Tipp der Woche

Am 21. November
    Sie sieht nicht, sie fühlt nicht, daß sie ein Gift bereitet, das mich und sie zugrunde richten wird; und ich mit voller Wollust schlürfe den Becher aus, den sie mir zu meinem Verderben reicht. Was soll der gütige Blick, mit dem sie mich oft – oft? – nein, nicht oft, aber doch manchmal ansieht, die Gefälligkeit, womit sie einen unwillkürlichen Ausdruck meines Gefühls aufnimmt, das Mitleiden mit meiner Duldung, das sich auf ihrer Stirne zeichnet?
    Gestern, als ich wegging, reichte sie mir die Hand und sagte: Adieu, lieber Werther! – Lieber Werther! Es war das erste mal, daß sie mich Lieber hieß, und es ging mir durch Mark und Bein. Ich habe es mir hundertmal wiederholt, und gestern Nacht, da ich zu Bette gehen wollte und mit mir selbst allerlei schwatzte, sagte ich so auf einmal: Gute Nacht, lieber Werther! und mußte hernach selbst über mich lachen.

Stellen Sie sich vor, Sie erhielten in regelmäßigen Abständen E-Mails wie diese. Die Sprache fiele Ihnen vermutlich als reichlich oldfashioned auf, und es würde Sie höchlichst irritieren, immer mal wieder als "Wilhelm" angesprochen zu werden, wo Sie einen Wilhelm nicht einmal in Ihrem Bekanntenkreis haben. Insgesamt aber bekäme das Schreiben, allein durch die moderne Form seiner Übermittlung, einen Anstrich von – nun ja, wohl nicht Authentizität (Sie würden vermutlich immer noch denken: "So empfindet heute doch nur noch jemand, der zu viel Goethe gelesen hat; das ist ja die reinste Überspanntheit!"), aber doch von Autorität. Sie würden dem Schreiben, wie man früher sagte: Gehör schenken. Sie würden aufmerken. Sie bekämen einen Blick auf das, was Ihnen da erzählt wird. Denn das Medium verabreicht, wie Marshall McLuhan es vorhergesehen hat, der Message eine Frischzellenkur. Der Text, schon an die Schullektüre verloren geglaubt, ist wieder da.

Dank des Mediums Newsletter findet Johann Wolfgang von Goethes vor 230 Jahren geschriebener Briefroman "Die Leiden des jungen Werther" zu einer unvorhergesehenen Form von Aktualität. Nicht zuletzt beruht diese wohl auch darauf, dass Sie, wenn Sie sich anmelden, sehr interaktiv in die Handlung einbezogen werden: als Brieffreund Wilhelm nämlich, als Empfänger der Schreiben des unglücklich Liebenden.

Dabei steht es Ihnen frei, ob Sie die 98 Briefe Ihres unglücklichen Freundes eher im postmodernen Rhythmus empfangen wollen, im täglichen Turnus nämlich, oder, ganz wie zu Goethes Zeiten, als der Gang der Dinge noch etwas gemächlicher war, an den vom Autor vorgesehenen Tagen. Oben stehende Epistel etwa würde Ihnen dann tatsächlich am 21. November mitteilen, wie die Aktien in Wetzlar stehen. Diese realzeitliche Version bietet zudem den Vorteil, dass Sie jeweils die entsprechende Stimmung der Jahreszeiten mitempfinden könnten. (Natürlich kann die Fiktion, Sie seien Wilhelm, so und so nicht ganz aufgehen. Denn Wilhelm, hätte es ihn denn gegeben, hätte der Begriff "Echtzeit" allenfalls ein verstörtes Grinsen aufs Gesicht gezaubert. Aber Ihr E-Mail-Dienst, auch das liegt auf der Hand, kann natürlich keine Postkutsche vorfahren lassen.) Für welche Möglichkeit Sie sich aber auch immer entscheiden: daran, dass am Ende kein Geistlicher Wilhelms Sarg begleitet – daran wird auch die Internettechnologie nichts ändern können. Und da kann Ihr Zeitvorteil ganz schnell in einen Nachteil umschlagen.

Ersonnen haben das virtuelle Briefprojekt der Kommunikationswissenschaftler Thilo von Pape und der Mediävist Gerhard Rolletschek im EDV-Labor für Sprache und Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Die Anregung zu diesem Tipp gaben Danica Krunic und Robert Mattheis.
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