Tipp der Woche

    "Wir alle sind, was wir lesen."
    (Golo Mann: Aufsätze und Reden zur Literatur)

Die Literarische Gesellschaft Karlsruhe hat mit Unterstützung des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg das Internet-Projekt buecherkanon.de ins Leben gerufen. Ziel des Projekts ist, einen aktuellen Literaturkanon zu ermitteln, der die tatsächlichen Lesegewohnheiten der deutschen Leser widerspiegelt, also nach den Werken sucht, die für den Leser auch nach Jahren noch eine persönliche Bedeutung haben. Die Fragestellung lautet: "Welche drei Bücher haben in Ihrem Leben eine nachhaltige Wirkung hinterlassen?"

Solche Bestrebungen sind nicht neu. Schon 1928 hat die Gratis-Beilage Die losen Blätter der Berliner Zeitschrift Die Dame namhaften Autoren eine beinahe identische Frage gestellt: "Welches Buch hat Ihnen in Ihrem Leben den stärksten Eindruck gemacht?"
Der subtile Thomas-Mann-Interpret Michael Maar hat die Antwort des Autors des Zauberbergs ausgegraben, die in seinen Gesammelten Werken (wohlweislich?) nicht enthalten war:

    "Man kann sich sehr täuschen bei der Beantwortung Ihrer Frage, manches behauptet sein Recht genannt zu werden, ich könnte "Die Welt als Wille und Vorstellung" sagen oder Nietzsche oder Tolstoi. Aber ich glaube, ich muß weiter zurückgehen, ich glaube, einer der frühesten literarischen Eindrücke, deren ich teilhaftig wurde, war auch der tiefste und nachhaltigste: Andersens Märchen."
    (Michael Maar: Geister und Kunst. Neuigkeiten aus dem Zauberberg. Frankfurt am Main 1997, S. 40.)

Dass Thomas Mann mit dieser höchst dialektischen Antwort durchaus nicht tiefgestapelt hat, beweist Maar dann en detail auf den Seiten seines Buchs.
Wie die erste Auswertung der Internet-Umfrage von buecherkanon.de zeigt, hielten es die Teilnehmenden jedoch eher mit Bertolt Brecht, der in den Losen Blättern lakonisch antwortete: "Sie werden lachen: die Bibel."

Auch im Jahre 2001 geben also die deutschen Leser als nachhaltigste Leseeindrücke brav zu Protokoll: Die Bibel, Goethes Faust, Werke Hermann Hesses und Thomas Manns Zauberberg. Das überrascht. Gerade als Ergebnis einer Umfrage im Internet - wo man ja eine Altersgruppe zwischen 20 und 40 Jahren annehmen kann, es also mit Leuten zu tun hat, die eher den Fänger im Roggen gelesen haben als Die Leiden des jungen Werther und die als Bildungsromanerlebnis eher Rainald Goetz' Irre vorzuweisen haben als den Zauberberg. Auch eine differenziertere Betrachtung der Umfrageergebnisse nach Altersgruppen, Bildung oder Geschlecht zeigt kaum Abweichungen.

Woher also die neue philologische Ernsthaftigkeit? Zumal ja der Großbücher- und -fernsehkritiker Marcel Reich-Ranicki mit Unterstützung des SPIEGELS erst im Juli des vergangenen Jahres gefordert hatte: "Literatur muß Spaß machen!"

Vielleicht kommt der bücherstaubige Ernst der Antwortenden ja daher, dass sie sich aufgerufen fühlen, die Grundfesten der abendländischen und deutschen Kultur zu verteidigen, jetzt, da sie nicht nur vom islamistischen Terror bedroht werden, sondern auch von der eigenen Dekadenz, die zu den beschämenden Ergebnissen der so genannten "Pisa-Studie" geführt hat? Denn auch die Bestsellerlisten (und was heißt das anderes als: die Empirie?) sprechen eine andere Sprache als die von Goethe und Thomas Mann. Skepsis hinsichtlich der Antworten des ersten Halbjahres werden auch im Diskussionsforum laut. Bleibt abzuwarten, was der zweite Teil der Auswertung ergibt.

Die Anregung zu diesem Tipp gab Danica Krunic nach dem Hinweis von
Dr. Gerhard Lauer. Wollen Sie dazu Stellung nehmen oder einen eigenen Tipp geben? Dann schicken Sie uns eine E-Mail.


[ Home | Anfang | zurück ]