Tipp der Woche

Sprachkrisen sind nichts Neues für den, der sich mit Literatur auskennt:

    "Es gelang mir nicht mehr, sie [die Dinge, D.K.] mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen.
    Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt."
    (Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. In: Sämtliche Werke, Frankfurt am Main 1975, Bd. 31, S. 49.)

Soweit Lord Chandos über die Risiken des produktiven Umgangs mit Sprache.
Noch Peter Handke erklärte vor wenigen Wochen im Gespräch mit Thomas Steinfeld, er

Jetzt aber droht Sprachverlust aus der entgegengesetzten Ecke. Seit der so genannten Pisa-Studie weiß man: Die Lesekompetenz der Deutschen ist vom Aussterben bedroht. Es kommt also im rechten Augenblick, dass die Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld mit dem Forschungsprojekt LIDWIG Licht ins Dunkel der statthabenden passiven Sprachkrise zu bringen versucht.

Unter drei wesentlichen Gesichtspunkten nähern sich Johannes Rose und Henrik Bollermann unter der Leitung von Prof. Bernd Switalla der Kulturtechnik Nummer Eins:

  1. aus der historischen Perspektive: Was war Lesen?
  2. aus der aktuellen Perspektive: Was ist Lesen?
  3. und aus der Zukunftsperspektive: Was kann Lesen sein?.

LIDWIG ist Teil des Forschungsbereichs "Sprachliche, literarische und ästhetische Sozialisation unter den Bedingungen digitalisierter Informations-, Kommunikations- und Wissenstechnologien".

Mittels einer Bibliographie, eines Schemas, das die Änderungen der Textproduktion und -rezeption im Laufe der Geschichte zeigt, und einiger Grafiken versucht man, dem Interessierten die Terra Incognita zu erschließen.
Dem gleichen Zweck dient ein Auszug aus Alberto Manguels "Eine Geschichte des Lesens" (Berlin 1998). In den kulturgeschichtlichen Aspekt des Lesens führt Bernd Switalla in seinem Essay Medien der (literalen) Sozialisation ein. Switalla bezieht sich hierbei auf Roger Chartiers und Guglielmo Cavallos "Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm" (Frankfurt am Main/New York 1999) und stellt einen erheblichen Wandel der Schriftkultur fest.
In einer weiteren grafischen Darstellung wird Der Prozeß des Lesens als Text-Leser-Interaktion unter textwissenschaftlichen, interpretationstheoretischen, kognitionswissenschaftlichen und neurowissenschaftlichen Aspekten veranschaulicht.

Ob die Geschichte der Schrift Vom Codex zum Bildschirm dargestellt werden soll, Denkanstöße gefragt sind oder Gedanken zu Schreiben und Lesen im NetzLIDWIG bemüht sich, das Problem erschöpfend darzustellen.

Auch die Navigationsmöglichkeiten werden dem Anspruch der modernen Wissensvermittlung gerecht. Der Zugang zu den einzelnen Fragestellungen kann entweder über die Einstiegsseiten der einzelnen Perspektiven oder über die Mindmap erschlossen werden, wobei die assoziative Verlinkung der einzelnen Themenbereiche ein problemorientiertes und entdeckendes Lernen ermöglicht.

Was bislang allerdings noch fehlt, ist ein Hinweis auf Vladimir Nabokovs Rat, dass "ein kluger Leser das Werk eines Genies nicht mit dem Herzen, nicht so sehr mit dem Gehirn, sondern mit dem Rückenmark" lesen solle. Denn "[d]ort zeigt sich das verräterische Prickeln, trotz der Distanz und Gelassenheit, die wir beim Lesen bewahren müssen." So, schließt Nabokov seine Überlegungen, hätten wir teil an "einem Vergnügen zugleich der Sinne und des Verstandes".
(Vladimir Nabokov: Die Kunst des Lesens. Meisterwerke der europäischen Literatur, Frankfurt am Main 1991, S. 31.)

Nicht zuletzt nämlich ist auch Lesen – eine Kunst.

Die Anregung zu diesem Tipp gab Danica Krunic. Wollen Sie dazu Stellung nehmen oder einen eigenen Tipp geben? Dann schicken Sie uns eine E-Mail.


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