Jürgen FohrmannOrganisation, Wissen, LeistungKonzeptionelle Überlegungen zu einer Wissenschaftsgeschichte der Germanistik
Seit dem Beginn >germanistischer Wissenschaft< hat sich das fach nicht nur in aktueller, sondern ebenfalls in historischer perspektive immer auch beobachtet. Über die reine selbst-referenz hinaus - als teilnehmer eines fachs muß man sich ja notwendigerweise auf das fach beziehen - hat daher Wissenschaftsgeschichte stets zum Repertoire der sogenannten "Studien über deutsche Sprache und Literatur" gehört. 1 Allerdings war die Funktion solcher Beschäftigung durchaus unterschiedlich. Vier Varianten lassen sich zunächst voneinander abgrenzen. Solange man sich etwa in einem nicht abreißenden Kontinuum der Wissenschaft dachte, in dem nach grundlegender methodischer Fundierung das Wissen in quantitativer Hinsicht zunahm, hatten die Heroen der eigenen Tradition Vorbildfunktion, und Fachgeschichte betreiben hieß, sich an ihrem Leitbild zu orientieren. Auf den Schultern der Riesen stehend bauten die zeitgenössischen Zwerge das einmal Erreichte aus, ohne allerdings am etablierten methodologischen Fundament zu rütteln. Wissenschaftsgeschichte, etwa seit Hoffmann von Fallersleben und seit einer Vielzahl von Rezensionen und dann Nekrologen, ersetzte hier eine Wissenschaftstheorie. 2 Dies ändert sich dann, wenn man, obwohl noch aus dieser Tradition kommend, sich von dieser Tradition zugleich abzusetzen sucht. Scherers Jacob Grimm-Buch (1885) etwa verdeutlicht diesen Zusammenhang. 3 Die hier vorgenommene Abkehr von Vergangenheit indiziert dann trotz aller Verbeugungsgesten vor dem Alten eine Verschiebung im methodologischen Konzept, die schließlich in eine neue Theorie des Faches mündete und zum Aufbau einer zweiten Traditionsreihe führte. Dabei handelt es sich um ein ganz übliches Verfahren: durch Diskontinuierung sollte der Raum für neue Geltungsannahmen frei werden, die dann ihrerseits ihre eigene Geschichte mitbrachten. Auch wenn sich eine dritte Variante ganz in die >große Vergangenheit der Philologie< wieder einschreiben möchte, so handelt es sich bei ihr aber nicht einfach um eine fortsetzung des 19. jahrhunderts, sondern um eine im kern politisch motivierte apologie der tradition. diese dritte form von wissenschaftsgeschichte ist nach 1945 in deutschland aufgetreten; sie gab sich häufig als eine art >Altersrevue<, in der am ende einer wissenschaftlichen laufbahn - zeit historistisch einebnend - auf ein Leben im Sinne Goethescher "Tätigkeit" zurückgeblickt wird und zwar in weitgehender Ausblendung der deutschen Unheilsgeschichte zwischen 1933 bis 1945. 4 Insbesondere gegen diese letzte Spielart von Wissenschaftsgeschichtsschreibung wandte sich schließlich jene Kritik der Vergangenheit (als Kritik des Fachs und als Kritik der Literatur), die die Ideologiehaftigkeit gerade auch des Verschweigens nationalsozialistischer Zeit systematisch aufzugreifen versuchte. Wie auch schon Scherer sortierte sie zwei, nun aber extern bestimmte Traditionen und markierte so für die Ausarbeitung der deutschen Germanistik jenen Punkt, mit dem eine politisch sich naiv gebende Anverwandlung der eigenen Fachgeschichte, die die Errungenschaften der einen, großen Forschungsvergangenheit beschwor, unmöglich wurde. 5 Die "germanistische Ideologiekritik" - so der Untertitel des Buches von Bernd Peschken 6 - wies auf die nationale, antidemokratische und auf vielfache Weise mit dem Faschismus verknüpfte Tradition deutscher Sprach- und Literaturwissenschaft, die sich bis dahin anschickte, den "Sündenfall der Germanistik" 7 diskret zu übergehen und in Kleinen Nachspielen - so der Titel von Josef Nadlers Autobiographie 8 - sich ganz auf die Werte der Philologie oder auf wissenschaftsinterne Klatschereien rückzubesinnen. Die Verfahrensweise der Ideologiekritik nun bestand darin, die Arbeiten scheinbar exponierter Fachvertreter auf bestimmte Ideologeme hin zu sichten, diese Ideologeme in einen Zusammenhang zu bringen (Geschichtskonstruktion o.ä.) und die gewonnenen Konstruktionen sowohl auf einen politischen, kulturellen oder ökonomischen Kontext zu beziehen als auch ihre Funktion für diesen Kontext anzugeben. Dabei wurden die Ideologeme selbst immer dann der Kritik unterzogen, wenn sich feststellen ließ, daß sie in der Moderne vormoderne Vorstellungen zur reaktivieren suchten. "Die exemplarische Analyse der Arbeiten der Germanisten W. Scherer, A. Sauer, J. Nadler", so Franz Greß resümierend, "kommt zu dem Ergebnis, daß Germanistik und Deutschunterricht den Prozeß der technisch-organisatorischen Modernisierung der Gesellschaft nicht verarbeiteten [...]. Statt dessen ideologisieren sie ihre Gegenstände und Methoden und bilden zunehmend die Grundlage eines kulturpessimistischen und systemoppositionellen Engagements der sie tragenden Gruppen." 9 Im Rahmen dieser ideologiekritischen Betrachtungsweise konnte die Fachgeschichte dann als Kampffeld zwischen vornehmlich einer (national-)demokratischen und einer reaktionär-religiös-nationalistischen Tradition aufgearbeitet werden. Auf solche Weise war die Geschichte der Germanistik aufs engste mit der politisch-sozialen Entwicklung verknüpft, und es wurde zum ersten Mal möglich, fachgeschichtliche Phänomene im Kontext gesellschaftlicher Interessen zu begreifen. Dies ist das wohl wichtigste und unverzichtbare Ergebnis der ideologiekritischen Betrachtungsweise. Ohne hier auf die Versuche eingehen zu wollen, einen solchen Ideologiebegriff im Zusammenhang einer materialistischen Theorie zu begründen (Althusser und andere) und damit in seinen funktionsgeschichtlichen Ansprüchen zu präzisieren, möchte ich nur knapp einige Probleme herausstellen, die mit der Bevorzugung des ideologiekritischen Verfahrens zusammenhingen:
Nach allem erscheint es mir heute ratsam, die ideologiekritische Verfahrensweise durch ein breiter angelegtes Modell, das eine höhere Integrierbarkeit von Teilresultaten erwarten läßt, zu ersetzen. Dieses Modell, das im folgenden in seinen Umrissen vorgestellt werden soll, geht aus von der Dreiteilung in
Es hat sich dabei als brauchbar erwiesen, den Begriff >Organisation< in drei >Organisationsformen< zu differenzieren, die als
Gelehrte GemeinschaftDie gelehrte Gemeinschaft erscheint als die Organisationsform alteuropäischer Gelehrsamkeit. Der in ihr tätige Literator unterscheidet noch nicht oder nur in Ansätzen nach Fächern, sondern versucht im Rahmen klassifikatorischer Ordnungen das ganze Feld des Wissens darzustellen. Das Wissen selbst ist zumindest bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts noch weitgehend eingeteilt in aggregierende und systematische Fächer (auch abgebildet in der Gliederung der Universität). 12 Die "historia" bietet dann das noch ungeordnete Material, das von den systematischen Wissenschaften (Philosophie, Theologie usw.) erst in ein (dogmatisches) System gebracht werden muß. Die Forschungen zu >Einzelgegenständen<, etwa zur deutschen sprache und literatur, erfolgen vor 1750 daher noch nicht im rahmen fachspezifischer ausdifferenzierung, und kontinuität bleibt weitgehend von persönlichen vorlieben abhängig. einzelwissen-schaftliche untersuchungen waren damit nicht wichtigstes ziel der gelehrten gemeinschaft, deren funktion - neben pragmatischer verwertung - eher darin bestand, das Wissen dem Gedächtnis (memoria) bereitzustellen und dieses Wissen zugleich als wissenswert auszuweisen (dies gilt gerade für die deutsche Sprache und Literatur). 13 Disziplinäre GemeinschaftWill man es systemtheoretisch formulieren, so beruht die Ersetzung der gelehrten durch die disziplinäre Gemeinschaft auf einer Veränderung der System-Umwelt-Differenz. Einmal differenziert sich der Gelehrtenstand mit der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft und zum anderen gliedert sich das Wissen selbst in disziplinäre Sortierungen, die aufeinander unabbildbar bleiben, auch wenn Individualitätskonzepte wieder eine Reintegration versuchen. 14 Galt nämlich der gelehrten Gemeinschaft allein das Nichtwissen als Umwelt und alles Wissen als zum System gehörend, so bleibt für die disziplinäre Gemeinschaft nur noch das fachspezifische Wissen integrierbar, und die Nachbarfächer erhalten nun Umweltstatus. Die System-Umwelt-Differenz verlagert sich damit von der grundsätzlichen Trennung zwischen Wissen und Barbarei (das ist Nichtwissen) zu fachspezifischen Differenzen innerhalb des Wissenschaftssystems. Dieser Prozeß setzt sich - trotz wiederholter Aufhebungsbemühungen - in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend durch. Sein wichtigstes Ergebnis ist vielleicht, daß die Einzelwissenschaften nun der Notwendigkeit ausgesetzt sind, ihre spezifische Disziplinarität (kontrastiv) zu begründen. Disziplinäre Gemeinschaften reklamieren jetzt für sich nicht mehr allein, das Erinnernswerte zu sammeln, sondern verstehen sich als Wissenschaft in noch näher zu bezeichnendem Sinne. Die Beschäftigung mit deutscher Sprache und Literatur soll nun als arbeitsteilige Erstellung von Wissen im Rahmen eines sich in Disziplinen auffächernden historischen Projekts begriffen werden. Dieses historische Projekt, mithin die gemeinsame, Differenzierung rückbindende Ausrichtung der historischen Wissenschaften, zielt auf die Rekonstruktion von Sinnverhältnissen in und aus der einen, umfassenden Geschichte. 15 Disziplinäre Gemeinschaften des neuen Typs stellen also im Rahmen eines solchen historischen Projekts auf Sinn um. 16 Ihre Ablehnung gilt jetzt dem aus der Gelehrsamkeit überkommenen Wissenschaftlertypus, dem Literator, dem pure Stoffhäufung jenseits von Sinnfälligkeiten stets vorgeworfen wird. Als Dilettant soll er aus der disziplinären Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Auch wenn er in Transformationen dann doch zu überleben vermag (Bibliothekar, Bibliograph) und schließlich in der Zuweisung als Historiograph der "äußeren Geschichte" seinen Ort findet. Solche Lokalisierung überrascht nicht, ist doch die disziplinäre Gemeinschaft noch ein Verbund so unterschiedlicher Rollen wie Philologe, Literarhistoriker, Literator, Bibliothekar, Ästhetiker oder Lehrer. Jede dieser Rollen versucht die disziplinäre Gemeinschaft zu dominieren, wobei allerdings ausgreifender Erfolg nur den Philologen und Literarhistorikern beschieden ist (auf je anderen Ebenen). Institutionellen (im engeren Sinne des Wortes) Erfolg hatten allerdings bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts ausschließlich die Philologen. Ihre Bedeutung im Organisationsgefüge von Wissenschaft verengte und transformierte die disziplinäre dann in die universitäre Gemeinschaft. Dabei bleibt die grundsätzliche Fächersortierung des Gesamtsystems >Wissenschaft< allerdings unangetastet; 17 verändert hat sich nur der Grad der Institutionalisierung, der mit dem Übergang zur >universitären Gemeinschaft< sich vollzog. Universitäre GemeinschaftUniversitäre Gemeinschaft meint: Neben der Ausrichtung auf Sinnverhältnisse wird die Organisation von Wissenschaft professionalisiert. Die Wissenschaft von deutscher Sprache und Literatur wird in zwei Schüben (variativ, Alt- und Neugermanistik) ausgebaut (wobei Randbezirke wechseln), Qualifikation und Nachwuchsrekrutierung werden geregelt, das Kommunikationsnetz stabilisiert (erste Fachzeitschriften), ein Verhaltenskodex eingeführt und der einzelne Forscher auf eine Berufsethik festgelegt. 18 Die für eine Wissenschaft notwendige Binnendifferenzierung erfolgt über eine in der Frontstellung klare und zugleich intern stets diffuse Gruppenbildung (Lachmannianer - Grimm; Lachmannianer - Bartsch / Pfeifer / Holtzmann / Zarncke usw.). 19 Diese Zuspitzung, mithin die Ausgliederung der Ästhetik (Hegelianer), vornehmlich aber der Literarhistoriker aus der universitären Gemeinschaft, ist das Ergebnis philologischer Hegemonie - einer Herrschaft, die auf mehreren Ebenen erklärungsbedürftig ist. Eine solche Erklärung erfordert zunächst den Rückgriff auf die zweite Arrangementkategorie, das Wissen. Dabei sollen auch hier - analog aber nicht in einsträngiger Abhängigkeit zu den drei Organisationsformen - drei Formen von Wissen unterschieden werden:
GegenstandswissenSo läßt sich nämlich behaupten, daß etwa die aus der gelehrten Gemeinschaft allmählich sich derivierenden Forschungen zur deutschen Sprache und Literatur am Ende des 18. Jahrhunderts allein Gegenstandswissen repräsentieren, 20 oder genauer: daß sie zwar ihre ans Licht geförderten Dokumente erneut in übergreifenden Taxonomien zu verorten wußten, sie aber nicht jenseits des lang etablierten Ordnungsschemas der >historia literaria< einzugliedern verstanden. Dies gilt noch für Bouterweks berühmte Geschichte der Poesie und Beredsamtkeit (1801-1819), die bezeichnenderweise als Teil der Eichhornschen Monumental-Litterärgeschichte in Göttingen erscheint. 21 Die Philologie, der die Erbnehmerschaft der Litterärgeschichte gern angetragen wird, versucht nun gleichwohl eine mehrfache Überbietung des gelehrten Sammelns und klassifikatorisch-chronologischen Ordnens. Um dies leisten zu können, reklamiert sie für sich über die Kenntnis der Gegenstände hinaus (d. i. Wissenschaft im alten Verständnis, im Sinne von >Kenntnisse haben<) ein neues, objektbezogenes, konzeptuelles Wissen. Konzeptuelles WissenZum einen zielt dieses Wissen auf die Überführung von Dokumenten in Monumente: 22 erst das an der Klassischen Philologie erprobte Verfahren der Edition, auf die deutsche Literatur übertragen vor allem von Lachmann, ermögliche, die eigentliche Gestalt der Texte zu rekonstruieren und Sinnbezüge auf authentischer Grundlage herzustellen. Voraussetzung solcher Arbeit ist dabei die Existenz einer deutschen diachronen Grammatik, die erst eine wissenschaftliche Bearbeitung der Dokumente im philologischen Sinne möglich macht. Sie liegt seit Jacob Grimms Deutscher Grammatik (1819) vor und erlaubt nun, die literarische Überlieferung auf jeweilige Standards hin (gleichsam klassizistisch) zu homogenisieren. 23 Dabei ist die deutsche Philologie nicht an einer umfassenden Sinnauslegung der so erstellten Monumente interessiert, sondern setzt darauf, daß der Geist, ist er in seiner wahren Gestalt erst einmal freigelegt, durch die Denkmäler wie von selber spricht. Die sich dann in den Zeitschriften, etwa in der Zeitschrift für deutsches Altertum oder in Pfeiffers Germania, polarisierende Diskussion läßt trotz der unterschiedlichen Einschätzung, wie umfangreich altgermanistische Texte für die Öffentlichkeit aufzubereiten sind, diese grundsätzliche philologische Einstellung unverändert. 24 Ziel der philologischen Arbeit bleibt es, zur Kenntnis, nicht zur Auslegung des Textes beizutragen. Zugleich ergäbe dann diese Kenntnis - dies ist der zweite philologische Überbietungsversuch - ein Mosaik, in dem das Ganze der deutschen Literatur sich wie ein weites Panorama entfalte, ohne wieder in dürre >litterärhistorische< Klassifikationen zu münden. Daß dieses Ganze nur in intelligibler Hinsicht existierte, da seine Erstellung immer wieder futurisiert und für den einzelnen Forscher auch gar nicht für möglich erachtet wurde, war der deutschen Philologie dabei durchaus bewußt. 25 Die Kritik, die das literarhistorische Konzept an der Philologie dann vorzutragen versuchte, setzte an diesem Mosaik-Modell, das in literarhistorischer Ausleuchtung schnell zu einem Miszellen-Modell wurde, an. 26 Gervinus und andere warfen den Philologen vor, doch nur jene Literatoren zu sein, die oft überflüssiges Material sinnentleert zu akkumulieren versuchen. Dagegengestellt wurde von literarhistorischer Seite die Idee der "inneren Geschichte der Literatur", in deren Rekonstruktion sich zugleich das Tiefland der nationalen Ideen erschließen würde und aus deren Kenntnis die Nation sich zum Selbstbewußtsein erheben könnte. 27 Der Philologie hingegen erschien dieses literarhistorische Verfahren, >durch Anordnung zu wirken<, als unlautere, da zu viele kenntnislücken überspielende kombinatorik, die da vorschnell ernten wolle, wo doch die wahren kenner der deutschen sprache und literatur erst zu säen begonnen hätten. literarhistoriker und dilletant zu sein: diese beiden prädikate seien als synonym zu begreifen. Mit dieser konzeptionell ausgerichteten Rhetorik versuchten die Philologen (mit Erfolg) die Literarhistoriker aus der Universität zu verdrängen und sie auch in der disziplinären Gemeinschaft weitgehend als vorschnelle Köpfe zu stigmatisieren. In universitären Zusammenhängen herrschte dann auf lange Zeit die philologische Theorie des "sauberen Arbeitens" vor, die den textkritischen Zugang, die Vorstellung des Mosaiks und die Annahme der Geist-Teilhabe des einzelnen Forschers im Rahmen einer Ethik miteinander zu verbinden suchte. 28 Denn es läßt sich zeigen - Rainer Kolk hat dies im einzelnen vorgeführt 29 - daß die vielgerühmte philologische Methodologie vornehmlich auf einem Verhaltenskodex sich gründet, der die sogenannte "gestrenge Kritik" weitgehend von persönlichen Charakterdispositionen abhängig macht. Aus diesem Grund - und in diesem Kontext erhält die frühe Wissenschaftsgeschichte dann ihre oben bezeichnete Funktion - wird statt einer ausgearbeiteten Methodologie - jenseits allgemein-philologischer Enzyklopädien 30 - stets das Einschwören auf wissenschaftsbegründende Überväter, allen voran Karl Lachmann, favorisiert. Der Verweis auf Lachmanns Leistungen (und nicht Grimms, dessen Phantasie doch zu weitschweifig erschien 31) und das von ihm vertretene Ethos ersetzt (als Wissenschaftsgeschichte) mithin eine fachbezogene Wissenschaftslehre. Es ist diese Ethik, die die Verkehrsformen, Qualifikation und Nachwuchsrekrutierung der universitären Gemeinschaft (die zugleich die disziplinäre Gemeinschaft ganz in sich aufgehen lassen will) regeln soll. Die Verbindung von Gegenstands- und konzeptuellem Wissen als Ethik sollte damit das >reine< gegenstandswissen der gelehrten gemeinschaft ablösen und alle forscher als dilettanten ausweisen, die nur im polyhistorischen sammeln oder in vorschnellen synthesen sich zu gefallen suchten. Diese auf das Einzelsubjekt wie auf das gesamte Fach bezogene Ethik begründetete zugleich eine Reihe von folgenreichen Vorentscheidungen. Zum einen steuerte sie die Festlegung von Arbeitsfeldern, etwa die Hinwendung zu altgermanistischen Gegenständen (oft technisches Interesse) einer- und die Paradigmatisierung der Weimarer Klassik in der verspätet entstehenden Neugermanistik andererseits. Zweitens - und noch wichtiger - führte diese Ethik zu einer Bevorzugung von Textsorten: der mehr oder minder kommentierenden Edition, der biographischen Miszelle oder später der ausführlicheren Autorenbiographie, die Leben und Werke in Abhängigkeit zu setzen versuchte. 32 Bewußt ausgeblendet wurden etwa die umfassende Literaturgeschichte und die Interpretation. 33 Diese Favorisierung bestimmter wissenschaftlicher Genera führte dazu, daß die deutsche Philologie jenseits des manchmal in Vorworten auftauchenden nationalen Pathos nicht gezwungen war, ihre Gegenstände stringent zu kontextualisieren, etwa im Hinblick auf eine durchgängige Idee politischer Freiheit, wie sie bei Gervinus zu finden sein soll. Die Philologie setzte dagegen eine Vielzahl nicht direkt verknüpfbarer Bezüge, meist mit biographischen oder sprachgeschichtlichen Referenzen, die sich aber kaum zu übergreifenden Thesen zusammenfassen ließen. Es ist daher (anders als bei der Literaturgeschichte) mindestens bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts schwer, die von der Philologie dominierte universitäre Gemeinschaft aus einer überkommen ideologiegeschichtlichen Perspektive zu betrachten, verstand sie es doch, alle sinngebend nationalen Projekte aus ihrem Verband zu verdrängen. Dies gilt nicht nur für die Literaturgechichte, sondern auch für das von Jacob Grimm gedachte Programm der Aufarbeitung einer reineren nationalen Vorzeit, die mittels Verfahren gewonnen werden sollte, die jenseits des "sauberen Arbeitens" der Philologie anzusiedeln sind. 34 Nicht aber in einer konzeptuellen Diskussion versuchte etwa die Philologie Lachmannscher Provenienz ihre Machtstellung auszubauen, sondern über den Einsatz der dritten Form von Wissen, dem sozialen Wissen. Soziales WissenSoziales Wissen nämlich wird insbesondere notwendig im Übergang von der disziplinären zur und in der universitären Gemeinschaft. Die (wenn auch zunächst stagnierende) Besetzung von Lehrstühlen mit eigenen Kandidaten, die Steuerung des Rezensionswesens, der Aufbau eines Verweiskartells, die planmäßige Rekrutierung und Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses usw.: alle diese sozialen Funktionen wollten die Lachmannianer, aber nicht Jacob und Wilhelm Grimm übernehmen, denen Lehre und Schulenbildung eher eine unerfreuliche Nebenbeschäftigung waren, die von der eigentlichen Forschung abhielt. Es wird hier deutlich, daß wirklichen organisatorischen Erfolg nur eine Ausrichtung hatte, die in gleicher Weise auf Gegenstandskenntnis, konzeptuelle Rhetorik und soziales Wissen setzte. Erst diese Trinität erlaubte gruppenspezifische Ausdifferenzierung jenseits aller, die disziplinäre Gemeinschaft verbindenden Kategorienoptionen. 35 Und die Verbindung von Gegenstandsaufwertung, konzeptuellem und sozialem Wissen ermöglicht dann auch die universitäre Durchsetzung der Neugermanistik, die im Umkreis von Michael Bernays, Wilhelm Scherer und Erich Schmidt stattfindet. Die Neugermanistik variiert nur das schon bestehende Berufsprogramm durch die Ausweitung und dann doch wieder Zentrierung (Klassik) des wissenschaftlichen Gegenstandsbereichs und ermöglicht, so die These Rainer Kolks, die Unentscheidbarkeiten der Altgermanistik (Nibelungenstreit) zu verschieben. Die Neugermanistik rettet also noch einmal das philologische Verfahren vor drohender Sterilität, indem sie es auf neue Gegenstandsbereiche überträgt. Eine andersartige Situation ergibt sich erst zu jenem Zeitpunkt, an dem konzeptuelles und Gegenstandswissen nicht mehr allein in Form einer Ethik verbunden werden konnten. Diese Situation deutete sich im Grunde schon in Scherers Poetik (1888), dann aber vornehmlich seit der Fachentwicklung der 90er Jahre an. Kategorien |