Tilmann Köppe
Autor und Interpretation?
Ein analytischer Beitrag
zur Diskussion
um den >Tod des
Autors<
Inhalt
- Einleitung: Der >Tod des Autors<
- Autor und Interpretation
- Interpretation, Identifikation
und Konstitution eines
literarischen Werkes
- Drei mögliche Gegeneinwände und ihre Widerlegung
- Grundsätzliches
Der >Tod des Autors< gehört zu den aktuellen und
vieldiskutierten Problemen der Literaturwissenschaft. In den 60er Jahren von Roland Barthes unter dem
programmatischen Titel La mort de l'auteur (1968) ausgerufen, 1 war alsbald ein Schlagwort etabliert, das in
den verschiedensten kultur- und literatur-wissenschaftlichen Kontexten
reüssierte. 2 In einem der Kernbereiche
der Literaturwissenschaft, der Interpretationstheorie, meint der >Tod des
Autors< die pauschale Absage an den Versuch, den Rekurs auf den Autor als
berechtigten Bestandteil einer Interpretation literarischer Texte
auszuweisen. Oft undifferenziert vereint, sind
autorkritische Positionen zu festen Bestandteilen literaturwissenschaftlicher
Interpretationstheorie geworden. 3 "Wer
sich hier auf den Autor beruft", so die pointierte Formulierung von
Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez und Simone Winko, "setzt
sich dem Verdacht der theoretischen Naivität aus." 4 Dem Engagement der
genannten Autoren ist nun die kürzlich erfolgte "Rückkehr des
Autors" in die Diskussion des deutschen Sprachraums zu verdanken. 5 Mit dem Projekt der Sichtung und Sortierung der
verschiedenen Kontexte, in denen der Begriff des Autors Verwendung findet,
sowie Rekonstruktionen der jeweils infragestehenden Argumente verbindet sich
der Wunsch, der genannte Naivitätsverdacht möge sich im Lichte
aufgeklärter Information verflüchtigen, und damit einher gehen
Versuche, die These vom >Tod des Autors< auf dem Wege sorgfältiger
Argumentation als falsch zurückzuweisen.
Einem dieser Versuche, von Matías Martínez
unter dem Titel Autorschaft und Intertextualität vorgelegt, 6 gelten die nachstehenden Ausführungen.
Zuerst rekonstruiere ich die Kritik, die Martínez an der
>poststrukturalistischen< Autorkritik übt. Anschließend
versuche ich zu zeigen, dass die offerierte Argumentation nicht ausreicht,
der autorkritischen Position wirkungsvoll zu begegnen. Ziel meiner
Ausführungen ist indes nicht ein Plädoyer für den >Tod des
Autors< – im Gegenteil. Worauf es mir ankommt, ist, eine
Zurückweisung der >poststrukturalistischen< Autorkritik zu einer
berechtigten Zurückweisung zu machen, und dies kann nur gelingen,
wenn die Argumente, die die eigene Position stützen sollen, ihrerseits
gut begründet sind. Es ist daher nötig, jedes dieser Argumente
isoliert auf seine >Durchschlagskraft< zu überprüfen und die
Schwierigkeiten, die sich hier stellen, möglichst genau ins Auge zu
fassen.
2. Autor und Interpretation
Im Zentrum der interpretationstheoretischen Variante der
Autorkritik steht die These, der Autor sei für die Ermittlung der
Bedeutung eines literarischen Textes nicht von Belang. Es handelt sich
hierbei um eine methodologische These, deren Anspruch es ist, eine
Norm für das Interpretieren literarischer Texte bereitzustellen.
Hinter der (oberflächengrammatisch) deskriptiven These (T), von Martínez
als
Der Autor ist ein unangemessenes Konzept
für die Interpretation literarischer Texte. (S. 467, Anm. 4)
rekonstruiert, steht mithin eine
Handlungsregel, die sich folgendermaßen umformulieren
lässt: Wer einen literarischen Text interpretiert, darf keine
Informationen über den Urheber des Textes zum Bestandteil der
Interpretation machen. 7 Grundsätzlich
kann sich eine Kritik der >poststrukturalistischen< Position
verschiedener Strategien befleißigen: Entweder, man belässt es
dabei, auf die Unzulänglichkeit der Argumente für (T) zu verweisen;
in diesem Fall ist noch nicht gezeigt, dass der Autor tatsächlich ein
notwendiger Bestandteil der Interpretation ist, sondern lediglich, dass
nichts dagegen spricht, auf den Autor zu rekurrieren (>schwache<
Version). Oder mit der Zurückweisung von (T) verbindet sich die
weitergehende These, der Autor müsse als unverzichtbarer (notwendiger)
Bestandteil jeder Interpretation berücksichtigt werden (>starke<
Version).
Die Argumentation, die Martínez vorlegt, ist vom >starken<
(zweiten) Typus. Ihm geht es um den Nachweis, dass selbst im Falle
>extremer< künstlerischer Formen, den intertextuell
>aufgeladenen< ready-mades, der Rekurs auf den Autor ein
notwendiger Bestandteil der Interpretation ist. Die
>Poststrukturalisten< behaupten, die Intertextualität der
Literatur mache den Rekurs auf Informationen über den Autor obsolet, da
Autoren "bloße[ ] Verknüpfer von Zitaten" (S. 465)
seien. Wenn nun gezeigt werden kann, dass die Interpretation gerade solcher
Werke, die sich durch besonders starke intertextuelle Relationen auszeichnen,
den Rekurs auf den Autor erfordert, so gilt das erst recht für
(intertextuell >schwächere<) Literatur im Allgemeinen. So schreibt
Martínez einleitend:
Ich möchte in meinem Beitrag zeigen, daß
der Verzicht auf den Autor auch in dieser Variante [i.e. im Falle der
Interpretation intertextuell aufgeladener Werke] sachlich unhaltbar ist. Auf
der Grundlage intertextualitätstheoretischer Argumente läßt
sich der Autor aus der Textinterpretation nicht verabschieden.
Vielmehr bleibt er selbst in Fällen von extremer Intertextualität
ein notwendiger (wenngleich nicht hinreichender) Bezugspunkt der
Interpretation. (S. 466)
Um dies >Beweisziel< zu erreichen, ist zunächst
die Unterscheidung von "Text" und "Werk" erforderlich.
Ein Beispiel wie Peter Handkes Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg am
26.1.1968 (1969) verdeutlicht, dass die textuelle Basis eines
literarischen Werkes (d.i. die sichtbaren Teile des Werks: eine Reihe von
Wörtern in bestimmter Annordnung auf dem Papier) identisch sein kann mit
dem textuellen Befund eines nicht-literarischen Gebrauchstextes. Handkes Aufstellung unterscheidet sich in Hinblick auf
seine manifesten Eigenschaften nicht von einer Ankündigung, wie
sie im Sportteil der Tageszeitung aufgetaucht ist (oder auftauchen kann). 8 Der wesentliche Unterschied zwischen Handkes
Aufstellung und dem Gebrauchstext besteht in den nicht-manifesten,
ästhetischen Eigenschaften, über die Aufstellung
verfügt, der Gebrauchstext jedoch nicht. Solche ästhetischen
Eigenschaften lassen sich, im Anschluss an A.C. Danto, bestimmen als der
>konzeptuelle Rahmen< des Textes: Handkes Werk stellt, indem es die
äußere Form des Gebrauchstextes kopiert, einen Kommentar
über eben diese Darstellungsform dar, während der
Gebrauchstext die Darstellungsform schlicht verwendet.
Kurz zusammengefasst, rekonstruiere ich das sich auf diesen
Befund stützende Argument wie folgt:
(P1) Literarische ready-mades zeichnen sich
dadurch aus, dass sie über
- bestimmte materielle Eigenschaften
und
- bestimmte ästhetische Eigenschaften
verfügen.
(P2) Wer ein literarisches ready-made
angemessen interpretieren will, muss dessen ästhetische Eigenschaften
berücksichtigen.
(P3) Die ästhetischen Eigenschaften eines
literarischen ready-mades hängen unlösbar mit dessen
Autorschaft zusammen: Wer die ästhetischen Eigenschaften eines solchen
Werkes
- identifizieren und das Werk
- angemessen interpretieren will,
muss bestimmte Informationen über den Autor
berücksichtigen.
(P4) Was in Hinblick auf (P1)–(P3) für ein
literarisches ready-made gilt, gilt für Literatur im Allgemeinen.
(Q) Der Autor ist ein notwendiger Bezugspunkt der
Interpretation literarischer Werke.
Der springende Punkt des Argumentes ist die dritte
Prämisse (P3), denn hier kommt der Autor ins Spiel. Martínez
argumentiert dafür, dass der Entstehungskontext Aufschluss über die
nicht-manifesten ästhetischen Eigenschaften eines Werkes gebe, da der
bloße textliche Befund hierzu nicht hinreichend sei. Erst der Rekurs
auf Handke als dem "konzeptuellen Schöpfer" des Werkes
mache die ästhetische Eigenschaften und damit das literarische Werk als
solches identifizierbar:
Die Existenz von sprachlichen ready-mades
wie Handkes Aufstellung macht deutlich, daß der Begriff des
Autors normalerweise zwei Funktionen in sich vereinigt, die systematisch zu
unterscheiden sind: einerseits den Urheber des Textes,
andererseits den konzeptuellen Schöpfer des Werkes. [...]
Handkes Autorschaft besteht sozusagen aus einem Akt der Taufe, die einem
gegebenen Objekt eine neue, ästhetische Identität verleiht. Wenn
ich in diesem Beitrag die These vertrete, daß der Autor einen
notwendigen Bezugspunkt jeder Werkinterpretation darstellt, gilt das nur
für den Autor im Sinne des konzeptuellen Schöpfers des Werkes. (S.
474 f.)
Dies Argument gilt es nun zu prüfen. Ich gehe in zwei
Schritten vor: Zunächst argumentiere ich für die Unterscheidung von
(1) der Identifikation eines literarischen Werkes und (2) der Definition des
Begriffs "literarisches Werk". Diese sind noch einmal von (3) der
Interpretation eines literarischen Werkes zu unterscheiden. Gewiss
hängen diese Aspekte miteinander zusammen; auf der Basis ihrer
Unterscheidung lässt sich jedoch zeigen, dass Identifikation und
Interpretation eines literarischen Werkes ohne Rekurs auf den Autor
auskommen. Die Konklusion (Q) lässt sich mithin als unbegründet
zurückweisen. In einem zweiten Schritt versuche ich, Martínez'
Argument von metatheoretischer Warte aus in den Blick zu nehmen, um einige
der eher grundsätzlichen Schwierigkeiten, mit denen eine Widerlegung der
>poststrukturalistischen< Autorkritik zu kämpfen hat, aufzuzeigen.
3. Interpretation, Identifikation
und Konstitution eines
literarischen Werkes
Auf den ersten Blick scheint es, als bedeuteten die Fragen
- "Was ist ein literarisches Werk?"
und
- "Wie finde ich heraus, ob etwas ein
literarisches Werk ist?"
dasselbe. Das ist jedoch klarer Weise nicht der Fall. Fragen
des ersten Typs, deren allgemeine Form als "Was ist ein X?" angegeben werden kann, zielen auf eine
Begriffsexplikation (oder Begriffsdefinition, die Terminologie
ist nicht einheitlich) und werden standardmäßig durch die Angabe
von notwendigen und (zusammen) hinreichenden Bedingungen beantwortet. 9 Notwendige Bedingungen sind für die
Objekte einer bestimmten Klasse konstitutiv, und das heißt: Es
kann nicht sein, dass ein Gegenstand in die fragliche Klasse fällt, die
hierfür notwendigen Bedingungen jedoch nicht erfüllt. Ein Beispiel
mag das veranschaulichen. Angenommen, zu den konstitutiven Bedingungen
für literarische Werke gehörte, dass sie bestimmte materielle
Eigenschaften (M) und bestimmte ästhetische Eigenschaften (E) haben. Auf
die Frage "Was ist ein literarisches Werk?" ließe sich dann
antworten: Ein Objekt ist genau dann ein literarisches Werk, wenn es
(zumindest) über die Eigenschaften M und E verfügt. Für jedes
Objekt (X), das über die fraglichen Eigenschaften nicht verfügte,
würde gelten, dass der Satz "X ist ein literarisches Werk"
falsch ist. Man kann daher auch sagen: Durch die Angabe konstitutiver
Kriterien klärt man die Bedeutung eines Begriffs (in diesem Fall von
"Literatur"), indem man angibt, über welche Eigenschaften ein
Objekt verfügen muss, damit es unter den Begriff fällt.
Fragen des zweiten Typs dagegen zielen auf epistemische
Kriterien. Solche Kriterien fungieren erkenntnisleitend, d.h. sie helfen
uns, einen Gegenstand als Mitglied der durch einen bestimmten Begriff
bezeichneten Klasse zu identifizieren. Auch hier mag ein Beispiel hilfreich
sein. Durch Lackmuspapier kann man Säuren erkennen. Indem man eine
bestimmte Flüssigkeit mit Lackmuspapier in Kontakt bringt, kann man
daher feststellen, ob es sich bei der Flüssigkeit um Säure handelt,
nicht aber, was der Begriff "Säure" bedeutet. Das
Lackmuspapier zeigt uns, ob eine bestimmte Flüssigkeit die
Eigenschaft hat, eine Säure zu sein, nicht jedoch, was es heißt
, dass eine Flüssigkeit eine Säure ist. Über ein
(epistemisches) Kriterium zur Feststellung des Vorliegens oder Fehlens einer
Eigenschaft – zum Beispiel der Eigenschaft, ein literarisches Werk, eine
ästhetische Eigenschaft oder eine Säure zu sein – zu verfügen,
ist daher etwas anderes, als über eine (essentielle) Definition zu
verfügen. In diesem Sinne schreibt Nicholas Rescher:
To have a criterion for determining the presence or
absence of some factor [...] is one thing, and to have a definition or
specification of meaning is another. [...] The chemist's definition of gold
as the metallic element of such-and-such atomic weight and structure does not
in general help in determining whether a certain nugget is or is not gold. The assayer's procedures for testing – with reference to
such factors as, for example, solubility in aqua regia – provide
criteria for such a determination, but do not furnish a definition. 10
Epistemische Kriterien tauchen charakteristischer Weise in
Rechtfertigungen von Prädikationsaussagen auf. Man benutzt sie, um die
Zuordnung eines bestimmten Objektes zu einer Klasse zu begründen. Wenn
mich jemand fragt "Wie kommst Du darauf, Handkes Die Aufstellung des
1. FC Nürnberg am 26.1.1968 als literarisches ready-made zu
bezeichnen?", so kann ich meine Klassifikation begründen, indem ich
epistemische Kriterien angebe. (Zu der Frage, welche Kriterien das hier sein
könnten, komme ich gleich.) Wenn wir über epistemische Kriterien
für einen Begriff verfügen, so können wir diesen Begriff in
sinnvoller und begründungsfähiger Weise verwenden.
Epistemische Kriterien setzen uns daher, so kann man sagen, zur
rationalen Anwendung von Begriffen instand, und zwar auch dann, wenn wir
nicht über eine essentielle Explikation der Begriffe verfügen. 11 Die Praxen der Verwendung eines Begriffes und
die der Explikation des Begriffes sind logisch distinkt.
Mit der Unterscheidung von epistemischen und konstitutiven
Kriterien im Gepäck kann ich mich nunmehr erneut dem oben genannten
Argument zuwenden. Dessen dritte Prämisse (P3) besagt, dass man, um die
ästhetischen Eigenschaften eines literarisches ready-mades
identifizieren und das Werk angemessen interpretieren zu können, auf
bestimmte, Autor-bezogene Informationen zurückgreifen muss. Ist das
richtig? Zur Beantwortung dieser Frage muss man Verschiedenes auseinander
halten. Das Beispiel von Handkes Aufstellung macht sicher deutlich,
dass man ein literarisches Werk als solches identifizieren muss, um es
angemessen interpretieren zu können (und dass eine solche Identifikation
nicht immer leicht ist). Ohne eine erfolgreiche
Identifikation des Werkes (im Unterschied zum bloßen Text
) können, so wurde zu Recht gesagt, dessen ästhetische
Eigenschaften nicht angemessen gewürdigt werden. 12 Auch ist sicher richtig, dass unter den für Literatur
konstitutiven Kriterien der Autor in der einen oder anderen Weise zu
finden ist. Das lässt sich leicht begründen:
Literarische Werke sind Artefakte, und diese sind per definitionem
von einem Menschen hervorgebracht. 13
Nun ist es aber so, dass zur Identifikation eines
Gegenstandes epistemische Kriterien ausschlaggebend sind. Werden wir
mit Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg am 26.1.1968 konfrontiert,
so können wir nach Eigenschaften des Textes suchen, die uns dazu
berechtigen, dem Text das Prädikat "literarisches ready-made
" zuzusprechen. Ein guter Kandidat für solche Eigenschaften
wäre – da wir, wie oben dargelegt, unter den manifesten Eigenschaften
nicht fündig werden – die Präsentation des Textes in einer
Gedichtanthologie oder bei einer Dichterlesung, d.h. der unmittelbare
Präsentationskontext des Textes. Wer
über einschlägiges (kunsthistorisches, literaturwissenschaftliches,
philosophisches) Wissen verfügt, wird Aufstellung anhand eines
solchen Kontextes als literarisches ready-made identifizieren
können. 14
Die Eigenschaft "X besitzt einen >konzeptuellen Schöpfer<" ist
vielleicht konstitutiv für ein literarisches Werk wie Handkes
Aufstellung, 15 gehört jedoch
gewiss nicht zu den (geschweige notwendigen) epistemischen
Kriterien. Man kann nicht anhand der (nicht-manifesten) Eigenschaft
"X besitzt einen >konzeptuellen Schöpfer<" erkennen, dass
ein bestimmtes Objekt (X) ein literarisches ready-made ist (und
genauso wenig kann man dies anhand einer nicht-manifesten ästhetischen
Eigenschaft). Die begriffliche Wahrheit "Wenn X ein ready-made
ist, so hat es einen >konzeptuellen Schöpfer<" trägt zur
Praxis der Identifikation des Kunstwerkes nichts bei. Zusammengefasst,
geht mein Gegenargument so:
(P3) beruht auf der Verwechslung epistemischer und
konstitutiver Kriterien. Bestimmte nicht-manifeste Eigenschaften eines
literarischen ready-mades – zum Beispiel die Eigenschaft, einen
>konzeptuellen Schöpfer< zu haben – gehören
möglicherweise zu den konstitutiven Kriterien, über die die
Bedeutung des Ausdrucks "literarisches ready-made"
expliziert wird. Sie gehören jedoch nicht zu den epistemischen
Kriterien, die die Identifikation (im klassifikatorischen Sinne) eines
bestimmten Objektes leiten. Interpretationen setzen eine solche
Identifikation voraus, nicht jedoch eine Bedeutungsexplikation des Terms
"literarisches ready-made".
Aus dem Gesagten folgt, dass die Behauptung
[W]ie das Beispiel von Handkes Aufstellung
deutlich macht, ist es ohne Bezug auf den Autor gar nicht möglich, ein
Kunstwerk als solches zu identifizieren. (S. 475)
unzutreffend ist. 16 Handkes Aufstellung macht nichts dergleichen
deutlich. Wenn dies soweit richtig ist, so ist (P3) falsifiziert. Dann aber
ist das Argument nicht konklusiv, d.h. es ist nicht
geeignet, die Konklusion (Q) zu stützen. 17
Martínez hat kein Argument gebracht, weshalb der Autor ein notwendiger
Bezugspunkt der Interpretation sein sollte.
4. Drei mögliche Gegeneinwände und ihre Widerlegung
Um meine Schlussfolgerung abzusichern, konfrontiere ich sie
mit drei möglichen Gegeneinwänden:
- Ich habe bislang lediglich gezeigt, dass zur
klassifikatorischen Identifikation, d.h. zur Subsumtion eines Objektes
unter einen Begriff, bestimmte epistemische Kriterien ausreichen. Eine
angemessene Interpretation setzt aber voraus, dass das fragliche Objekt als
"das Gedicht, das Peter Handke am so-und-so-vielten verfasst hat",
d.h. als Exemplar eines bestimmten >Individuums<, identifiziert
wird.
Dieser Einwand ist sicher unzutreffend. Jedenfalls für
die hier in Rede stehenden ästhetischen Eigenschaften von Aufstellung
(nämlich die, einen Kommentar über die Darstellungsform, die
von Gebrauchstexten lediglich verwendet wird, zu machen, s.o.) gilt, dass sie
eben gerade den Mitgliedern einer Klasse, nämlich den
ready-mades, zukommen. Es mag zwar bestimmte
Eigenschaften bestimmter Werke geben, deren Verständnis einen Rekurs
auf den Autor erforderlich macht. 18 Aber
dies wird durch das hier infrage stehende Argument nicht gezeigt –
Martínez' Argument zielt auf anderes – und muss daher an dieser Stelle
auch nicht diskutiert werden.
- Wenn epistemische Kriterien nicht vorhanden sind,
müssen wir zur Identifikation eines literarischen ready-mades
dessen Geschichte bis zu ihrem Urheber (dem >konzeptuellen Schöpfer<)
zurückverfolgen. Solche Fälle zeigen, dass der Autor eben doch eine
notwendige Bedingung der Identifikation eines literarischen ready-mades
ist.
Um diesem Einwand zu begegnen, mag es nützlich sein,
sich konkrete Situationen zu vergegenwärtigen, in denen epistemische
Kriterien nicht vorhanden sind. Was für Situationen könnten das
sein? Ich gebe zwei Beispiele. Der Text von Aufstellung könnte
auf dem Titel einer im Jahr 1975 verfassten Dokumentation der Geschichte des
1. FC Nürnberg abgedruckt sein. Oder Peter Handke hätte, dies ist
das zweite Beispiel, Aufstellung am 24.1.1968 in der Sportrubrik einer
Nürnberger Tageszeitung veröffentlichen können. Was ist mit
diesen Fällen anzufangen? Offenbar sind sie tatsächlich nicht
eindeutig. In beiden Fällen wissen wir nicht genau, ob der Text dazu
verwendet wird, die Mannschaftsaufstellung anzuzeigen, oder ob er einen
Kommentar über eine bestimmte Darstellungsform macht. Beides wäre
möglich.
Tatsächlich aber hilft der Rekurs auf Peter Handke als dem
Autor hier auch nicht weiter. Das zweite Beispiel macht dies am deutlichsten:
Denn angenommen, wir verfügen über die Zusatzinformation, dass
Peter Handke den Text in der Sportrubrik veröffentlicht hat, so wissen
wir noch immer nicht, ob der Text in der einen oder anderen Absicht
abgedruckt wurde. Denn natürlich hätte Handke den Text auch drucken
lassen können, um die Aufstellung des 1. FC Nürnberg am 26.1.1968
bekannt zu geben. Man kann nun dafür plädieren, dass Aufstellung
genau dann ein Kunstwerk ist, wenn Handke eben wollte, dass es
sich um ein Kunstwerk handelt, und darauf hinweisen, dass genau deshalb der
Rekurs auf den Autor zur Identifikation vonnöten sei. Das führt
aber zu der absurden Konsequenz, dass der Begriff des Kunstwerks viel zu
weit wird: Es macht keinen Sinn, als einzige Bedingung für die
Wahrheit von "X ist ein Kunstwerk" auszuweisen, dass jemand wollte,
dass X ein Kunstwerk ist. (Andernfalls wäre auch dieser Aufsatz ein
Kunstwerk, weil ich nämlich möchte, dass er eines ist.)
Ob etwas ein Kunstwerk ist, muss also noch von anderen Faktoren
als dem Willen seines Autors abhängen. Und hier zeigt sich, dass literarische ready-mades
eben Grenzfälle sind. Denn wenn wir keine weiteren Faktoren
ausmachen können (d.h. wenn wir keine epistemischen Kriterien aufweisen
können, mit denen sich eine Prädikationsaussage begründen
ließe), so sollten wir bestenfalls von einem unentscheidbaren Fall
sprechen. Wir wissen dann eben nicht, ob wir die Aussage "X ist ein
Kunstwerk" akzeptieren sollten oder nicht.
- Um die Angemessenheit epistemischer Kriterien zu
beurteilen, muss man auf konstitutive Kriterien zurückgreifen. Das
heißt: Um zu überprüfen, ob ein Kriterium tatsächlich
geeignet ist, die Mitglieder einer bestimmten Klasse zu identifizieren, muss
man zeigen, dass (zumindest in einer hinreichend großen Zahl von
Fällen) die epistemischen Kriterien tatsächlich auf für die
Mitglieder der Klasse notwendige Bedingungen ansprechen. Man denke an das
oben genannte Säure-Beispiel (vgl. Abschnitt 3): Um feststellen zu
können, ob die Färbung des Lackmuspapiers tatsächlich
Säure anzeigt und nicht etwa eine Base, muss ich wissen, was eine
Säure ist bzw. was eine Säure von einer Base unterscheidet. Der
Unterschied zwischen Säure und anderen Flüssigkeiten – d.h. die
Abgrenzung der Begriffe "Säure" und beispielsweise
"Base" – wird durch die Angabe notwendiger und hinreichender
Bedingungen für das Vorliegen von Säure geleistet. Also sind
epistemische Kriterien von konstitutiven Kriterien abhängig.
Dieser Hinweis ist richtig, es ist jedoch fraglich, ob es
sich um einen Einwand handelt. Ich denke, es handelt sich um keinen Einwand,
wenn man akzeptiert, dass die Praxis der Identifikation eines Objektes von
der Praxis der Überprüfung epistemischer Kriterien verschieden ist.
Natürlich muss ich, um ein epistemisches Kriterium auf seine
Angemessenheit zu überprüfen, sicher stellen, dass es
tatsächlich zur Identifikation der Mitglieder einer bestimmten Klasse
geeignet ist. Die Identität einer bestimmten Klasse (technisch
gesprochen: die Extension eines Begriffs) wird durch die Angabe notwendiger
und hinreichender Bedingungen festgelegt. In diesem Sinne sind
konstitutive Kriterien logische Voraussetzungen epistemischer Kriterien. Mir
scheint jedoch, dass mein Gegenargument hiervon nicht betroffen ist. Denn mir
ging es nur um den Nachweis, dass kein Argument für die Notwendigkeit
des Rekurses auf den Autor in der Praxis der Interpretation vorliegt.
In dieser Praxis der Interpretation setzen wir die Angemessenheit unseres
begrifflichen Instrumentariums voraus. Wir benutzen bestimmte Begriffe
und erklären oder rechtfertigen sie nicht jedes Mal aufs
Neue. Wir identifizieren bestimmte Objekte anhand epistemischer Kriterien
(zumeist anhand von mehreren, einander ergänzenden epistemischen
Kriterien) und argumentieren normalerweise nicht für logische
Voraussetzungen der Angemessenheit unserer Kriterien. (Genauso wenig
verbinden wir jede Interpretation mit einer essentiellen Definition des Terms
"literarisches Werk".) Daher, so scheint mir, lässt sich auch
angesichts dieses Hinweises meine Behauptung aufrecht erhalten.
Eine Reihe von
Autoren haben darauf hingewiesen, dass die Argumente, die Barthes und andere
>Poststrukturalisten< für die Interpretationsnorm (T) liefern, in
formaler Hinsicht dubios sind, 19 und dass
sie auf einer unzulänglichen Beschreibung der Begriffe >Literatur<,
>Interpretation< und >Bedeutung< beruhen. 20 Auf der Grundlage solcher Argumente lassen sich
>schwache< Versionen (s.o.) der Zurückweisung von (T)
begründen. Das heißt, man kann auf diese Weise plausibel machen,
dass, gegeben die Argumentationslage, nichts dagegen spricht, bei der
Interpretation eines literarischen Werkes in der einen oder anderen Weise auf
dessen Autor zu rekurrieren. Es ist aber viel schwieriger, eine
>starke< Version der Zurückweisung, wie Martínez sie anstrebt, zu
begründen. Das hat folgenden Grund: Wie bereits erörtert, sind
Interpretationsregeln wie (Q) normative Urteile, sie haben die
Struktur von >Verpflichtungsurteilen< oder >Werturteilen<. Es ist
nun aber nicht zu sehen, dass sich solche Urteile (ohne Hinzuziehung weiterer
Annahmen) aus deskriptiven Urteilen über die Struktur literarischer
Texte ableiten ließen.
Man kann offenbar nicht auf der Grundlage
ausschließlich deskriptiver Auffassungen über die Struktur eines
literarischen Werkes darauf schließen, welcher Typus der Interpretation
im normativen Sinne richtig ist. In der obigen Argumentrekonstruktion taucht
deshalb nicht zufällig in (P2) und (P3) das Wort "angemessen"
– ein evaluatives (normatives) Prädikat – auf. Damit ist zunächst
vorausgesetzt, dass es einen Unterschied zwischen angemessenen und
unangemessenen Interpretationen gibt. Bereits diese Annahme kann der
>Poststrukturalist< bestreiten, und zwar auch dann, wenn er die
Unterscheidung von materiellen und ästhetischen Eigenschaften eines
literarischen Werkes bejaht. Oder er kann, sollte er die Unterscheidung von
angemessenen und unangemessenen Interpretationen akzeptieren, geltend machen,
dass damit nicht festgelegt sei, was eine Interpretation zu einer
angemessenen Interpretation mache. Denn der Satz "Eine Interpretation
ist genau dann angemessen, wenn sie die ästhetischen Eigenschaften eines
literarischen Werkes berücksichtigt" ist jedenfalls nicht
analytisch wahr.
Was ist dem so argumentierenden >Poststrukturalisten<
zu erwidern? Ich sehe hier mindestens drei Möglichkeiten. Die erste
bestünde in dem (empirischen) Nachweis, dass auch in der Praxis der
>poststrukturalistischen< Interpretation bestimmte
Interpretationsnormen de facto akzeptiert werden (und dass es sich
dabei um >gehaltvollere< Normen handelt als etwa "Eine
Interpretation ist genau dann angemessen, wenn sie Spaß macht").
Der >Poststrukturalist< hätte dann seinerseits diese Praxis zu
erklären, und wir könnten ihm zusehen, wie er sich in
Selbstwidersprüche verstrickt bei dem Versuch, einerseits
Interpretationsnormen abzulehnen, andererseits jedoch einer regelgeleiteten
Interpretationspraxis zu folgen. Die zweite Möglichkeit bestünde in
dem Projekt einer Begründung der eigenen Interpretationsnormen, es
handele sich um (Q) oder eine andere Norm. Diese Möglichkeit steht
sicher offen, sie ist aber, wie die vorstehenden Ausführungen vielleicht
haben andeuten können, gewiss nicht leicht. Denn mit Bezug auf jede
Norm kann der >Poststrukturalist< (ob sinnvoller Weise, mag hier
offen bleiben) fragen: "Und warum sollte ich diese Norm
befolgen?", und damit das Geschäft der Begründung in einen
(infiniten?) Regress treiben. 21
Das heißt nun aber nicht, dass man, bis diese
Bedrohung abgewendet und das Begründungsprojekt einmal gelungen ist, auf
jede positive Interpretationsnorm verzichten müsse. Deutlich
unkomplizierter, und für die Alltagsgeschäfte des um seine
Interpretationspraxis besorgten Literaturwissenschaftlers wohl
ausreichend, kommt die dritte Möglichkeit daher. Sie besteht darin,
Werturteile vom Typus (Q) in Konditionalsatzgefüge umzuwandeln, so dass,
logisch gesprochen, bereits der Vordersatz den normativen Maßstab
enthält. Aus
(Q) Der Autor ist ein notwendiger Bezugspunkt der
Interpretation literarischer Werke
würde demnach beispielsweise
(R) Wenn man die Relevanz bestimmter
Informationen über den Autor als notwendige Bestandteile einer
angemessenen Interpretation eines bestimmten Typs akzeptiert, dann
ist der Autor ein notwendiger Bezugspunkt der Interpretation.
Interpretationsregeln vom Typus (R)
haben, formuliert man sie imperativisch, die Struktur von
"hypothetischen Imperativen". 22
Sie setzen voraus, dass es verschiedene, durch je eigene Regeln konstituierte
Interpretationstypen gibt, unter denen man frei wählen kann: Indem ich
mich für einen bestimmten Interpretationstyp entscheide, entscheide ich
mich zugleich für ein bestimmtes Regelrepertoire, das bindend ist,
solange ich den Anspruch, dem gewählten Interpretationstyp zu folgen,
nicht aufgebe. Interpretationsregeln vom Typus (R)
leisten somit zweierlei: Sie entlasten vom (Letzt-) Begründungsdruck und
erfüllen zugleich zwei Hauptfunktionen von Handlungsnormen: Sie gebieten
dem Relativismus Einhalt und bieten praktische Orientierung. 23
Tilmann Köppe
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Anmerkungen
1 Roland Barthes, La mort de l'auteur. In:
Manteia (1968), S. 12–17. In deutscher Übersetzung ist der Text
mittlerweile zugänglich in: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hrsg. u.
kommentiert von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez und Simone
Winko. Stuttgart 2000, S. 185–193. zurück
2 Vgl. Die Rückkehr des Autors. Zur
Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Hrsg. von Fotis Jannidis, Gerhard
Lauer, Matías Martínez und Simone Winko. Tübingen 1999, insbes. den
Einleitungsaufsatz Rede über den Autor an die Gebildeten unter
seinen Verächtern, hier vor allem S. 15–18. zurück
3 Neben der französischen Linie ist hier
insbesondere die autorkritische Position der New Critics, die bereits
Jahre zuvor – wenngleich vor anderem theoretischem Hintergrund und mit
anderen Argumenten – von Monroe C. Beardsley und William K. Wimsatt in ihrem
Aufsatz The Intentional Fallacy, zuerst in: The Sewanee Review 54
(1946), vertreten wurde, einschlägig wirksam gewesen. Eine deutsche
Übersetzung findet sich in: Texte zur Theorie der Autorschaft [Anm. 1],
S. 84–101. zurück
4 Einleitung zu: Texte zur Theorie der
Autorschaft [Anm. 1], S. 8. zurück
5 Vgl. Die Rückkehr des Autors [Anm. 2].
Einen guten Einblick in die Diskussion der angelsächsischen analytischen
Ästhetik bietet der Sammelband: Intention and Interpretation. Ed. by
Gary Iseminger. Philadelphia 1992. zurück
6 Matías Martínez, Autorschaft und
Intertextualität. In: Die Rückkehr des Autors [Anm. 2], S. 465–479.
Diesem Aufsatz entstammende Zitate weise ich fortan im laufenden Text in
Klammern nach. zurück
7 Noch anders, nämlich imperativisch,
formuliert: Interpretiere literarische Texte stets unter Verzicht auf
Informationen über den Autor! Im Anschluss an den Sprachgebrauch W.K.
Frankenas kann man zwei Arten normativer Urteile, nämlich
(imperativische) Verpflichtungsurteile und Werturteile,
unterscheiden (vgl. William K. Frankena, Analytische Ethik. Hrsg. u.
übers. von Norbert Hoerster. München 51994, S. 27 f.). Unter der
Voraussetzung, dass man tun sollte, was gut / geboten / angemessen ist, und
unterlassen sollte, was nicht gut / nicht geboten / nicht angemessen ist,
lassen sich Werturteile in der Regel in Verpflichtungsurteile umformen. Die
Rede von "Informationen über den Autor" wird weiter unten
präzisiert. Es ist klar, dass nicht irgendwelche Informationen infrage
kommen. zurück
8 Die Rede von "manifesten
Eigenschaften" (manifest properties) übernehme ich von Noël
Carroll, Introduction to: Theories of Art Today. Ed. by Noël Carroll.
Madison, Wisconsin 2000, S. 3–24, hier S. 13. Manifeste Eigenschaften sind
direkter Beobachtung zugänglich. zurück
9 Vgl. zum Folgenden allgemein: Patrick
Suppes, Introduction to Logic. Princeton u.a. 1957, S. 151–160.
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10 Nicholas Rescher, The Criteriology of
Truth. In: (ders.), The Coherence Theory of Truth. Oxford 1973, S. 1–22, hier
S. 1 f. Das Säure-Beispiel ist auch von Rescher. zurück
11 Tatsächlich ist die Menge der
Begriffe, für die man eine essentielle Explikation angeben kann, in der
Regel ziemlich gering. Es ist eine sprechende Tatsache, dass der Begriff der
Analytizität in Einführungen in die analytische Philosophie fast
immer mit dem einen Beispiel "Junggeselle" bestritten wird.
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12 Die Richtigkeit von (P2) setze ich hier
voraus. Ich gehe, ohne dies näher zu begründen, davon aus, dass (1)
sich die Interpretation eines literarischen Werkes mit Bedeutungszuweisungen
befasst, und dass (2) keine Interpretation angemessen ist, die die
ästhetischen Eigenschaften eines Werkes unberücksichtig lässt.
Vgl. aber unten, Abschnitt 4. zurück
13 Man könnte insofern auch sagen: Der
Satz "Ein Artefakt hat einen menschlichen Urheber" ist analytisch
wahr. Die Versuche, essentielle Explikationen von "Kunst" zu geben,
beinhalten zumeist die Artefaktbedingung, vgl. etwa den Ansatz von Marcia
Muelder Eaton, A Sustainable Definition of "Art", in: Theories of
Art Today [Anm. 8], S. 141–159. Auch in Martínez' Bestimmung der
ästhetischen Eigenschaften des ready-mades ist die
Artefaktbedingung natürlich impliziert. Ob freilich eine essentielle
Explikation von "Literatur" gegeben werden kann, ist eine offene
Frage, vgl. Christopher New, Philosophy of Literature. An Introduction.
London, New York 1999, Kap. 2. zurück
14 Der kriterielle Rahmen muss nicht scharf
begrenzt sein, eher handelt es sich um eine disjunktive Kombination von
epistemischen Kriterien, die entweder (einzeln) zur Begründung einer
Prädikationsaussage hinreichend sind oder aber in Kombination
(akkumuliert) eine Prädikation begründen können. Zum
Präsentationskontext eines Werkes gehören beispielsweise situative
Faktoren (man denke an die Dichterlesung), aber auch die typographische
>Aufmachung< des Textes, sogenannte Präsignale wie die Nennung
eines Autornamens usw. (vgl. die instruktive Auflistung bei Burkhard
Moennighoff, Paratexte. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hrsg.
von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering. München 42001, S.
349–356). zurück
15 Es ist übrigens durchaus diskutabel,
ob es sich bei dem "konzeptuelle Schöpfer" eines literarischen
ready-mades um einen Künstler von Profession handeln muss.
Einigen Versionen der "Institutionellen Theorie der Kunst" zufolge
kann ein Objekt von jedermann in die Kunstwelt (artworld)
eingegliedert werden, solange der Akteur über relevantes Wissen
verfügt (vgl. Noël Carroll, Philosophy of Art. A Contemporary
Introduction. London, New York 22000, S. 228f.). Falls sich also, in unserem
Beispiel, herausstellen sollte, dass nicht Handke es war, der
Aufstellung zum Abdruck in einem Gedichtband freigegeben hat, sondern
ein kundiger Lektor des Suhrkamp-Verlages, so ist der Lektor der
"konzeptuelle Schöpfer", nicht aber Handke. Eine Theorie, die
das Vorliegen nicht-manifester ästhetischer Eigenschaften der genannten
Art als notwendig an den Autor gekoppelt ansieht, müsste
Aufstellung in diesem Fall womöglich den Status des Kunst
werkes absprechen. Und es gibt noch ein potentielles Problem. Handke
könnte, nach den nicht-manifesten, ästhetischen Eigenschaften von
Aufstellung befragt, leugnen, dass solche vorhanden seien. Handke
könnte behaupten, dass er einen entsprechenden "Akt der Taufe"
(S. 475) niemals vollzogen habe. – Was ist dann? Solange die manifesten
Eigenschaften eines Kunstwerks den Selbstinterpretationen von Autoren in
eklatanter Weise wiedersprechen, besteht die rationalste Weise des Umgangs
mit solchen Selbstinterpretationen vermutlich darin, sie nicht ernst zu
nehmen. (Das schlägt Noël Carroll vor, vgl. ders., Art, Narrative, and
Conversation. In: (ders.), Beyond Aesthetics. Philosophical Essays. Cambridge
2001, S. 157–180 und S. 413–417, hier S. 158 f.) Bei nicht-manifesten
Eigenschaften ist dieser Schachzug dagegen wahrscheinlich ausgeschlossen, in
jedem Fall jedoch erheblich erschwert. Man hat in diesem Fall nämlich
keinen empirischen >Beweis< für das Vorliegen einer Eigenschaft,
mit dem sich die Aussage des Autors widerlegen ließe. zurück
16 Richtig wäre vielleicht: "Wie
das Beispiel von Handkes Aufstellung deutlich macht, ist es ohne
Bezug auf den Autor gar nicht möglich, ein Kunstwerk als solches zu
definieren." Aber da eine Definition (glücklicher Weise)
keine Voraussetzung einer Identifikation (genauer: einer wahren und
begründeten Prädikationsaussage) ist, ließe sich (Q) durch
diese Modifikation auch nicht retten. zurück
17 Wie steht es mit (P4)? Es ist alles
andere als klar, ob, was für ein literarisches ready-made gilt,
auch für Literatur im Allgemeinen gilt. Martínez bietet, soweit ich
sehe, kein Argument für diese recht weitgehende Behauptung, und es
scheint einiges gegen ihre Richtigkeit zu sprechen: Zunächst
gehören ready-mades eher zum Randbereich der Literatur, was sich
bereits daran zeigt, dass manch einer ihnen das Prädikat
"Literatur" vielleicht rundheraus absprechen wird. (Zum
Phänomen der borderline cases vgl. die grundsätzlichen
Überlegungen bei John Searle, Speech Acts. An Essay in the Philosophy of
Language. Cambridge 1969, insbes. S. 8–12.) Ferner ist nicht klar, worin die
nicht-manifesten ästhetischen Eigenschaften eines literarischen Werkes
wie Der Zauberberg von Thomas Mann bestehen sollen. Es kann sich
jedenfalls nicht gut darum handeln, dass Der Zauberberg irgendeinen
Kommentar über anderswo verwendete Darstellungsformen
macht (s.o.). Es mag durchaus sein, dass ready-mades wie Handkes
Aufstellung sowohl nicht-manifeste ästhetische Eigenschaften des
genannten Typs haben, als auch Literatur (im klassifikatorischen Sinne) sind.
Die Implikationsbeziehung "Wenn etwas ein literarisches ready-made
ist, dann ist es Literatur und hat bestimmte nicht-manifeste
ästhetische Eigenschaften" scheint jedoch in formaler Hinsicht
asymmetrisch (und intransitiv) zu sein: Nicht alles, was Literatur ist, ist
ein ready-made und hat nicht-manifeste ästhetische Eigenschaften
der genannten Art. (Zum Problem der ready-mades vgl. auch Karlheinz
Lüdeking: Analytische Philosophie der Kunst. Frankfurt a.M. 1988, S.
173 ff.) Eine ausführlichere Kritik an (P4), allerdings vor anderem
theoretischem Hintergrund, liefert Norbert Christian Wolf: Wie viele Leben
hat der Autor? Zur Wiederkehr des empirischen Autor- und des Werkbegriffs in
der neueren Literaturtheorie. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen.
Hrsg. von Heinrich Detering. Stuttgart 2002, S. 390–405, hier S. 400–403; an
(P3) findet Wolf offenbar nichts auszusetzen, vgl. ebd., S. 401.
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18 Zum Beispiel dürfte für die
Eigenschaft "X wurde von Peter Handke am so-und-so-vielten
verfasst" gelten, dass man bestimmte Informationen über Peter
Handke berücksichtigen muss, um zu prüfen, ob die Eigenschaft auf
ein bestimmtes literarisches Werk (X) zutrifft. Aber das ist trivial und
steht hier nicht zur Diskussion. zurück
19 Die vielleicht beste Rekonstruktion
stammt von Peter Lamarque, The Death of the Author: An Analytical Autopsy.
In: British Journal of Aesthetics 30 (1990), S. 319–331. zurück
20 Vgl. New, Philosophy of Literature [Anm.
13], Kap. 7. Die insgesamt überzeugendste Variante einer solchen
Zurückweisung hat meiner Meinung nach Jerrold Levinson vorgelegt, vgl.
ders., Intention and Interpretation. A Last Look. In: Intention and
Interpretation [Anm. 5], S. 221–256. zurück
21 Dies Problem ist analog der diffizilen
Frage nach der (Letzt-) Begründung ethischer Normen, vgl. etwa den
folgenden kleinen Dialog bei Rush Rhees: "‚You ought to want to behave
better.< >What if I don't?< What more could I tell you?" (Rush
Rhees: Some Developments in Wittgenstein's View of Ethics. In: The
Philosophical Review 74 (1965), S. 17–26, hier S. 19). – Was will man
jemandem sagen, der sich partout der Anerkennung einer Norm
verweigert? zurück
22 Die Rede von "hypothetischen
Imperativen" borge ich von Kant, vgl. Günther Patzig, Die logischen
Formen praktischer Sätze in Kants Ethik. In: (ders.), Ethik ohne
Metaphysik. 2., durchges. u. erw. Aufl. Göttingen 1983, S. 101–126,
insbes. S. 103–108. zurück
23 Für wertvolle Hinweise im Vorfeld
danke ich Prof. Dr. Matías Martínez. Christian Budnik hat dankenswerter Weise
bei der Beseitigung von Unklarheiten, insbesondere in den Abschnitten 4 und
5, geholfen. Alle Fehler gehen auf mein Konto. zurück
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