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Jürgen Fohrmann

Organisation, Wissen, Leistung

Konzeptionelle Überlegungen zu einer Wissenschaftsgeschichte der Germanistik



Seit dem Beginn >germanistischer Wissenschaft< hat sich das fach nicht nur in aktueller, sondern ebenfalls in historischer perspektive immer auch beobachtet. Über die reine selbst-referenz hinaus - als teilnehmer eines fachs muß man sich ja notwendigerweise auf das fach beziehen - hat daher Wissenschaftsgeschichte stets zum Repertoire der sogenannten "Studien über deutsche Sprache und Literatur" gehört. 1 Allerdings war die Funktion solcher Beschäftigung durchaus unterschiedlich. Vier Varianten lassen sich zunächst voneinander abgrenzen.

Solange man sich etwa in einem nicht abreißenden Kontinuum der Wissenschaft dachte, in dem nach grundlegender methodischer Fundierung das Wissen in quantitativer Hinsicht zunahm, hatten die Heroen der eigenen Tradition Vorbildfunktion, und Fachgeschichte betreiben hieß, sich an ihrem Leitbild zu orientieren. Auf den Schultern der Riesen stehend bauten die zeitgenössischen Zwerge das einmal Erreichte aus, ohne allerdings am etablierten methodologischen Fundament zu rütteln. Wissenschaftsgeschichte, etwa seit Hoffmann von Fallersleben und seit einer Vielzahl von Rezensionen und dann Nekrologen, ersetzte hier eine Wissenschaftstheorie. 2

Dies ändert sich dann, wenn man, obwohl noch aus dieser Tradition kommend, sich von dieser Tradition zugleich abzusetzen sucht. Scherers Jacob Grimm-Buch (1885) etwa verdeutlicht diesen Zusammenhang. 3 Die hier vorgenommene Abkehr von Vergangenheit indiziert dann trotz aller Verbeugungsgesten vor dem Alten eine Verschiebung im methodologischen Konzept, die schließlich in eine neue Theorie des Faches mündete und zum Aufbau einer zweiten Traditionsreihe führte. Dabei handelt es sich um ein ganz übliches Verfahren: durch Diskontinuierung sollte der Raum für neue Geltungsannahmen frei werden, die dann ihrerseits ihre eigene Geschichte mitbrachten.

Auch wenn sich eine dritte Variante ganz in die >große Vergangenheit der Philologie< wieder einschreiben möchte, so handelt es sich bei ihr aber nicht einfach um eine fortsetzung des 19. jahrhunderts, sondern um eine im kern politisch motivierte apologie der tradition. diese dritte form von wissenschaftsgeschichte ist nach 1945 in deutschland aufgetreten; sie gab sich häufig als eine art >Altersrevue<, in der am ende einer wissenschaftlichen laufbahn - zeit historistisch einebnend - auf ein Leben im Sinne Goethescher "Tätigkeit" zurückgeblickt wird und zwar in weitgehender Ausblendung der deutschen Unheilsgeschichte zwischen 1933 bis 1945. 4

Insbesondere gegen diese letzte Spielart von Wissenschaftsgeschichtsschreibung wandte sich schließlich jene Kritik der Vergangenheit (als Kritik des Fachs und als Kritik der Literatur), die die Ideologiehaftigkeit gerade auch des Verschweigens nationalsozialistischer Zeit systematisch aufzugreifen versuchte. Wie auch schon Scherer sortierte sie zwei, nun aber extern bestimmte Traditionen und markierte so für die Ausarbeitung der deutschen Germanistik jenen Punkt, mit dem eine politisch sich naiv gebende Anverwandlung der eigenen Fachgeschichte, die die Errungenschaften der einen, großen Forschungsvergangenheit beschwor, unmöglich wurde. 5

Die "germanistische Ideologiekritik" - so der Untertitel des Buches von Bernd Peschken 6 - wies auf die nationale, antidemokratische und auf vielfache Weise mit dem Faschismus verknüpfte Tradition deutscher Sprach- und Literaturwissenschaft, die sich bis dahin anschickte, den "Sündenfall der Germanistik" 7 diskret zu übergehen und in Kleinen Nachspielen - so der Titel von Josef Nadlers Autobiographie 8 - sich ganz auf die Werte der Philologie oder auf wissenschaftsinterne Klatschereien rückzubesinnen.

Die Verfahrensweise der Ideologiekritik nun bestand darin, die Arbeiten scheinbar exponierter Fachvertreter auf bestimmte Ideologeme hin zu sichten, diese Ideologeme in einen Zusammenhang zu bringen (Geschichtskonstruktion o.ä.) und die gewonnenen Konstruktionen sowohl auf einen politischen, kulturellen oder ökonomischen Kontext zu beziehen als auch ihre Funktion für diesen Kontext anzugeben. Dabei wurden die Ideologeme selbst immer dann der Kritik unterzogen, wenn sich feststellen ließ, daß sie in der Moderne vormoderne Vorstellungen zur reaktivieren suchten.

"Die exemplarische Analyse der Arbeiten der Germanisten W. Scherer, A. Sauer, J. Nadler", so Franz Greß resümierend, "kommt zu dem Ergebnis, daß Germanistik und Deutschunterricht den Prozeß der technisch-organisatorischen Modernisierung der Gesellschaft nicht verarbeiteten [...]. Statt dessen ideologisieren sie ihre Gegenstände und Methoden und bilden zunehmend die Grundlage eines kulturpessimistischen und systemoppositionellen Engagements der sie tragenden Gruppen." 9

Im Rahmen dieser ideologiekritischen Betrachtungsweise konnte die Fachgeschichte dann als Kampffeld zwischen vornehmlich einer (national-)demokratischen und einer reaktionär-religiös-nationalistischen Tradition aufgearbeitet werden. Auf solche Weise war die Geschichte der Germanistik aufs engste mit der politisch-sozialen Entwicklung verknüpft, und es wurde zum ersten Mal möglich, fachgeschichtliche Phänomene im Kontext gesellschaftlicher Interessen zu begreifen. Dies ist das wohl wichtigste und unverzichtbare Ergebnis der ideologiekritischen Betrachtungsweise.

Ohne hier auf die Versuche eingehen zu wollen, einen solchen Ideologiebegriff im Zusammenhang einer materialistischen Theorie zu begründen (Althusser und andere) und damit in seinen funktionsgeschichtlichen Ansprüchen zu präzisieren, möchte ich nur knapp einige Probleme herausstellen, die mit der Bevorzugung des ideologiekritischen Verfahrens zusammenhingen:

  1. Die Fachgeschichte erschien weitgehend als Reflex oder auch als Organon der politisch-sozialen Bewegung (Topos von der "nationalen Germanistik"). 10
  2. Diese politisch-soziale Bewegung wurde dabei immer als "Nationalbewegung" gefaßt. Zwischen Gervinus, Vilmar und Scherer konnte dann (je unterschiedlich) das Betonen nationaler Werte analysiert werden. Dabei übersah man, daß der Begriff der Nation unter Wertgesichtspunkten nur eine Leerformel darstellte, gleichsam der Projektionsraum war, auf den ganz unterschiedliche Werte sich bezogen fanden. Stellt man aber die Selbstzuschreibungen der Texte, etwa der Literaturgeschichten, einmal zurück, so sind auch ganz andere Referentialisierungen der Ideologeme denkbar: etwa die Einordnung in konfessionelle Bewegungen, in die >Geschichte des neuzeitlichen Bürgertums< oder ähnliches. auf diese weise pluralisiert sich das scheinbar einheitliche bild.
  3. Gleichzeitig wurde eine mehrsträngige Rekonstruktion des Fachs (administrative, institutionelle, leistungsorientierte, textsortenbezogene Untersuchungen) nicht entschieden genug vorangetrieben oder nicht auf die ideologiegeschichtliche Perspektive bezogen.
  4. Das >Gesamtfach< kam damit nicht in den blick; gerade für das 19. jahrhundert wurden etwa die literarhistoriker in zu einseitiger weise zu repräsentanten der disziplin erklärt.
  5. Das ideologiekritische Verfahren ließ es nicht zu, seine in der Regel an Personen (als Stellvertretern von Weltanschauungen) ausgerichteten Forschungen zu einer Geschichtsdarstellung zu verbinden. Das personale Modell konnte zwar in sich, durch je neue, variierende Untersuchungen verdoppelt, aber nur sehr schwer (intern) zu einem Prozeß verknüpft werden. Damit ergab sich folglich nicht jene große Fachgeschichtserzählung, an der alle Beteiligten interessiert waren.

Nach allem erscheint es mir heute ratsam, die ideologiekritische Verfahrensweise durch ein breiter angelegtes Modell, das eine höhere Integrierbarkeit von Teilresultaten erwarten läßt, zu ersetzen.

Dieses Modell, das im folgenden in seinen Umrissen vorgestellt werden soll, geht aus von der Dreiteilung in

  1. Organisation,
  2. Wissen und
  3. Leistung.

Es hat sich dabei als brauchbar erwiesen, den Begriff >Organisation< in drei >Organisationsformen< zu differenzieren, die als

  1. die gelehrte,
  2. die disziplinäre und
  3. die universitäre Gemeinschaft
das Sozialsystem der Wissenschaft bestimmt haben. 11


Gelehrte Gemeinschaft

Die gelehrte Gemeinschaft erscheint als die Organisationsform alteuropäischer Gelehrsamkeit. Der in ihr tätige Literator unterscheidet noch nicht oder nur in Ansätzen nach Fächern, sondern versucht im Rahmen klassifikatorischer Ordnungen das ganze Feld des Wissens darzustellen. Das Wissen selbst ist zumindest bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts noch weitgehend eingeteilt in aggregierende und systematische Fächer (auch abgebildet in der Gliederung der Universität). 12 Die "historia" bietet dann das noch ungeordnete Material, das von den systematischen Wissenschaften (Philosophie, Theologie usw.) erst in ein (dogmatisches) System gebracht werden muß. Die Forschungen zu >Einzelgegenständen<, etwa zur deutschen sprache und literatur, erfolgen vor 1750 daher noch nicht im rahmen fachspezifischer ausdifferenzierung, und kontinuität bleibt weitgehend von persönlichen vorlieben abhängig. einzelwissen-schaftliche untersuchungen waren damit nicht wichtigstes ziel der gelehrten gemeinschaft, deren funktion - neben pragmatischer verwertung - eher darin bestand, das Wissen dem Gedächtnis (memoria) bereitzustellen und dieses Wissen zugleich als wissenswert auszuweisen (dies gilt gerade für die deutsche Sprache und Literatur). 13


Disziplinäre Gemeinschaft

Will man es systemtheoretisch formulieren, so beruht die Ersetzung der gelehrten durch die disziplinäre Gemeinschaft auf einer Veränderung der System-Umwelt-Differenz. Einmal differenziert sich der Gelehrtenstand mit der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft und zum anderen gliedert sich das Wissen selbst in disziplinäre Sortierungen, die aufeinander unabbildbar bleiben, auch wenn Individualitätskonzepte wieder eine Reintegration versuchen. 14 Galt nämlich der gelehrten Gemeinschaft allein das Nichtwissen als Umwelt und alles Wissen als zum System gehörend, so bleibt für die disziplinäre Gemeinschaft nur noch das fachspezifische Wissen integrierbar, und die Nachbarfächer erhalten nun Umweltstatus. Die System-Umwelt-Differenz verlagert sich damit von der grundsätzlichen Trennung zwischen Wissen und Barbarei (das ist Nichtwissen) zu fachspezifischen Differenzen innerhalb des Wissenschaftssystems. Dieser Prozeß setzt sich - trotz wiederholter Aufhebungsbemühungen - in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend durch. Sein wichtigstes Ergebnis ist vielleicht, daß die Einzelwissenschaften nun der Notwendigkeit ausgesetzt sind, ihre spezifische Disziplinarität (kontrastiv) zu begründen.

Disziplinäre Gemeinschaften reklamieren jetzt für sich nicht mehr allein, das Erinnernswerte zu sammeln, sondern verstehen sich als Wissenschaft in noch näher zu bezeichnendem Sinne. Die Beschäftigung mit deutscher Sprache und Literatur soll nun als arbeitsteilige Erstellung von Wissen im Rahmen eines sich in Disziplinen auffächernden historischen Projekts begriffen werden. Dieses historische Projekt, mithin die gemeinsame, Differenzierung rückbindende Ausrichtung der historischen Wissenschaften, zielt auf die Rekonstruktion von Sinnverhältnissen in und aus der einen, umfassenden Geschichte. 15 Disziplinäre Gemeinschaften des neuen Typs stellen also im Rahmen eines solchen historischen Projekts auf Sinn um. 16 Ihre Ablehnung gilt jetzt dem aus der Gelehrsamkeit überkommenen Wissenschaftlertypus, dem Literator, dem pure Stoffhäufung jenseits von Sinnfälligkeiten stets vorgeworfen wird. Als Dilettant soll er aus der disziplinären Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Auch wenn er in Transformationen dann doch zu überleben vermag (Bibliothekar, Bibliograph) und schließlich in der Zuweisung als Historiograph der "äußeren Geschichte" seinen Ort findet.

Solche Lokalisierung überrascht nicht, ist doch die disziplinäre Gemeinschaft noch ein Verbund so unterschiedlicher Rollen wie Philologe, Literarhistoriker, Literator, Bibliothekar, Ästhetiker oder Lehrer. Jede dieser Rollen versucht die disziplinäre Gemeinschaft zu dominieren, wobei allerdings ausgreifender Erfolg nur den Philologen und Literarhistorikern beschieden ist (auf je anderen Ebenen).

Institutionellen (im engeren Sinne des Wortes) Erfolg hatten allerdings bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts ausschließlich die Philologen. Ihre Bedeutung im Organisationsgefüge von Wissenschaft verengte und transformierte die disziplinäre dann in die universitäre Gemeinschaft. Dabei bleibt die grundsätzliche Fächersortierung des Gesamtsystems >Wissenschaft< allerdings unangetastet; 17 verändert hat sich nur der Grad der Institutionalisierung, der mit dem Übergang zur >universitären Gemeinschaft< sich vollzog.


Universitäre Gemeinschaft

Universitäre Gemeinschaft meint: Neben der Ausrichtung auf Sinnverhältnisse wird die Organisation von Wissenschaft professionalisiert. Die Wissenschaft von deutscher Sprache und Literatur wird in zwei Schüben (variativ, Alt- und Neugermanistik) ausgebaut (wobei Randbezirke wechseln), Qualifikation und Nachwuchsrekrutierung werden geregelt, das Kommunikationsnetz stabilisiert (erste Fachzeitschriften), ein Verhaltenskodex eingeführt und der einzelne Forscher auf eine Berufsethik festgelegt. 18 Die für eine Wissenschaft notwendige Binnendifferenzierung erfolgt über eine in der Frontstellung klare und zugleich intern stets diffuse Gruppenbildung (Lachmannianer - Grimm; Lachmannianer - Bartsch / Pfeifer / Holtzmann / Zarncke usw.). 19

Diese Zuspitzung, mithin die Ausgliederung der Ästhetik (Hegelianer), vornehmlich aber der Literarhistoriker aus der universitären Gemeinschaft, ist das Ergebnis philologischer Hegemonie - einer Herrschaft, die auf mehreren Ebenen erklärungsbedürftig ist.

Eine solche Erklärung erfordert zunächst den Rückgriff auf die zweite Arrangementkategorie, das Wissen. Dabei sollen auch hier - analog aber nicht in einsträngiger Abhängigkeit zu den drei Organisationsformen - drei Formen von Wissen unterschieden werden:

  1. Gegenstandswissen
  2. ,
  3. konzeptuelles und
  4. soziales Wissen
  5. .
In einem ersten Zugriff erläutern diese drei Wissensformen zugleich die Ablösungen bzw. die Herausbildungen von gelehrter, disziplinärer und universitärer Gemeinschaft.


Gegenstandswissen

So läßt sich nämlich behaupten, daß etwa die aus der gelehrten Gemeinschaft allmählich sich derivierenden Forschungen zur deutschen Sprache und Literatur am Ende des 18. Jahrhunderts allein Gegenstandswissen repräsentieren, 20 oder genauer: daß sie zwar ihre ans Licht geförderten Dokumente erneut in übergreifenden Taxonomien zu verorten wußten, sie aber nicht jenseits des lang etablierten Ordnungsschemas der >historia literaria< einzugliedern verstanden. Dies gilt noch für Bouterweks berühmte Geschichte der Poesie und Beredsamtkeit (1801-1819), die bezeichnenderweise als Teil der Eichhornschen Monumental-Litterärgeschichte in Göttingen erscheint. 21

Die Philologie, der die Erbnehmerschaft der Litterärgeschichte gern angetragen wird, versucht nun gleichwohl eine mehrfache Überbietung des gelehrten Sammelns und klassifikatorisch-chronologischen Ordnens. Um dies leisten zu können, reklamiert sie für sich über die Kenntnis der Gegenstände hinaus (d. i. Wissenschaft im alten Verständnis, im Sinne von >Kenntnisse haben<) ein neues, objektbezogenes, konzeptuelles Wissen.


Konzeptuelles Wissen

Zum einen zielt dieses Wissen auf die Überführung von Dokumenten in Monumente: 22 erst das an der Klassischen Philologie erprobte Verfahren der Edition, auf die deutsche Literatur übertragen vor allem von Lachmann, ermögliche, die eigentliche Gestalt der Texte zu rekonstruieren und Sinnbezüge auf authentischer Grundlage herzustellen. Voraussetzung solcher Arbeit ist dabei die Existenz einer deutschen diachronen Grammatik, die erst eine wissenschaftliche Bearbeitung der Dokumente im philologischen Sinne möglich macht. Sie liegt seit Jacob Grimms Deutscher Grammatik (1819) vor und erlaubt nun, die literarische Überlieferung auf jeweilige Standards hin (gleichsam klassizistisch) zu homogenisieren. 23

Dabei ist die deutsche Philologie nicht an einer umfassenden Sinnauslegung der so erstellten Monumente interessiert, sondern setzt darauf, daß der Geist, ist er in seiner wahren Gestalt erst einmal freigelegt, durch die Denkmäler wie von selber spricht. Die sich dann in den Zeitschriften, etwa in der Zeitschrift für deutsches Altertum oder in Pfeiffers Germania, polarisierende Diskussion läßt trotz der unterschiedlichen Einschätzung, wie umfangreich altgermanistische Texte für die Öffentlichkeit aufzubereiten sind, diese grundsätzliche philologische Einstellung unverändert. 24 Ziel der philologischen Arbeit bleibt es, zur Kenntnis, nicht zur Auslegung des Textes beizutragen.

Zugleich ergäbe dann diese Kenntnis - dies ist der zweite philologische Überbietungsversuch - ein Mosaik, in dem das Ganze der deutschen Literatur sich wie ein weites Panorama entfalte, ohne wieder in dürre >litterärhistorische< Klassifikationen zu münden. Daß dieses Ganze nur in intelligibler Hinsicht existierte, da seine Erstellung immer wieder futurisiert und für den einzelnen Forscher auch gar nicht für möglich erachtet wurde, war der deutschen Philologie dabei durchaus bewußt. 25

Die Kritik, die das literarhistorische Konzept an der Philologie dann vorzutragen versuchte, setzte an diesem Mosaik-Modell, das in literarhistorischer Ausleuchtung schnell zu einem Miszellen-Modell wurde, an. 26 Gervinus und andere warfen den Philologen vor, doch nur jene Literatoren zu sein, die oft überflüssiges Material sinnentleert zu akkumulieren versuchen. Dagegengestellt wurde von literarhistorischer Seite die Idee der "inneren Geschichte der Literatur", in deren Rekonstruktion sich zugleich das Tiefland der nationalen Ideen erschließen würde und aus deren Kenntnis die Nation sich zum Selbstbewußtsein erheben könnte. 27 Der Philologie hingegen erschien dieses literarhistorische Verfahren, >durch Anordnung zu wirken<, als unlautere, da zu viele kenntnislücken überspielende kombinatorik, die da vorschnell ernten wolle, wo doch die wahren kenner der deutschen sprache und literatur erst zu säen begonnen hätten. literarhistoriker und dilletant zu sein: diese beiden prädikate seien als synonym zu begreifen.

Mit dieser konzeptionell ausgerichteten Rhetorik versuchten die Philologen (mit Erfolg) die Literarhistoriker aus der Universität zu verdrängen und sie auch in der disziplinären Gemeinschaft weitgehend als vorschnelle Köpfe zu stigmatisieren. In universitären Zusammenhängen herrschte dann auf lange Zeit die philologische Theorie des "sauberen Arbeitens" vor, die den textkritischen Zugang, die Vorstellung des Mosaiks und die Annahme der Geist-Teilhabe des einzelnen Forschers im Rahmen einer Ethik miteinander zu verbinden suchte. 28 Denn es läßt sich zeigen - Rainer Kolk hat dies im einzelnen vorgeführt 29 - daß die vielgerühmte philologische Methodologie vornehmlich auf einem Verhaltenskodex sich gründet, der die sogenannte "gestrenge Kritik" weitgehend von persönlichen Charakterdispositionen abhängig macht.

Aus diesem Grund - und in diesem Kontext erhält die frühe Wissenschaftsgeschichte dann ihre oben bezeichnete Funktion - wird statt einer ausgearbeiteten Methodologie - jenseits allgemein-philologischer Enzyklopädien 30 - stets das Einschwören auf wissenschaftsbegründende Überväter, allen voran Karl Lachmann, favorisiert. Der Verweis auf Lachmanns Leistungen (und nicht Grimms, dessen Phantasie doch zu weitschweifig erschien 31) und das von ihm vertretene Ethos ersetzt (als Wissenschaftsgeschichte) mithin eine fachbezogene Wissenschaftslehre.

Es ist diese Ethik, die die Verkehrsformen, Qualifikation und Nachwuchsrekrutierung der universitären Gemeinschaft (die zugleich die disziplinäre Gemeinschaft ganz in sich aufgehen lassen will) regeln soll. Die Verbindung von Gegenstands- und konzeptuellem Wissen als Ethik sollte damit das >reine< gegenstandswissen der gelehrten gemeinschaft ablösen und alle forscher als dilettanten ausweisen, die nur im polyhistorischen sammeln oder in vorschnellen synthesen sich zu gefallen suchten.

Diese auf das Einzelsubjekt wie auf das gesamte Fach bezogene Ethik begründetete zugleich eine Reihe von folgenreichen Vorentscheidungen.

Zum einen steuerte sie die Festlegung von Arbeitsfeldern, etwa die Hinwendung zu altgermanistischen Gegenständen (oft technisches Interesse) einer- und die Paradigmatisierung der Weimarer Klassik in der verspätet entstehenden Neugermanistik andererseits.

Zweitens - und noch wichtiger - führte diese Ethik zu einer Bevorzugung von Textsorten: der mehr oder minder kommentierenden Edition, der biographischen Miszelle oder später der ausführlicheren Autorenbiographie, die Leben und Werke in Abhängigkeit zu setzen versuchte. 32 Bewußt ausgeblendet wurden etwa die umfassende Literaturgeschichte und die Interpretation. 33 Diese Favorisierung bestimmter wissenschaftlicher Genera führte dazu, daß die deutsche Philologie jenseits des manchmal in Vorworten auftauchenden nationalen Pathos nicht gezwungen war, ihre Gegenstände stringent zu kontextualisieren, etwa im Hinblick auf eine durchgängige Idee politischer Freiheit, wie sie bei Gervinus zu finden sein soll. Die Philologie setzte dagegen eine Vielzahl nicht direkt verknüpfbarer Bezüge, meist mit biographischen oder sprachgeschichtlichen Referenzen, die sich aber kaum zu übergreifenden Thesen zusammenfassen ließen. Es ist daher (anders als bei der Literaturgeschichte) mindestens bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts schwer, die von der Philologie dominierte universitäre Gemeinschaft aus einer überkommen ideologiegeschichtlichen Perspektive zu betrachten, verstand sie es doch, alle sinngebend nationalen Projekte aus ihrem Verband zu verdrängen.

Dies gilt nicht nur für die Literaturgechichte, sondern auch für das von Jacob Grimm gedachte Programm der Aufarbeitung einer reineren nationalen Vorzeit, die mittels Verfahren gewonnen werden sollte, die jenseits des "sauberen Arbeitens" der Philologie anzusiedeln sind. 34 Nicht aber in einer konzeptuellen Diskussion versuchte etwa die Philologie Lachmannscher Provenienz ihre Machtstellung auszubauen, sondern über den Einsatz der dritten Form von Wissen, dem sozialen Wissen.


Soziales Wissen

Soziales Wissen nämlich wird insbesondere notwendig im Übergang von der disziplinären zur und in der universitären Gemeinschaft. Die (wenn auch zunächst stagnierende) Besetzung von Lehrstühlen mit eigenen Kandidaten, die Steuerung des Rezensionswesens, der Aufbau eines Verweiskartells, die planmäßige Rekrutierung und Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses usw.: alle diese sozialen Funktionen wollten die Lachmannianer, aber nicht Jacob und Wilhelm Grimm übernehmen, denen Lehre und Schulenbildung eher eine unerfreuliche Nebenbeschäftigung waren, die von der eigentlichen Forschung abhielt. Es wird hier deutlich, daß wirklichen organisatorischen Erfolg nur eine Ausrichtung hatte, die in gleicher Weise auf Gegenstandskenntnis, konzeptuelle Rhetorik und soziales Wissen setzte. Erst diese Trinität erlaubte gruppenspezifische Ausdifferenzierung jenseits aller, die disziplinäre Gemeinschaft verbindenden Kategorienoptionen. 35

Und die Verbindung von Gegenstandsaufwertung, konzeptuellem und sozialem Wissen ermöglicht dann auch die universitäre Durchsetzung der Neugermanistik, die im Umkreis von Michael Bernays, Wilhelm Scherer und Erich Schmidt stattfindet. Die Neugermanistik variiert nur das schon bestehende Berufsprogramm durch die Ausweitung und dann doch wieder Zentrierung (Klassik) des wissenschaftlichen Gegenstandsbereichs und ermöglicht, so die These Rainer Kolks, die Unentscheidbarkeiten der Altgermanistik (Nibelungenstreit) zu verschieben. Die Neugermanistik rettet also noch einmal das philologische Verfahren vor drohender Sterilität, indem sie es auf neue Gegenstandsbereiche überträgt.

Eine andersartige Situation ergibt sich erst zu jenem Zeitpunkt, an dem konzeptuelles und Gegenstandswissen nicht mehr allein in Form einer Ethik verbunden werden konnten. Diese Situation deutete sich im Grunde schon in Scherers Poetik (1888), dann aber vornehmlich seit der Fachentwicklung der 90er Jahre an.


Kategorien
als Selektionskriterien

Seit den 1890er Jahren ist nämlich zu bemerken, daß kategoriale Annahmen die Bearbeitung des Gegenstandsbereichs "deutsche Sprache und Literatur" leiten sollten. Diese Kategorien wirkten als Selektionskriterien, die den literarischen Objektbereich von einem (konstruktiv gesetzten) Bezugspunkt aus zu erschließen suchten. Vergleichend-morphologische, übergreifend gattungsgeschichtliche, motivgeschichtlich-philosophische, später geistes- oder stammesgeschichtliche Ansätze reklamierten nun für sich, erst auf ihre Weise ließe das ansonsten tote Material sich zum Sprechen bringen, erst die >Ordnung der Dinge< durch eine kategorial bedingte perspektive ergäbe mithin wissenschaftliche resultate. 36

So vertraut wie dies heute erscheinen mag, so erbrachte solche Umorientierung doch in mehrfacher Hinsicht gravierende Veränderungen. Zum einen propagierte das neue konzeptuelle Wissen (implizit oder explizit) eine Abkehr vom nationalen Horizont, da alle Untersuchungen (morphologischer, generischer oder motivgeschichtlicher Art) einen weltliterarischen Zuschnitt für sich beanspruchten. Die Nation konnte damit als alleiniger Sinnrahmen aufgegeben werden - paradoxerweise gerade zu dem Zeitpunkt, an dem die universitäre Etablierung der deutschen Philologie ihre entscheidende Konsolidierung erreichte (eine Entwicklung, die nicht von der Wissensebene her erklärbar ist).

Die Vorschaltung kategorialer Annahmen gestand zudem ein, daß die reine Präsentation von Dokumenten nicht schon zu Monumenten führte, daß also das ausschließliche Bereitstellen von Texten die Überlieferung nicht wie von selbst zum Sprechen brachte. Dies aber war ja das zentrale, wiewohl naive (oder doch bloß am allgemeinen, da von gleichen Kenntnissen getragene Einverständnis der Forschergemeinschaft ausgerichtete?) Konzept der deutschen Philologie gewesen. Und zugleich wurde damit eine Ethik hinfällig, die ihre Dignität aus dem Pathos des "sauberen Arbeitens", verstanden als Differenz zur vorschnell philosophischen Synthese, zu beziehen versuchte. Es bedurfte nun gerade der kategorialen Vorentscheidungen, mithin der konstruktiven, spekulativen, >philosophischen< hinsichten, um dem gegenstandsbereich nicht nur "deutschphilologischen Schutt" (meltzl) abzugewinnen. 37

Gegenstands- und konzeptuelles Wissen sind mithin auf einer kategorialen (Forschungsprogramme ermöglichenden) und nicht mehr allein auf einer personalen Ebene miteinander zu verbinden. Als Variation oder wechselseitige Ersetzung, als Kombination, Auflösung oder Rekombination usw. läßt sich die Abfolge kategorialer Hegemonienbildung von nun an beschreiben.

Die Aufgabe philologischer Naivität, das Ende des Traums einer sich selbst schreibenden Rekonstruktion, war somit zugleich der Beginn des dann gern beklagten "Methodenpluralismus" (falls man dieses mißverständliche Wort benutzen will) - auch wenn es noch bis in die 1920er Jahre gedauert hat, bis diese Ablösung der >naiven< philologie dann in der universitären gemeinschaft sich durchsetzen konnte. damit ergab sich die möglichkeit, über kategoriale vorentscheidungen (etwa stamm oder geist) zu neuen (und trotz aller steuerungsversuche durch wissenschaftslehren wechselnden) referentialisierungen zu gelangen und die dabei entstehenden interpretationen anderen systemen als leistung anzubieten. um dies zu verdeutlichen, ist es notwendig, den dritten der gewählten leitbegriffe, die Leistung, näher zu erläutern.

Dabei ist daran zu erinnern, daß der Übergang von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft sich nicht abrupt, sondern allmählich vollzog. Dies brachte mit sich, daß fachspezifische Ausdifferenzierung sich erst in Ansätzen abzeichnete und nicht jede gegenstandsbezogene Bemühung zu einer eigenständigen Disziplinarität führte. Genau diesem Problem, die Einheit des Gegenstands durch ein spezifisches konzeptuelles Wissen zu begründen, war auch die Beschäftigung mit deutscher Sprache und Literatur ausgesetzt.

Die für lange Jahre erfolgreichste Lösung des Problems lag darin, auf eine eigenständige Disziplinarität zu verzichten und sich als nationale Spezifizierung der einen Mutter Philologie zu verstehen, sich mithin in den Rahmen der historisch-philologischen Wissenschaft einzugliedern. 38 Dies implizierte dann - zumindest in den wissenschaftlichen Selbstzuschreibungen - die Negation des Nichthistorischen (Ästhetik) und die Ablehnung des Nichtphilologischen (Literaturgeschichte). Zugleich eröffnete die Einordnung in eben die historisch-philologische Wissenschaft den Anschluß an die Universität und damit die Nutzung ihrer Vorteile.

Im Rahmen der historischen Wissenschaft - sei sie etikettiert als Philologie oder als historische Vernunft - schreitet man dann arbeitsteilig, aber stets auf gemeinsamer Grundlage voran. 39 Die Literatur- und Geschichtswissenschaften (im heutigen Verständnis des Wortes) verfügen noch über ein fast identisches Kategoriensystem, das die Rekonstruktion zu steuern weiß und über ein fast identisches Forschungsprogramm, das Zielsetzungen festlegt: Philologische Selbstzuschreibungen sprechen daher in diesem Sinne von der einen Philologie und ihren Kolonien. Fachbezogene, etwa nationalphilologische Arbeiten konnten dann als Spezifikationen - insofern es sich um "Geschichtsforschung" und nicht um "Geschichtsdarstellung" handelte 40 - begriffen werden, deren methodische Voraussetzungen alle auf die gemeinsame Philologie rückbeziehbar waren. Die große Rolle, die Lachmann in der Frühphase der >Germanistik< übernehmen sollte, leitete sich gerade aus seiner rhetorik der gelungenen spezifikation ab: das, was philologische forschung, zumal die zum klassischen altertum, erbracht hatte, wird auf ein neues feld nun professionell übertragen.

Als solche Spezifikation benötigt allerdings das "neue Feld" selbst eine Begründung. Setzt man auf Philologie, so ist es die nationale Bedeutung, die als Unterscheidungsmerkmal argumentativ nun eingesetzt wird; benötigt man Unterteilungen des Projekts historischer Vernunft, so soll es die Poesie sein, die hier als gesonderter Gegenstand dann auszuweisen ist. Man kann also sehen: Die Chance für eine eigenständige Disziplinarität auf philologischer Grundlage liegt für die Beschäftigung mit deutscher Sprache und Poesie nun in einer gegenstandsbezogenen Emphatisierung, sei es in nationaler oder in poetischer Hinsicht. 41

Diese Eingliederung in die Philologie führte dazu, daß die Bearbeitung deutscher Sprache und Literatur, die im Rahmen der universitären Gemeinschaft ganz in der Hand der (deutschen) Philologen lag, auch ihre Leistungsangebote im Kontext der allgemeinen Philologie anzusiedeln hatte. 42 Diese >allgemeine Philologie< (etwas intelligibles) war jedoch weitgehend bestimmt von den klassischen philologen; ihre Leitformel hieß spätestens seit F. A. Wolf - und hierin liegt eine dritte Überbietung der Polyhistorie - nun Bildung. 43


Leitformel Bildung

Die Leitformel "Bildung" eröffnete zum einen ein wissenschaftliches Rekonstruktionsprogramm, das von anthropologischen und geschichtsphilosophischen Annahmen gesteuert wurde und dem es darum ging, das "Gebildete" vornehmlich in der Antike aufzusuchen. Um diese Konstruktionsarbeit vornehmen zu können, benötigte man aber andererseits eine Reihe von Techniken, mit deren Hilfe das (neu-)humanistische Erbe anzueignen war, die also zu >Bildung< führen sollten. 44 Dadurch ergab sich unter anderem die Chance, ein Leistungsangebot für das sich verändernde Erziehungssystem zu machen und damit begründete sich die Karriere der Klassischen Philologie als schulischer Leitdisziplin. 45

Die Komplementärrolle von Wissenschaft und Erziehung ausnutzend konnte diese Klassische Philologie dann bis in die 1880er Jahre hinein vor allem die Schule dominieren; alle anderen Fächer, auch die Beschäftigung mit deutscher Sprache und Literatur, nahmen sich gegen den Anteil der >Klassischen Studien< marginal aus. 46 Und mit ihrem Erfolg als erzieherischer Leitdisziplin vermochte die Philologie zugleich ihr wissenschaftliches Gewicht zu stärken und andere fachliche Ansätze in den Dilettantismus zurückzuverweisen.

Eine Ausrichtung des Schulsystems auf nationale Werte trat damit (noch) hinter die philologischen, im ganzen eher individuumsorientierten Zielsetzungen zurück. Wollte die >Germanistik< als disziplinäre Gemeinschaft also ein Leistungsangebot außerhalb ihrer philologischen Kolonisierung machen - sie wollte es nicht immer - so hatte sie zunächst nicht auf Erziehung, sondern auf wissenschaftliche Popularisierung zu setzen.

Dies ist dann auch der Ort, an dem sich jene Texte finden, die gern als Beispiele für eine Germanistik als "Deutscher Wissenschaft" herangezogen werden: die Literaturgeschichten, größere öffentliche Vorlesungen über national interpretierbare Themen mittelhochdeutscher Dichtung (Nibelungenlied) oder jedoch national gehaltene Vorreden populärer Textausgaben. 47 Aber auch hier überzeugt der >nationale Gehalt< solcher funde nicht durchgängig. Neben den doch selten von mehr als nationalem Pathos getragenen Vorreden und neben den nur spärlich auffindbaren größeren Nationalvorträgen 48 sind es immer wieder die Literaturgeschichten, die als Beleg für die national-ideologische Formierung der >Germanistik< dienen. nun zeigt sich allerdings, daß bereits bei texten der 1840er jahre der nationale impetus ganz zurückgetreten ist zugunsten eines das "Allgemein-Menschliche" (d. i. das schöne als sittliches) betonenden ästhetischen Historismus, der sich zumindest bis in die 1890er Jahre (im Kaiserreich eher noch gesteigert) durchhält. 49

In der breit entstehenden und (kaum zu überschätzenden) Vereinskultur des 19. Jahrhunderts wird dieses Sittliche dann in einer Vielzahl von Ritualen (Feiern, Denkmalsenthüllungen, Vorträgen, Aufmärschen) inszeniert, die alle daran arbeiten, Alltagsleben zu ästhetisieren.


Verschränkung
von Ethik und Ästhetik

Wichtig ist daher nicht, den leeren Begriff des Nationalen immer wieder aufzufinden, sondern es sind jene kulturellen Verkehrsformen zu bestimmen, die die ethisch-ästhetische Formierung gesellschaftlicher Teilsysteme vorangetrieben haben, in einer Analyse, die ganz im Benjaminschen Sinne eine Verbindung zum Faschismus herzustellen vermag. Gerade die Verschränkung von Ethik und Ästhetik diente dem Ziel, sich voneinander abkoppelnde Teilssysteme erneut zu entdifferenzieren und damit im Handlungsspiel eine Gesellschaft zu erproben, die insgesamt als >ein Körper<, also als differenzlos, begriffen werden sollte. erst dann ergab sich die möglichkeit, das nationale in einer unheilvoll neuen weise zu reimportieren.

In der Wissenschaft ist dieser Zeitpunkt seit den 1890er Jahren erreicht; nun nämlich beginnt eine nach und nach erstarkende deutsche Philologie das Leistungsangebot der klassischen Studien zu übernehmen und >einzudeutschen<. auch haben eingriffe aus dem politischen System diesen Prozeß befördert: Vordergründig die Rolle des deutschen Kaisers (Berliner Schulkonferenz), dann die kulturpolitische Instrumentalisierungsmöglichkeit >deutscher Sprache und Literatur< (straßburg, prag ...), manchmal sogar das kuriose Berufen auf die deutschen Klassiker zur Legitimierung von Kolonialpolitik 50, später der Erste Weltkrieg.

Dieser politische Einfluß sekundiert zunächst eine inzwischen stärker vollzogene Wissenschaftsdifferenzierung. Im Gefolge der Neugermanistik hat sich die deutsche von der klassischen Philologie mehr denn je gelöst und versucht nun - im und jenseits des theoretischen Rahmens von Philologie - eigene Ansprüche zu behaupten. Diese Ansprüche gehen in eine doppelte Richtung. Einmal will die Neugermanistik sich als allgemeine Literaturwissenschaft konzeptualisieren und sich damit gegen allzu forsche Praxiseinbindungen verwahren; zum anderen aber soll ein direkter Einfluß auf das Erziehungssystem gewonnen werden, das nun das Deutsche zum "Mittelpunktsfach" erheben will (mit zögerndem Erfolg) und zugleich versucht, über die Hegemonie von Erziehung die sich zunehmend auf die Universität beschränkende disziplinäre Gemeinschaft zu reaktivieren (etwa in der Zeitschrift für den deutschen Unterricht). 51 Diese Tendenz, also die erneute Erweiterung der universitären zur disziplinären Gemeinschaft, hat dann zur Gründung des "Deutschen Germanisten-Verbandes" geführt. 52

Die Haltung, die diese erzieherische Erneuerung durchzusetzen versucht, läßt es nun allerdings ebenso wenig mehr zu, über das Bildungskonzept Universität und Schule komplementär miteinander zu verbinden wie die sich von >Schule< zunehmend loslösende verwissenschaftlichung. indem die neue konzeption von >Deutsch als Mittelpunktsfach< wissenschaft einseitig auf erziehung festzulegen sucht, verdoppelt sie sich gleichzeitig im system >Wissenschaft< und begünstigt eine entdifferenzierung, die sich sowohl von den avancierten positionen des fachs entfernt als auch ein neues sozialverhalten in das zentrum ihrer bemühungen stellt. während nämlich eine sich nicht mehr national ausrichtende wissenschaft seit dem beginn des 20. jahrhunderts auch an theoretischen entwürfen für "Literatur-Wissenschaft" arbeitet, konzentriert sich die schule - so jedenfalls in den programmatiken der panzers, lyons u. a. - auf kollektive einschwörung. den deutschunterricht soll eine neue, chorische mündlichkeit prägen, für die das >Wie< des sprechens schon ungleich wichtiger ist als das >Was<. Die Beziehung zum Faschismus liegt auf der Hand.53

Eine kritische Aufarbeitung der Fachgeschichte hat also neben den politischen Rahmenbedingungen Tendenzen in allen drei Systemen zu berücksichtigen: Den autoritären Charakter des Philologen als Ethiker am Text, später die abstrusen Versuche hegemonialer Kategorienbildung (Stamm, Rasse ...), die disziplinäre Belieferung anderer gesellschaftlicher Teilsysteme zur Ästhetisierung des Alltagslebens und das kollektiv-erzieherische Dispositiv, auf das auch die Wissenschaft rückverpflichtet werden soll. Der saubere Geist, Leni Riefenstahl und Rembrandt als Erzieher.


Prof. Dr. Jürgen Fohrmann
Germanistisches Seminar
der Universität Bonn
Am Hof 1d
D - 53113 Bonn

Ins Netz gestellt am 20.03.2000.

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Erstpublikation: IASL Bd.16 (1991), H.1, S.110-125. Die Online-Version wurde vom Autor eingerichtet und von der Redaktion bearbeitet. Neu eingefügt wurden Zwischenüberschriften.


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Fußnoten

1 Vgl. dazu die Bibliographie der Selbstreflexionstexte von Holger Dainat und Cornelia Fiedeldey (Msk. Bielefeld 1990).  zurück

2 Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Die deutsche Philologie im Grundriß. Ein Leitfaden zu Vorlesungen. Breslau 1836.  zurück

3 Vgl. Wilhelm Scherer: Jacob Grimm. 2. Aufl., Berlin 1885.  zurück

4 Vgl. etwa Friedrich Neumann: Studien zur Geschichte der deutschen Philologie. Aus der Sicht eines alten Germanisten. Berlin 1971.  zurück

5 Schon seit der bemerkenswerten Publikation von Jörg Jochen Müller (Hg.): Germanistik und deutsche Nation, 1806-1848. Zur Konstitution bürgerlichen Bewußtseins. Stuttgart 1974 (Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften, 2).  zurück

6 Vgl. Bernd Peschken: Versuch einer germanistischen Ideologiekritik. Goethe, Lessing, Novalis, Tieck, Hölderlin, Heine in Wilhelm Diltheys und Julian Schmidts Vorstellungen. Stuttgart 1972.  zurück

7 Siehe dazu jetzt auch den instruktiven Beitrag von Karl Otto Conrady: Völkisch-nationale Germanistik in Köln. Eine unfestliche Erinnerung. Schernfeld 1990.  zurück

8 Josef Nadler: Kleines Nachspiel. Wien 1954  zurück

9 Franz Greß: Germanistik und Politik. Kritische Beiträge zur Geschichte einer nationalen Wissenschaft. Bad Cannstatt 1971, S. 3.  zurück

10 Vgl. Hinrich C. Seeba: Zeitgeist und deutscher Geist. Zur Nationalisierung der Epochentendenz um 1800. In: Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp (Hg.): Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft (DVjs-Sonderheft, 1987). Stuttgart 1987, S. 188*-215*.  zurück

11 Vgl. zur >disziplinären Gemeinschaft< den beitrag von holger dainat und rainer kolk: "Geselliges Arbeiten". bedingungen und strukturen der kommunikation in den anfängen der deutschen philologie. in: ebd., s. 7*-41*.  zurück

12 Vgl. dazu Rudolf Stichweh: Die Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740-1890. Frankfurt a. M. 1984.  zurück

13 Vgl. dazu meine Studie: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich. Stuttgart 1989.  zurück

14 Vgl. dazu Rudolf Stichweh: Bildung, Individualität und die kulturelle Legitimation von Spezialisierungen. In: Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft. München 1991, S. 99-112.  zurück

15 Zum Begriff >historisches Projekt< siehe meine studie: das projekt der deutschen literaturgeschichte (anm. 13).  zurück

16 Zur Umstellung auf Sinnverhältnisse siehe insgesamt Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989.  zurück

17 Die >universitäre Gemeinschaft< verändert also nicht die differenzierungsform von wissenschaft.  zurück

18 Zu dieser Ethik siehe Rainer Kolk: Wahrheit-Methode-Charakter. Zur wissenschaftlichen Ethik der Germanistik im 19. Jahrhundert. In: IASL 14.1 (1989), S. 50-73.  zurück

19 Zur Gruppenbildung siehe jetzt ebenfalls Rainer Kolk: Berlin oder Leipzig? Eine Studie zur sozialen Organisation der Germanistik im "Nibelungenstreit". Tübingen 1990 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 30).  zurück

20 Vgl. zur Lage des Faches am Ende des 18. Jahrhunderts Ulrich Hunger: Altdeutsche Studien als Sammeltätigkeit. In: Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaft und Nation (Anm. 14), S. 89-98.  zurück

21 Friedrich Bouterwek: Geschichte der Poesie und Beredsamkeit, seit dem Ende des 13. Jahrhunderts. 12 Bde., Göttingen 1801-1819.  zurück

22 Sprachgebrauch nach Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1973.  zurück

23 Zu Lachmanns immanentem Klassizismus siehe Magdalene Lutz-Hensel: Prinzipien der ersten textkritischen Editionen mittelhochdeutscher Dichtung. Brüder Grimm - Benecke-Lachmann. Eine methodenkritische Analyse. Berlin 1975.  zurück

24 Vgl. dazu jetzt Jan-Dirk Müller: Moritz Haupt und die Anfänge der "Zeitschrift für deutsches Altertum". In: Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaft und Nation (Anm. 14), S. 141-164.  zurück

25 Ausführlicher dazu meinen Beitrag: Literaturgeschichtsschreibung als Darstellung von Zusammenhang. In: Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp (Hg.): Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft (Anm. 10), S. 174*-187*.  zurück

26 Vgl. ebd.  zurück

27 Vgl. dazu insbesondere Georg Gottfried Gervinus: Grundzüge der Historik. In: Georg Gottfried Gervinus: Schriften zur Literatur. Hg. Von Gotthard Erler. Berlin 1962, S. 49-103.  zurück

28 Es handelt sich also im strengen Sinne nicht um eine Methodologie.  zurück

29 Vgl. Anm. 18.  zurück

30 Vgl. Nikolaus Wegmann: Philologische Selbstreflexion. Die Frage nach der disziplinären Einheit. In: Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaft und Nation (Anm. 14) S. 113-125.  zurück

31 Vgl. Ulrich Wyss: Die wilde Philologie. Jacob Grimm und der Historismus. München 1979.  zurück

32 Vgl. dazu Hans-Martin Kruckis: "Ein potenziertes Abbild der Menschheit". Idolatrie und Wissenschaft in der Goethe-Biographik bis Gundolf. Diss. Bielefeld 1989.  zurück

33 Zur >Interpretation< siehe klaus weimar: interpretationsweisen bis 1850. in: jürgen fohrmann und wilhelm voßkamp (hg.): von der gelehrten zur disziplinären gemeinschaft (anm. 10), s. 152*-173*.  zurück

34 Vgl. Ulrich Wyss: Wilde Philologie (Anm. 31).  zurück

35 Natürlich läßt sich zeigen, daß in der mikrologisch-philologischen Arbeit über alle Gruppendifferenzen hinweg identische, den Diskurs organisierende Kategorien - etwa Gattung, Epoche, Autor oder ähnliches - verwendet wurden. Umfassendere Untersuchungen zu ihrer disziplinen-stabilisierenden Funktion stehen bislang noch aus.  zurück

36 Siehe dazu meine Studie: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte (Anm. 13), S. 226ff.  zurück

37 Vgl. Hugo Meltzl von Lomnitz: Vorläufige Aufgaben der vergleichenden Literatur. In: Acta comparationis litterarum universarum 1 (1877), Sp. 179-182; hier Sp. 181.  zurück

38 Vgl. Detlev Kopp und Nikolaus Wegmann: "Die deutsche Philologie, die Schule und die Klassische Philologie". Zur Karriere einer Wissenschaft um 1800. In: Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp (Hg.): Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft (Anm. 10). S. 123*-151*.  zurück

39 Die schwankenden Fachelemente-Zuschreibungen und -Denominationen, etwa auf den "Versammlungen deutscher Philologen und Schulmänner", sind ein Beispiel dafür.  zurück

40 Vgl. dazu meine Studie: Literaturgeschichtsschreibung als Darstellung von Zusammenhang (Anm. 25).  zurück

41 Der Streit um eine nachhegelsche Ästhetik gehört in diesen Zusammenhang.  zurück

42 Vgl. dazu Detlev Kopp und Nikolaus Wegmann: "Die deutsche Philologie" (Anm. 38).  zurück

43 Vgl. ebd.  zurück

44 Vgl. ebd.  zurück

45 Vgl. dazu auch Johannes Janota: Einleitung zu: Eine Wissenschaft etabliert sich. 1810-1870. Hg. von Johannes Janota. München und Tübingen 1980.  zurück

46 Selbst in den Deutschstunden wurden häufig Autoren der Antike behandelt; die Prüfungskommissionen für das Fach >Deutsch< waren in der regel >fachfremd< zusammengesetzt. vgl. uwe meves: "Wir armen Germanisten". das fach >deutsche Sprache und Literatur< auf dem weg zur brotwissenschaft. in: jürgen fohrmann und wilhelm voßkamp (hg.): wissenschaft und nation (anm. 14), s. 165-193.  zurück

47 Vgl. zuletzt Hinrich C. Seeba: Nationalbücher. Zur Kanonisierung nationaler Bildungsmuster in der frühen Germanistik: In: Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaft und Nation (Anm. 14), S. 57-71.  zurück

48 Vgl. dazu auch Rüdiger Krohn: Die Wirklichkeit der Legende. Widersprüchliches zur sogenannten Mittelalter-"Begeisterung" der Romantik. In: Mittelalter-Rezeption II. Hg. von Jürgen Kühnel u. a. Göppingen 1982 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 358), S. 1-29.  zurück

49 Vgl. dazu: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte (Anm. 13), S. 171ff.  zurück

50 Vgl. Max Koch: Nationalität und Nationalliteratur. Ein Vortrag für den Allgemeinen Deutschen Verband. Berlin 1891, S. 19.  zurück

51 Vgl. Synes Ernst: Deutschunterricht und Ideologie. Kritische Untersuchung der "Zeitschrift für den deutschen Unterricht" als Beitrag zur Geschichte des Deutschunterrichts im Kaiserreich (1887-1911). Bern und Frankfurt a. M. 1977.  zurück

52 Vgl. Klaus Röther: Die Germanistenverbände und ihre Tagungen. Ein Beitrag zur germanistischen Organisations- und Wissenschaftsgeschichte. Köln 1980.  zurück

53 Vgl. Norbert Hopster und Ulrich Nassen: Literatur und Erziehung im Nationalsozialismus. Deutschunterricht als Körperkultur. Paderborn 1983.  zurück



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