Tipp der Woche

Durch die Aufnahme biometrischer Daten in die Ausweispapiere der deutschen Bevölkerung könnten schon bald

Wie die letzten Diskussionen gezeigt haben, stößt die Kennzeichnung des Menschen durch den genetischen Fingerabdruck in breiten Teilen der Bevölkerung auf Skepsis: Das Verhältnis von Innen und Außen ist prekär, sobald es um den Menschen geht. Man kennt das landläufige Vorurteil, das sich mit einem fliehenden Kinn verbindet. Man kann sich auch unter einer Caesarennase etwas vorstellen – etwas Caesarisches, natürlich. Aber derlei zu systematisieren? Undenkbar! Zu tief hat der pseudowissenschaftliche Aberwitz der Rassenkunde des Dritten Reiches sich dem kollektiven Gedächtnis eingeschrieben, und womöglich sind es auch noch Nachwehen jenes entsetzlichen methodischen Wahnsinns, die mancherorts Bedenken schüren gegen die Verfahren der biometrischen Identifizierung? Der Körper, vor allem natürlich das Gesicht, so scheint der Stand der Diskussion zu sein, ist das schlechthin Individuelle, und mehr, als dass hier eben das Individuelle regiert, zeige er nicht an.

Es gab freilich Zeiten, da war das ganz anders. Goethe z.B. war bekanntlich leidenschaftlicher Sammler von Scherenschnitten, auf deren Grundlage er manche charakterologische Betrachtung anstellte, und seine Zeitgenossen insgesamt hatten Freude daran, anhand der Umrissmerkmale eines Schädels auf die Eigenschaften des in ihm Enthaltenen zu schließen.

Das Interesse an der physischen Hülle des Menschen wurzelt in den physiognomischen und phrenologischen Studien des späten 18. Jahrhunderts. Die Website The History of Phrenology bietet einen detaillierten, anschaulichen Einstieg in die Welt der Phrenologie. Sie basiert auf der Dissertation "Phrenology's Nature and the spread of popular naturalism in Britain c. 1800-1850" von John van Whye an der University of Cambridge.

Eine Übersicht über die Geschichte der Schädellehre und eine ausführliche Chronologie führen in den Forschungsgegenstand ein. Erste Spuren von Goethes Beschäftigung mit der Phrenologie werden in der digitalisierten Version von Paul Julius Möbius` "Goethe und Gall" veranschaulicht. Pate jener biohermeneutischen Bewegung, die als "Kunst oder Wissenschaft der Physiognomik" (Richard Friedenthal) historisch wurde, war Johann Kaspar Lavater. Doch schon in ihren Anfängen zeigte sich, dass der "ungeheure Sprung vom Sinnlichen als Zeichen ins Unsinnliche als Bezeichnetes" (Jean Paul: "Vorschule der Ästhetik", Hamburg 1990, S. 107 ) gewisse Tücken hat:

    "Es gibt die Anekdote von einer Begegnung des Physiognomisten mit einem bescheidenen Manne im Reisewagen von Zürich nach Schaffhausen. Lavater liebte es, seine Kunst vor jedem Publikum zu demonstrieren. Er begann sogleich den Mann zu kennzeichnen: Sanftmut vor allem, Eingehen auf andere Menschen, die er liebevoll zu betreuen liebt, an die Hand nimmt, sie zu geleiten... "Ich bin der Scharfrichter von Schaffhausen, zu dienen, Herr", sagte das Gegenüber."
    (Richard Friedenthal: Goethe. Sein Leben und seine Zeit, München 1982, S. 160.)

Wohl noch in Goethes bekanntem Gedicht "Bei Betrachtung von Schillers Schädel" finden sich Echos jener Geistes-Wissenschaft, wenn Goethe beschreibt, wie die Natur die enge Verklammerung von Äußerlichkeit und Innerlichkeit betreibt:

    "Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen,
    Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre."

An dieser Schnittstelle von Geist und Gebein setzte dann Franz Joseph Gall an, der die Phrenologie entwickelte, indem er, wie Gottfried Benn schreibt,

    "die drei Wolffschen Seelenvermögen auf fünfunddreißig erweitert und am Gehirn lokalisiert hat."
    (Gottfried Benn: Essays und Reden. In der Fassung der Erstdrucke, hg. v. Bruno Hillebrand, Frankfurt am Main 1989, S. 24 f.)

Gall forschte nach dem Zusammenhang zwischen den verschiedenen Kopfformen, welche durch die Verschiedenheit der Gehirnformen bewirkt werden, und den verschiedenen psychischen Eigenschaften wie Begabung, Denkweise und Charakter. In seiner 1796 veröffentlichten "Theorie der Schädellehre" klassifizierte er 26 verschiedene Arten von Schädelverwerfungen. Die verschiedenen phrenologischen Organe bezeichnete er als "Fakultäten". Die inneren Sinne des Gehirns teilte er grob in drei Gruppen auf:

  1. Die niederen oder tierischen Sinne;
  2. die Gemütssinne;
  3. die Verstandessinne.

Zur Veranschaulichung der typischen Schädelmerkmale dient eine Sammlung von phrenologischen Bildern. Eine reichhaltige Bibliographie verweist auf themenrelevante Printquellen und auf qualifizierte Seiten im Internet. Der Link Ridiculing Phrenology zeigt die grotesken, komischen Seiten dieser "Wissenschaft" auf und der Link Reading Phrenology skizziert den Einfluss der Phrenologie auf die Literatur des Viktorianischen Zeitalters.

Die Anregung zu diesem Tipp gab Danica Krunic. Wollen Sie dazu Stellung nehmen oder einen eigenen Tipp geben? Dann schicken Sie uns eine E-Mail.


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