Tipp der Woche

Das Internet ermuntert ja zu mancher exhibitionistischen Monstrosität. Etwa stellen manche Zeitgenossen ihr Leben via Webcam in Realzeit ins Netz. Dahinter verbirgt sich möglicherweise ein religiöses Verlangen nach Wahrgenommenwerden, mehr noch jedoch scheint ein solches Unternehmen motiviert vom Stachel des Perversen. Es treibt, gewissermaßen, unser Zeitalter des Exhibitionismus auf die Spitze. – Mehr Transparenz geht nicht?

Im Gegenteil. Das Nur-Private bleibt gänzlich opak, ebenso undurchsichtig, wie unsere alltägliche Existenz in aller Regel. Dass man sich, um mit seinem privaten Leben nicht nur Interesse zu wecken, sondern um auch Durchblicke aufs Wesentliche einer Existenz zu schaffen, mit den Taktiken des Verbergens auskennen muss - sozusagen mit der autobiographischen Kadrierung -, machte Rainald Goetz mit seinem Internet-Tagebuch, dem "Roman eines Jahres", des Jahres 1998, benannt "Abfall für alle", vor.

Nun also: Voyeurismus als Geschichtsstunde. Die Website Pepys Diary präsentiert Tag für Tag, mit 343-jähriger Verspätung, die intimen Tagebuchaufzeichnungen von Samuel Pepys (1633-1703), eines Mannes, den sein deutscher Verlag, Eichborn, als "wetterwendischen Opportunisten", "Frauenjäger der dreistesten Art" und "barschen Vorgesetzten" anpreist. Kein angenehmer Zeitgenosse also - was uns nicht beunruhigen muss, da er ja kein Zeitgenosse von uns ist - aber, und das betrifft uns schon eher: ein faszinierender Typ! Einer, der etwas zu erzählen hat. Zumal Zeit und Ort, von denen seine Notizen handeln, das London der 1660er Jahre, ebensowohl intellektuell faszinierend waren wie in physischer Hinsicht gefährlich!

Vor diesem Hintergrund bedeutsamer historischer Ereignisse also gibt das Tagebuch Einblick in die Geisteshaltung eines Beamten der englischen Admirabilität. Samuel Pepys schrieb seine Tagebücher in einer Geheimschrift, damit niemand von seinen kleinen Amouren und unkonventionellen Geschäftsmethoden, seinen Eheproblemen und Verdauungsstörungen Kunde erhielt. Damit er schreiben konnte, was er schreiben wollte: das, was er für die Wahrheit seines Lebens hielt. Entsprechend unaufgeregt ist der Tenor des Projekts; nicht selten beginnt die Tagebuchführung mit dem Satz: "Spät auf und zum Amt, wo...". Als der Zustand seiner Augen dann keine weiteren Eintragungen zuließ, war das Projekt naturgemäß gestorben. 100 Jahre lang lagen die zwölf Bände seiner Tagebücher unentziffert in einer Bibliothek. Erst 1818 gelang es, den Code zu knacken.

Das Faszinierende an der cybertextuellen Umsetzung dieses zeitgeschichtlichen Dokuments der Sitten- und Kulturgeschichte des ausgehenden 17. Jahrhunderts ist: Der User, Leser, Reingucker kann die Lektüre durch eigene Anmerkungen bereichern. Seine Hintergrundinformationen mailt er einfach dem Betreiber. Dieser reichert den alten Text dann mit neuem Hypertext an. Gefragt sind Informationen zu so ziemlich allem von Entertainment über Ernährung, Kultur und Gesundheit bis zur Religion. Wer besonders gründlich in den Pepysismus einsteigen will, findet reichlich Anregung bei Claire Tomalins Biographie "Samuel Pepys. The Unequalled Self" (ausgezeichnet mit dem renommierten Whitbread-Preis). Für sie ist Mr. Pepys sowohl "der gewöhnlichste als auch der außergewöhnlichste Schriftsteller", den man sich vorstellen kann. Überzeugen Sie sich selbst!

Die Anregung zu diesem Tipp gaben Danica Krunic und Robert Mattheis. Wollen Sie dazu Stellung nehmen oder einen eigenen Tipp geben? Dann schicken Sie uns eine E-Mail.


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