IASL 2000, 1+2Aufsätze (Band 1)
Die grotesken Motive der Leibreise und der sezierenden Erkundung des Körperreichs besitzen eine lange Tradition, die hier beginnend mit Rabelais` Pantagruel über englische Satiren des frühen 18. Jahrhunderts bis zu deutschen Erzählungen der Romantik und des Expressionismus nachgezeichnet wird. Diese literarischen Darstellungen des Körperinnenraums reagieren kritisch auf das sich wandelnde Erkenntnisfeld der Anthropologie, das durch die ontologische und erkenntnistheoretische Trennung von Innen- und Außenwelt im 17. Jahrhundert und die kantische Subjektivierung des Raums im Verein mit der wissenschaftlichen Verähnlichung des Körpers um 1800 jeweils neu organisiert wurde. Es ist ein eigenartiger Befund, daß sich Brecht als Anwalt des antiaristotelischen epischen Theaters in den Jahren nach der Emigration sehr dezidiert zum Fabelbegriff des Aristoteles bekannt hat. Aus postmoderner Sicht mußte er deshalb als konservativer Neuerer erscheinen. Der scheinbare Widerspruch läßt sich aus seiner Theaterpraxis erklären. Fortschrittsberichte und Forschungsdiskussion (Band 1)
Für Pascale Casanova entwickelt sich schon seit der frühen Neuzeit ein transnationaler literarischer Raum der Rivalität der volkssprachlichen Literaturen. Der sich im 19. Jahrhundert ausbildende internationale literarische Raum ist durch eine antagonistische Stuktur bestimmt: durch den Pol der >reinen< Literatur (mit Paris als Zentrum) und den Pol der Literaturen, die durch politische, nationale oder soziale Zielsetzungen bestimmt sind. Die literarischen Revolutionäre wie Joyce, Faulkner und Beckett können auf den Ergebissen der Revolten der literarisch Dominierten aufbauen, eine Art transnationales >häretisches< symbolisches Kapital zu schaffen. Die anthropologiegeschichtliche Wende der Aufklärungsforschung nimmt ihren Ausgangspunkt häufig von einer Kritik sozialgeschichtlicher Konzepte sowie von einer neuen Hinwendung zu literarischen und wissenschaftsgeschichtlichen Quellen. Anhand einer Studie zum "anthropologischen Roman der Spätaufklärung" werden Forschungsinteressen, Ergiebigkeit, Einsichten und Probleme eines solchen Vorgehens exemplarisch diskutiert. Rezensionen (Band 1)
Aufsätze (Band 2)
Der Beitrag bietet eine kritische Würdigung der ›Überlieferungsgeschichtlichen Methode‹, die seit 30 Jahren als wichtige methodische Grundlage für literaturgeschichtliche Untersuchungen und Editionen im Bereich der Mittelaltergermanistik Verwendung findet. Eine derartige Würdigung führt unweigerlich zu einer Auseinandersetzung mit den methodischen Prämissen der ›New Philology‹. Zu den vielversprechendsten Ansätzen einer Sozialgeschichte der Literatur zählt die Frage nach dem Verhältnis einer Gattung zu den historisch bedingten Denkweisen ihrer Trägergruppen. Unter Rückgriff einerseits auf Georg Simmels relativistische Wertphilosophie, andererseits auf eine systemtheoretische Poetik des neuzeitlichen Dramas rekonstruiert die vorliegende Studie den strukturellen Konnex von Komödie und performativer Wertbildung, wie sie sich in der Marktgesellschaft vollzieht. Überprüft sowie mit historischen und theaterästhetischen Differenzierungen versehen wird das Modell einer dem Funktionieren des Geldes strukturhomologen Komödie am Beispiel von Gryphius` Horribilicribrifax und Christian Weises Verfolgtem Lateiner. Benjamins Begriff des Politischen hätte in einem Aufsatz dargelegt werden sollen, von dem in Briefen aus den frühen zwanziger Jahren wiederholt die Rede ist. Wie die Rekonstruktion des nur bruchstückhaft überlieferten Textes und seines Entstehungshintergrundes zeigt, lassen sich in Benjamins politischer Philosophie, die um eine eigentümliche Metaphysik des Leibes und der Technik zentriert ist, höchst unterschiedliche Einflüsse aufzeigen, die sich in der frühexpressionistischen Nietzsche-Rezeption vielfach bündeln und durchmischen. Die Koordinaten, in denen sich Benjamins Überlegungen zu Beginn der zwanziger Jahre bewegen, dienen noch seinem späteren politischen Engagement als unverrückbare Orientierungspunkte. Der 1903 innerhalb des Ullstein-Pressekonzerns gegründete Ullstein Buchverlag war in starkem Maß organisatorisch wie inhaltlich abhängig vom Roman-Bedarf der konzerneigenen Zeitungs- und Zeitschriftenredaktion. Die Dominanz der Presse- Erzeugnisse verpflichtete die Lektoren des Buchverlags, den verlegerischen Wert von literarischen Manuskripten an ihren Chancen auf eine mediale Mehrfachverwertung innerhalb des Konzerns zu messen. Die Rekonstruktion der Lektoratsarbeit läßt ein höchst effizient funktionierendes, werbestrategisch ausgefeiltes Verlagskonzept erkennen, in dem Bestsellergeschäft und der Geschmack eines Massenpublikums, aktuelle Zeitgeistströmungen und die Unterhaltungskultur in Berlin weitgehend die Manuskriptauswahl dirigierten. Die in politisch-kulturellen Zeitschriften der frühen Nachkriegsjahre dokumentierten politischen Konsensbildungsprozesse unter westdeutschen Intellektuellen belegen die ungebrochene Kontinuität antimoderner Denktraditionen. Die aus konservativ- kulturkritischen Deutungsmustern bezogene Interpretation des NS-Regimes als End- und Gipfelpunkt der Moderne erlaubte es, die Frontstellung gegen Modernisierungsprozeß und offene Gesellschaft, die weite Teile der deutschen Intelligenz seit der Jahrhundertwende bezogen, nach 1945 als >Antifaschismus< neu zu legitimieren. Deutliche Reserve gegen demokratische Gesellschaftsentwürfe und breite Konsensfähigkeit autoritärer Politikkonzepte prägen die Diskussionen zwischen 1945 und 1949. Geleitet von Elementen der Feldtheorie Pierre Bourdieus, entfaltet der Artikel das Profil der Gruppe 47 sowie ihre Definition des Verhältnisses von Literatur und Politik im Kontext des sich nach 1945 rekonstruierenden literarischen Feldes. Skizziert werden der Aufstieg der Gruppe innerhalb des literarischen Feldes, ihre einzigartige Integrations- und Ausstrahlungskraft sowie ihre Versuche, ihr kulturelles und soziales Kapital einzusetzen, um sich einzumischen in die Politik. Fortschrittsberichte und Forschungsdiskussionen (Band 2)
Wenn man Sammlungen als eine Sonderform bzw. Externalisierung des Gedächtnisses betrachtet, dann stellt sich die Frage, ob man Sammlungen als eine spezifische Organisation von Vielheit wesentlich identitätsstiftend versteht oder ihnen als Abbildungsraum von Welt auch eine erkenntnistheoretische Funktion zuspricht. Für diese beiden Traditionsstränge liegt der entscheidende Umbruch um 1700, da von der Frühaufklärung an die Leistung des Gedächtnisses als identitätsstiftend vor allem im Verhältnis zum Vergessen beschrieben wird. Karolina Dorothea Fells Untersuchung über Reiseberichte deutschsprachiger Frauen 1920-1945 ist wegen ihres weitgehend unerforschten Gegenstandes hervorzuheben. Erstmals wird die Fülle der einschlägigen Titel sichtbar und man bekommt den methodischen Schwächen zum Trotz dankenswerte Informationen über Inhalt und Tendenzen dieser unbekannten Texte. Der von Peter J. Brenner herausgegebene Sammelband erschließt in zehn sehr qualifizierten Aufsätzen eine Vielfalt von Aspekten zur Reisekultur zwischen Weimarer Republik und ›Drittem Reich‹: Behandelt werden neben Berichten über Auslandsreisen auch Themen von mehr gesellschaftlicher Relevanz, etwa die Anfänge des deutschen Volkstourismus oder die Bedeutung des Autobahnbaus. Gabriele Habingers Buch über die Lebensgeschichte der Ida Pfeiffer kann wissenschaftlichen Anforderungen weniger genügen, zumal zu dieser bedeutenden Reisenden des 19. Jahrhunderts schon gründliche Darstellungen existieren. Unterhaltsam und interessant ist der Band von Annette Deeken und Monika Bösel über Frauenreisen in den Orient, wiewohl er in manchen Punkten wissenschaftlich nicht ganz standhält. Im wesentlichen werden deutschsprachige Berichte aus dem 19. Jahrhundert vorgestellt, wobei das Augenmerk auf dem Problem der Fremderfahrung liegt. Die Auseinandersetzung mit Rudolf Helmstetters Buch Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes behandelt der Beitrag den Einfluß, den die im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstehende Massenkommunikation auf die deutsche Literatur gehabt hat. Dabei ergeben sich zwei Entwicklungslinien: eine Steigerung der Reflexivität, die vom Realismus über das Verbindungsglied Fontane in die Moderne führt, und eine Perfektionierung literarischer Simulation, die die neueren Simulationsmedien des 20. Jahrhunderts vorbereitet. Rezensionen (Band 2)
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