen Forschung zur deutschsprachigen Czernowitzer Literatur der Zwischenkriegszeit – wie lückenhaft und unsystematisch sie auch sein mag – entspricht keine vergleichbare ausgedehnte Forschung zu der zeitgleich in der Stadt erscheinenden deutschsprachigen Presse und ihren Verbindungen zu jüdischen Parteien und Organisationen. Der folgende Beitrag plädiert für die Erforschung der Bukowiner Presselandschaft in Form einer vorerst auf Czernowitz beschränkten Bibliographie als eine Möglichkeit, sich dieser historischen Landschaft systematisch zu nähern und die in der Erinnerung abhanden gekommene Blickschärfe wiederzugewinnen.

  • Nicolas Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht, S. 181-231.


  • Ausgehend von dem jüngsten Forschungsboom zur Wechselbeziehung zwischen Literatur und Naturwissenschaft bietet der Beitrag einen Überblick über die Vorgeschichte dieses Booms in Form der zumeist englischsprachigen Debatte über die >zwei Kulturen<. Den beiden gängigen Untersuchungsrichtungen, entweder wissenschaftliche Inhalte in der Literatur oder literarische Schreibweisen in den Naturwissenschaften nachzuweisen, wird dabei der Hinweis auf den genuin literarischen Beitrag zu einer Geschichte des Wissens zur Seite gestellt.




Aufsätze (Band 2)

  • Nicola Denis: Nur »ein mittelmässiges Lehrgedicht« oder doch »ein großes Muster«? Molières Tartuffe im Spannungsfeld der Krititik zwischen romantischem Idealismus und jungdeutschem Engagement, S. 1-38.


  • Der folgende Beitrag zur Aufnahme des Tartuffe in Deutschland setzt sich in einer rezeptionsgeschichtlichen Perspektive mit der Molière-Kritik deutscher Denker zwischen 1800 und 1840 auseinander. Nach einer knappen Rückschau auf die moralkritische Haltung der Aufklärungsgelehrten, wird zunächst das sozialgeschichtliche Umfeld der realen Bühnenrezeption skizziert, um die Ansprüche, die eine aufkommenden Massengesellschaft an das Stück richtet, neben das Urteil halten zu können, das sich die gelehrten Zeitgenossen über die Heuchlersatire bilden. Achim von Arnim, August Wilhelm Schlegel und Joseph von Eichendorff werden als namhafte Vertreter einer ebenso legendären >Fehldeutung< vorgestellt, die anschließend im Kontext der allen gemeinsamen geistesgeschichtlichen Basis – in Quellentexten zum Tartuffe von Fichte und Hegel – analysiert wird. Der Aufsatz schließt mit der Perspektive der >Molière-Rehabilitierer< und würdigt insbesondere die ideologische Kehrtwendung, die sich mit Heinrich Heines Interpretation des Tartuffe vollzieht.

  • Arne Koch: Die Versuchswerkstatt zwischen Region und Nation. Fritz Reuters Unterhaltungsblatt und die Grenzen literarischer Bewußtseinsräume, S. 39-74.


  • Der Aufsatz befaßt sich mit dem Unterhaltungsblatt für beide Mecklenburg und Pommern und seiner Funktionalisierung der Spannungen zwischen einer regionalen und nationalen Zugehörigkeit als eine Vorstufe in Fritz Reuters Artikulierung einer Poetik des Dialekts. Anhand von Kontrastierungen mit anderen zeitgenössischen Zeitschriften sowie der Entwicklung des Reuterschen Unterhaltungskonzepts in seinen Erfolgsromanen nach 1860 offenbart sich ein Projekt, das seine Leser zur regen Teilnahme an der Schaffung multipler literarischer Bewußtseinsräume anhielt.



Schwerpunkt: Reiseliteratur

  • Tilman Fischer / Thorsten Fitzon: Von Bemerkungen und Nachrichten zu Skizzen und Cartons. Ein Titelvergleich deutschsprachiger Reiseberichte aus England und Italien 1770-1870, S. 75-115.


  • Reisebeschreibungen gehören seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zu den beliebtesten Gattungen beim Lesepublikum. Um sich auf dem umkämpften Markt durchsetzen zu können, kam der Titelgebung entscheidende Bedeutung zu. Der Beitrag untersucht, welche Informationen die Titel von Italien- und Englandreisebeschreibungen zwischen 1770 und 1870 liefern. Anhand der Kontinuitäten, der quantitativen Verschiebung, dem Verschwinden und der Neuerfindung zentraler Titelschlagworte werden die Titelmoden rekonstruiert. Sie sind für dreierlei aufschlußreich: den Publikumsgeschmack, eine sich verändernde Reisepraxis und den Wandel der Gattung. Am auffälligsten ist dabei der Bedeutungsrückgang reflexiv-informativer Titelschlagworte und eine Zunahme ästhetisierender Bezeichnungen.

  • Wolfgang Griep: Der Maler ist immer mit im Bild. Alexander von Humboldts Beschreibung seiner Reise in eine neue Welt, S. 116-132.


  • Alexander von Humboldts Reise durch Süd- und Mittelamerika ist nicht die geplante und erfolgreich durchgeführte Unternehmung gewesen, als die sie oft gesehen wurde, sondern weit mehr Folge von Zufällen und spontanen Entscheidungen, Irrtümern und Umwegen. Auch Humboldts Bericht über die Reise ist vor allem als fiktiver Text zu lesen, in dem sich einerseits der Forscher mit seinen Forschungen selbst in den Mittelpunkt des Erzählten rückt, andererseits das Zusammenwirken aller Kräfte in der belebten und unbelebten Natur ideal abbilden kann. Einige Beispiele, die Humboldts Handschriften und die von ihm herangezogenen Fremdtexte berücksichtigen, lassen Absichten und Wirkungsweisen dieses Verfahrens deutlich werden und das Konstruktionsgefüge von Humboldts Reisebeschreibung erkennen.



Schwerpunkt: Literatur und Kriminalität

  • Ulrike Zeuch: Wie wird Simplicissimus zum »schlime[n] Gesell«? Grimmelshausens Antwort auf die zeitgenössische Ethik, S. 133-151.


  • In dem religiös zerstrittenen Europa in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bilden die zeitgenössischen Ethiken ein erstaunlich einheitliches Bild. Sie sind im wesentlichen bestimmt durch die Stoa und legen seelischen Gleichmut in allen Wechselfällen des Lebens nahe. Neben dem Dekalog und den Laster- und Tugendkatalogen der praktischen Moraltheologie ist die stoische Ethik die entscheidende Richtschnur der Zeit. Daß trotz dieser Einheitlichkeit, die das Wissen um ein mögliches Defizit der zeitgenössischen Ethik zumindest nicht zu erkennen gibt, dennoch Fragen offen bleiben, wird erst deutlich in der Anwendung der stoisch geprägten Handlungsprinzipien auf den besonderen Fall. Einen solchen besonderen Fall stellt Grimmelshausen mit seinem Simplizissimus vor; und er gibt damit zugleich eine Antwort auf die Frage nach der Tragfähigkeit der Ethik seiner Zeit: Der Einzelne steht mit seiner ethisch relevanten Entscheidung für diese oder jene Handlung im einzelnen Fall allein; er verfügt neben den (stoischen) generellen Handlungsanweisungen über kein Kriterium der Beurteilung.

  • Roland Borgards / Harald Neumeyer: Familie als Exekutionsraum. E.T.A. Hoffmanns Ignaz Denner und die Debatten um Verhör, Folter, Todesstrafe und Hinrichtung, S. 152-189.


  • Der Aufsatz zeigt, daß E.T.A. Hoffmanns Ignaz Denner an den epochalen Umbruchsprozessen teilhat, die das Strafsystem seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verändern. Vor der Folie einer ausführlichen Lektüre der zeitgenössischen Debatten um Folter, Verhör und Hinrichtung wird die Position der Hoffmannschen Erzählung zwischen einer alten Rechtsordnung, die auf die Folter als ein Medium der Wahrheitsfindung setzt und für den qualifizierten Tod plädiert, und einer neuen Rechtsordnung, die das Verhör als Situation der Wahrheitsaussage präferiert und für den einfachen Tod eintritt, erörtert. Die Besonderheit von Ignaz Denner besteht darin, beide Rechtsordnungen in ihren Begrenzungen vorzuführen und das Strafsystem auf den Raum der Familie zu beziehen.

  • Joachim Linder: Feinde im Innern. Mehrfachtäter in deutschen Kriminalromanen der Jahre 1943/44 und der >Mythos Serienkiller<, S. 190-227.


  • Im Mittelpunkt des Beitrags stehen Kriminalromane, die kurz vor dem Untergang des Dritten Reiches auf Anregung des Propagandaministeriums und unter der Aegide des Reichskriminalpolizeiamtes produziert wurden. In diesen Texten wird die Polizei als wohlwollende und fürsorgliche Ordnungsinstanz dargestellt, die nicht Angst und Schrecken verbreitet, sondern streng nach dem im Dritten Reich längst obsolet gewordenen Prozeß- und Beamtenrecht ihre erfolgreiche Ermittlungstätigkeit durchführt. In der Wechselwirkung mit diesem Bild einer rechtsstaatlichen Polizei werden gemeinschaftsunfähige Psychopathen als die Feinde im Inneren der Gesellschaft konzipiert. Die literarischen Feindbildkonstruktionen nehmen traditionelle Vorstellungen über den Zusammenhang von Genie, Kunst und Verbrechen auf, transformieren sie aber so, daß der Nimbus der Größe von den Verbrecher- auf die Polizeifiguren übergehen kann. Die Personenkonstellationen und Konfliktkonstruktionen der untersuchten Texte nehmen Definitions- und Strukturmerkmale der Serienkillerdarstellungen vorweg, die seit der Zeit um 1980 einen wesentlichen Anteil an der >Kriminalitätsproduktion< der internationalen Unterhaltungsindustrie haben.



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