IASL 2001, 1+2



Aufsätze (Band 1)

  • Roberto Simanowski: Literaturwissenschaft und neue Medien. Perspektiven einer Ästhetik der digitalen Literatur.


  • Vor dem Hintergrund der Diskussion um die kulturwissenschaftliche Reformierung der Literaturwissenschaft wird eine Literatur vorgestellt, die schon durch ihre Produktionsvoraussetzungen ganz neuartige, medienübergreifende Eigenschaften entwickelt. Der Beirag bietet eine Typologie, Begriffsbestimmung und Merkmalsbeschreibung des Phänomens >digitale Literatur<, macht mit einigen Stichworten der (vor allem amerikanischen) Diskussion bekannt und eröffnet erste Perspektiven einer ästhetischen Analyse.

  • Ursula Amrein: Diskurs der Mitte. Antimoderne Dichtungstheorien in der Schweizer Germanistik vor und nach 1945.


  • Aus einem dezidiert gegen die gesellschaftliche und ästhetische Moderne gerichteten Selbstverständnis heraus, suchten die Schweizer Germanisten in den dreißiger Jahren die kulturelle Autonomie der Schweiz gegenüber dem »dritten Reich« zu behaupten, befürworteten aber zugleich eine völkisch-nationale Literaturpolitik. Ausgehend von der Bedeutung antimoderner Dichtungstheorien im literaturwissenschaftlichen Diskurs der Schweizer Germanistik rekonstruiert der vorliegende Beitrag deren Verstrickung in die Ideologiegeschichte des Nationalsozialismus und diskutiert die Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen sich eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bis in die sechziger Jahre ausblenden ließ.

  • Alison Lewis: Der Prenzlauer Berg zwischen autonomen Untergrund und Stasisimulation. Zur Rolle und Wirkung der inoffiziellen Mitarbeiter im literarischen Untergrund.


  • Bisherige Studien zur Staatssicherheit (MfS) haben ergeben, daß die Arbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern sehr unterschiedliche Resultate zeitigte. Wie das Konzept der Unterwanderung speziell im Fall der Dichter des Prenzlauer Bergs in den achtziger Jahren ausfiel und was die real vorhandenen Möglichkeiten der Steuerung von innen waren, wird hier in einer neuen Studie untersucht, die Funktion und Wirkung der beiden wichtigsten Inoffiziellen Mitarbeiter innerhalb des literarischen Untergrunds analysiert. Die sach- und personenbezogenen Akten zum Prenzlauer Berg, insbesondere die vorhandenen Treffberichte der jeweiligen IM, bilden hier die Basis einer Neubetrachtung des Prenzlauer Bergs, bei der das gesamte Feld der literarischen und politischen Praxis und das gesamte Ensemble der diskursiven wie nicht-diskursiven Strategien von Staat und Untergrund ins Visier genommen werden.



Fortschrittsberichte und Forschungsdiskussion (Band 1)

  • Christph Reinfand: Systemtheorie und Literatur. Teil IV. Systemtheoretische Überlegungen zur kulturwissenschaftlichen Neuorientierung der Literaturwissenschaften.


  • Der vierte Teil des Fortschrittsberichts über systemtheoretische Ansätze in der Literaturwissenschaft markiert zunächst die Position der Systemtheorie im Rahmen des für die Geistes- und Sozialwissenschaften postulierten cultural turn und skizziert dann systemtheoretische Kulturkonzepte. Deren literaturwissenschaftliches Potential wird anhand von drei Studien illustriert, die aus dieser Perspektive Literatur als Kultur beschreiben. Abschließend werden Möglichkeiten einer Zusammenführung von System-, Medien- und Zeichentheorie diskutiert.

  • Oliver Pfohlmann: >Die Landschaft im Wagen suchen<. Ein kritischer Bericht nach knapp vier Jahrzehnten psychoanalytischer Musil-Forschung.


  • Die wichtigsten zu Robert Musil vorliegenden werk-, autor- und leserorientierten Untersuchungen psychoanalytischer Provenienz werden kritisch gesichtet und sporadisch mit Alternativüberlegungen des Autors konfrontiert. Der Bericht akzentuiert die Signifikanz einer psychoanalytischen Musil-Forschung, hinterfragt jedoch den oft voreiligen und naiven Rekurs von Literaturanalytikern auf das Unbewußte des Dichters: Musil wird als ein reflektierter, auch psychoanalytisch versierter Dichter der literarischen Moderne gesehen, in dessen Werke sich exemplarisch die Wissenschaftsdiskurse des 20. Jahrhunderts eingeschrieben haben.

  • Friedemann Spicker: Zur Geschichte des österreichischen Aphorismus. Anläßlich Stefan H. Kaszynskis Kleiner Geschichte des österreichischen Aphorismus


  • Die Geschichte des österreichischen Aphorismus ist bisher nur skizzenhaft nachzuvollziehen. Das gilt für das 19. Jahrhundert in vollem Umfang, aber auch für das 20., für das man über eine Reihe bedeutendster Aphoristiker hinaus noch nicht zu einer eigentlichen Geschichte gefunden hat. Sie ist ohne einen gesicherten Gattungsbegriff, der von der Autorintention ausgeht, nicht zu schreiben. Auch der vorliegende Beitrag kann zunächst nicht mehr als eine vorläufige Skizze sein; die Aufgabe des Überblicks verknüpft er mit der eines knappen, in der Regel auf neuere Titel konzentrierten Forschungsberichtes.

  • Helmut Peitsch: Zur Rezeption linker und marxistischer Literatur durch deutsche Schriftsteller nach 1945. Anläßlich von Sven Hanuschecks Heiner Kipphardts Bibliothek


  • Kipphardts 2100 Bücher umfassende Bibliothek ist geeignet, gängige Verallgemeinerungen über >das< Lektüreverhalten um >1968< in Frage zu stellen. Der spezielle Fall des aus der DDR in die Bundesrepublik zurückkehrenden engagierten Schriftstellers wirft zugleich ein Licht auf das Angebot an linker und marxistischer Literatur in Ost- und Westdeutschland während des Kalten Krieges und in der Entspannungsära.




Aufsätze (Band 2)

  • Ingo Stöckmann: Traumleiber. Zur Evolution des Menschenwissens im 17. und 18. Jahrhundert. Mit einer Vorbemerkung zur literarischen Anthropologie.


  • Im Traum träumt die Kultur kein Unbewußtes, sondern ihre eigenen kommunikativen Ordnungen. Sehen kann dies eine Wissensgeschichte des Traums, die Anthropologieforschung wieder entschieden an eine sozialhistorisch relevante Modernisierungstheorie anschließt. In den Anthropologien des Traums, wie sie zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert ausgearbeitet worden sind, liegt damit ein Wissen vom Menschen beschlossen, das sich analog zur soziokulturellen Evolution im Übergang zur Moderne formiert. Es ist diese Moderne, die schließlich ein Aufschreibeprojekt erträumt, das alle Träumer zu Autoren werden läßt.

  • York-Gothart Mix: Nationale Selbst- und Fremdbilder in der Mode- und Alamodekritik des >Hinkenden Boten< und anderer populärer Kalender des 18. Jahrhunderts.


  • Kalender und Almanache popularisierten die traditionellen Muster der Mode- und Alamodekritik und pointierten diese unter den Vorzeichen einer Nationentypologie. Sie trugen dazu bei, die Identifikationsfelder Geschichte, Mentalität und Volk als plausible Kategorien erscheinen zu lassen und den wirkungsmächtigen Blick auf die Nation von unten zu etablieren. In der rigiden Abgrenzung zum Fremden etablierte sich vor 1789 ein ethnokulturell fundierter Vaterlandsbegriff, der in die Welterklärungsmuster für den gemeinen Mann eingang fand. Die diffuse Vorstellung vom originär Deutschen begünstigte die Identifikation mit distinktiven Werten und Normen, die andere Sozietäten nicht zu verkörpern schienen. Dabei blieb das Ursprüngliche eine Hypothese, die einzig und allein durch ihre gläubige und massenhafte Rezeption verifiziert wurde.

  • Günter Sasse: "Die Zeit des Schönen ist vorüber" Wilhelm Meisters Weg zum Beruf des Wundarztes in Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden.


  • Die Studie untersucht zwei in den Wanderjahren zentrale Momende der Berufswahl von Wilhelm Meister, um die positiven Reaktionsmöglichkeiten auf die Bedingungen der Moderne auszuleuchten, deren negative der zweite Teil des Faust zu seinem Thema macht. Während der Titelheld in den Lehrjahren dem vom Romangeschehen ironisch unterlaufenen Konzept theatralischer Selbstentfaltung folgt, unterstellt er sich in den Wanderjahren dem Gebot des Allgemeinwohls und wird Wundarzt. Der Aufsatz verdeutlicht, auf Grund welcher jugendlicher Traumatisierungen Wilhelm nach langer Verdrängung durch seine Theaterambitionen den Wandel vom Schönen zum Nützlichen vollzieht, und wie sich dieser in Goethes Konzept einer plastischen Anatomie niederschlägt.

  • Sabina Becker: "Mein Leben soll zu Briefen werden." Salongeselligkeit und Briefkultur: Zum Lebensprojekt Rahel Varnhagens.


  • Der Aufsatz fragt nach den bislang vernachlässigten literarästhetischen Verdiensten Rahel Varnhagens, insbesondere der von ihr vorgenommenen Verbindung zweier literarischer Kommunikationsformen, der Verbindung von Salongeselligkeit und Briefkultur. Es wird gezeigt, daß Rahel Varnhagen mit ihrem Salon wie auch mit der von ihr vorgenommenen spezifischen Funktionalisierung des Briefs nicht nur die sich ihr als Frau und Jüdin bietenden Kommunikationsmöglichkeiten genutzt, sondern darüber hinaus mit der engen Verschränkung beider Medien eine eigene literarische Ästhetik entworfen hat, was als das eigentlich Innovative und Moderne ihrer Aktivitäten gelten darf.

  • Renate von Heydebrand: Interferenzen zwischen Geschlechterdifferenz und Poetik. Annette von Droste-Hülshoff und Levin Schücking als schreibendes Paar.


  • Gegen die Regel in schreibenden Paaren ist es im Fall von Droste und Schücking die Frau, nicht der Mann, die in den literarischen Kanon aufgenommen wird. Die Analyse des historischen und biographischen Hintergrunds des Verhältnisses und der literarischen Zusammenarbeit der beiden sowie die Darstellung der verschiedenen Beziehungen der Droste zu Schriftstellerinnen und der auf Geschlechterpolarität fixierten zeitgenössischen Literaturkritik legen ein widersprüchliches Spiel von gender, Milieu und poetischen Optionen im Prozess der Kanonbildung frei.

  • Rémy Charbon: Kein »Rückzug in die Innerlichkeit«. Demokratische Tendenzen in der deutschsprachigen Schweizer Literatur nach 1848.


  • Im Gegensatz zu den meisten ihrer deutschen Kollegen bestanden die Autoren in der Schweiz, die sich 1848 eine moderne, liberale Verfassung gegeben hatte, auf der Verbindung von politischer und öffentlicher Aktivität mit ihrer literarischen Produktion. Dies geht aus der Auswahl der Gegenstände und der aktiven Teilnahme der Autoren, die meist aus dem Bürgertum oder der Unterschicht stammten, am politischen Leben hervor.

  • Heinz J. Drügh: Verhandlungen mit der Massenkultur – Die neueste Literatur(-wissenschaft) und die soziale Realität


  • Massenmedien, Märkte, Markennamen – wie noch nie zuvor erscheint die Gegenwart als mediales Konstrukt. In den Literaturwissenschaften haben vor allem die Erben der sozialgeschichtlichen Methode: Systemtheorie, Diskursanalyse und New Historicism einen Zugang zu diesen vermittelten Realitäten gefunden. Die Gegenwartsliteratur gewinnt entsprechende seismographische Qualitäten, wenn sie sich von einer Suche nach der verlorenen Eigentlichkeit vor den Diskursen abkehrt und statt dessen den Sprung in die Diskurse der Massenkultur wagt. Damit geschieht jedoch kein Ausverkauf von Literarizität. Im Gegenteil: In einer exemplarischen Lektüre von Joachim Lottmanns Roman Deutsche Einheit (1999) wird vorgeführt, daß aus der literarischen Interaktion mit der medialen Öffentlichkeit eine nicht nur zeitgemäße, sondern auch formbewußte Ästhetik resultiert.



Fortschrittsberichte und Forschungsdiskussionen (Band 2)

  • Annette Keck, Manuela Günter: Weibliche Autorschaft und Literaturgeschichte: Ein Forschungsbericht.


  • Ausgehend von der Diskrepanz zwischen "deconstructive projects" und "reconstructive projects" und damit der Trennung von theoretischer Reflexion und Arbeit am Material innerhalb der >gender studies< nimmt dieser Forschungsbericht insbesondere methodische Angebote der letzten zehn Jahre in den Blick, die das Verhältnis von Weiblichkeit, Autorschaft und Literaturgeschichtsschreibung reflektieren. Dabei wird das Feld der Forschungsliteratur, wie es sich zwischen 1990 und 2000 entwickelt hat, für den Zeitraum von ca. 1750 bis zur Gegenwart zunächst im Hinblick auf die Präsenz weiblicher und männlicher Autornamen quantitativ ausgewertet. Neuere Studien zum Verhältnis von Gender und Genre sowie Konzepte feministischer Literaturgeschichtsschreibung werden im letzten Teil vorgestellt und diskutiert.




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