IASL Diskussionsforum online
Der Kommunikationsbegriff

Leitung: Nina Ort

Michaela Kenklies
Paradoxe Kommunikation

Abstract

Die folgenden Überlegungen stammen aus dem größeren Kontext von bereits entstandenen bzw. im Entstehen begriffenen Arbeiten zur avangardistischen Literatur am Beispiel des österreichischen Autors Konrad Bayer aus der sog. Wiener Gruppe und zum Verhältnis frühromantischer Ästhetik zur avangardistischen und im weitesten Sinne avancierten bzw. postmodernen Literatur. Im Rahmen dieser Überlegungen wurde auf der Basis der systemtheoretischen Kommunikationskonzeption ein Modell entwickelt, mit dessen Hilfe ein zentrales Prinzip avantgardistischer Literatur, nämlich die kommunikative Evokation des Inkommunikablen, beschrieben werden kann und das ich unter dem Titel der Paradoxen Kommunikation entfaltet habe.

Inhalt

  1. Was ist Paradoxe Kommunikation?
  2. Paradoxe Kommunikation und die Uneinholbarkeit des Bewußtseins
  3. Idee des Zustandes der Abwesenheit aller Differenz
  4. Paradoxe Kommunikation - Kommunikative Bewegung des Inkommunikablen
  5. Die Leistung der Paradoxen Kommunikation
  6. Verwendete Literatur

1. Was ist Paradoxe Kommunikation?

Ein ziemlich unbestrittener Ausgangspunkt der Postmoderne dürfte in der These Lyotards vom Ende der Großen Erzählungen liegen. Man wird jedoch feststellen, daß dies selbst eine Erzählung ist. Wenn die These autologisch verwandt wird, also sich selbst einschließt, widerspricht sie sich selbst und enthält damit die Figur der Paradoxie: wenn wahr, dann falsch. Die Letztfundierung in einem Paradox gilt als eines der zentralen Merkmale postmodernen Denkens (siehe Luhmann 1999, S.174ff.). Im Sinne dieser postmodernen, paradoxen Weltbeschreibung kann man die Vorstellung von der Einheit der Gesellschaft als Prinzip umformulieren und sagen, daß die Einheit der Gesellschaft oder die Einheit der Welt nicht mehr als Prinzip, sondern nur noch als Paradox behauptet werden kann (siehe Luhmann 1997, S. 91f.).

Gleichzeitig ist die Paradoxie ein uraltes sprachliches Phänomen in Form der Paradoxen Kommunikation, die auf eine lange Tradition zurückgeht – wahrscheinlich solange, wie es Kommunikation gibt. Paradoxe Kommunikation ist der Extremfall sprachlicher Äußerungen, und sie ist zugleich ein Phänomen, das in vielen, vielleicht allen Kulturen anzutreffen ist. Paradoxien markieren, man mag sich mit dem Zenbuddhismus auseinandersetzen oder Mystiker bzw. Hölderlin lesen, die Unbeobachtbarkeit einer Einheit. Sie enthalten zugleich die Aufforderung, sich nach einer Auflösung der Paradoxie umzusehen. Aber die Auflösung oder "Entfaltung" der Paradoxie kann keine logische Operation sein. Die Beispiele für Paradoxe Kommunikation sind zahlreich, doch ein ahnungsweiser Zugang zu ihrer Technik und ihrer Auswirkung könnte sich eröffnen, wenn man über so alte Scherze meditiert wie:

Was ist der Unterschied zwischen einem Krokodil? Je grüner, desto schwimmt es.

Paradoxe Kommunikation ist in jeder Kommunikation anzutreffen, denn alle Kommunikation "schließt sogar paradoxe Kommunikation ein, also Kommunikation, die negiert, daß sie sagt, was sie sagt." (Luhmann 1997, S.91) Man kann paradox kommunizieren, und dies keineswegs sinnlos ( im Sinne von unverständlich = autopoietisch wirkungslos). In der klassische Rhetorik als auch in der modernen Literatur, in der Philosophie als auch in der Familientherapie bedient man sich des offenen Paradoxierens. Die Funktion der Paradoxen Kommunikation ist noch völlig ungeklärt und vermutlich selbst paradox.

Die vorliegenden Überlegungen versuchen anhand der Systemtheorie, Funktion und Techniken der Paradoxen Kommunikation herauszuarbeiten, wohlwissend, daß damit ein imaginäres Ziel formuliert wird: Denn der via Paradoxe Kommunikation intendierte Zustand ist nicht beschreibbar, sondern nur erfahrbar. Wir können ihn "nicht für einen Besitz, sondern entweder für eine unverfügliche Voraussetzung oder für ein Ziel unseres Bewußtseins halten, dem wir uns in 'unendlicher Annäherung' entgegenarbeiten müssen, das uns also nie als ein Wirkliches anfallen wird." (Frank 1997, S. 28.)

In dieser unendlichen Annäherung gehe ich anhand des Phänomens der Paradoxen Kommunikation dieser einen - von Barthes formulierten - Frage nach: "Wie kann ein Text, der Sprache ist, außerhalb von Sprache sein?" (Barthes 1976, S.47) Oder, systemtheoretisch gewendet: Wie kann das Inkommunikable kommunikativ evoziert werden?

2. Paradoxe Kommunikation und die Uneinholbarkeit des Bewußtseins

Die Paradoxe Kommunikation zeichnet sich dadurch aus, daß sie das Bewußtsein dessen, der zum Beispiel über den alten Scherz mit dem Krokodil meditiert, heißlaufen läßt. Sie artikuliert damit den Versuch, hinter den Bereich sprachlich genormter Denkmuster zu gelangen. Dieser Versuch läuft unter anderem darüber, die zeitlichen Implikationen der Sprache zu ergründen - denn jede Beobachtung, jedes Sprechen obliegt dem Modus des Nachhinein und verfehlt aufgrund seiner Differenzstruktur den Direktkontakt mit dem Bezeichneten oder Beobachteten.

Die Paradoxe Kommunikation operiert mit eben dieser Nachträglichkeit der Sprache, um die damit unmittelbar verbundene Uneinholbarkeit des Denkens und die Konsequenzen der Zeitlichkeit des Bewußtseins nicht nur zu thematisieren, sondern auch praktisch außer Kraft zu setzen.

Das heißt, hinter den oft unverständlichen Texten der Paradoxen Kommunikation steht ein hochdurchdachtes Kalkül, das Nichtsprachliche sprachlich zu initiieren - in Folge, die Unsichtbarkeit des Unbeobachtbaren in einem sprachlichen Werk zu prozessieren. Hier wird die Inkongruenz von Sprache und Bewußtsein und die letztlich dadurch begründete Uneinholbarkeit des Denkens durch die Sprache auf eine durch die Texte selbst praxisorientierte Form funktionalisiert.

Unter diesem Gesichtspunkt gestaltet sich der Zugriff jeglicher interpretatorischer (oder analytischer ) Verfahren als äußerst schwierig, wenn nicht als aussichtslos, da die Texte der Paradoxen Kommunikation gerade deren diskursive Technik unterlaufen. Die gezielte Interpretationsverweigerung der Texte der Paradoxen Kommunikation läuft kongruent mit einer Kommunikationsverweigerung eben dieser Texte.

Gerade der vorliegende Text als wissenschaftliche, differentiell gesteuerte - da sprachliche - Analyse scheint das eigene Thema auszulöschen, da jedem Beobachten, jeder Differenzbildung, der blinde Fleck als Voraussetzung der Beobachterposition immanent ist. Doch, - um mit Spencer Brown zu sprechen:

Coming across it thus again, in the light of what we had to do to render it acceptable, we see that our journey was, in its preconception, unnecessary, although its formal course, once we had set out upon it, was inevitable. (Laws of Form, S.106)

Ziel der folgenden Analyse wird es sein, kommunikativ jenen Übergangspunkt zu markieren, wo die Texte der Paradoxen Kommunikation den Schritt vom sprachlich-differentiell gesteuerten Raum zum prädifferentiellen Raum vollziehen und kommunikativ das Inkommunikable evozieren.

3. Idee des Zustandes der Abwesenheit aller Differenz

Die Texte der Paradoxen Kommunikation nehmen auf ein ganz bestimmtes Konstitutionsprinzip der Sprache, nämlich das der selbstreferentiellen Geschlossenheit, bezug: Die bezeichnende Funktion von Sprache basiert auf der Unterscheidung von Signifikat und Referent. Diese systematische Unterscheidung erlaubt durch die operative Schließung in einem re-entry (Wiedereintritt der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene) die sprachinterne Unterscheidung Signifikat-Signifikant. Vor allem im produktiven Umgang mit Sprache wird die Differenz Signifikat / Signifikant als Konstitutionsmöglichkeit sprachinterner Realitäten (siehe Einhorn & Gurkenkönig) genutzt.

Die sprachinterne Differenz Signifikat / Signifikant arbeitet gegen die aus der Differenz Signifikat / Referent erwachsende Prätention einer die Wirklichkeit abbildenden Sprache. Vielmehr tritt in der Unterscheidung Signifikat / Signifikant die tautologische Struktur der Sprache in Erscheinung, die immer nur das erkennen läßt, was sie zuvor bezeichnet hat und dies zudem so vorstellig macht, wie sie es qualifiziert hat: Die Wirklichkeit erweist sich als ein sprachlich induzierter Effekt der ihr vorausliegenden Ordnungsschemata, nämlich der Relation Signifikat / Referent (Fischer/Jäger, S.660).

Aus dem Bewußtsein um die sprachinterne Realität erwächst unweigerlich die Frage nach der nichtsprachlichen Realität, denn sprachliche Artikulation impliziert immer eine "zerschneidung des ganzen" (Bayer 1985, S.292), das heißt, "jeder satz ist eine einschränkung" (Rühm 1967, S.28).

Der Versuch, psychische Prozesse adäquat in Sprache zu vermitteln, scheitert, denn "psychische Prozesse sind keine sprachlichen Prozesse", vielmehr "fehlt jeder Zeichengebrauch mit der Funktion, dem 'Selbst' zu verdeutlichen, was das 'Ich' ihm mitteilen will". (Luhmann 1984, S.367).

Die Selbstreferentialität der Sprache erklärt den Menschen zu einem Gefangenen seiner Ausdrücke, er ist 'eingekerkert in die Sprache', da die Sinneskoordinaten der menschlichen Wahrnehmung immer schon von sprachlichen Normvorgaben organisiert sind. Die Totalität der Wahrnehmung ist apriori in sprachliche Muster 'eingeklemmt', wie es bereits in der nicht mehr sprachlich konstituierten Theaterkonzeption Artauds 'Theater der Grausamkeit' formuliert wurde:

Ich werde wirklich durch meine Begriffe LOKALISIERT (...). Ich werde wirklich durch meine Begriffe gelähmt, durch eine Folge von Endigungen und so ANDERSWO in diesem Augenblick mein Denken auch sei, ich kann es nur über diese Begriffe laufen lassen - so widersprüchlich zu ihm, so gleichlaufend, so zweideutig sie auch sein mögen, bei Strafe, in diesem Augenblick aufzuhören zu denken. (Artaud 1983, S.87).

"Ich werde wirklich durch meine Begriffe LOKALISIERT": Die bereits apriori sprachliche Organisation von Wahrnehmung verweist den Menschen in einen prinzipiell sprachperspektivisch bedingten Standort, von dem aus er die 'Welt' erlebt.

An diesem Punkt mag es hilfreich sein, die Systemtheorie heranzuziehen. Stärker als der Begriff des Diskurses betont der Begriff des Systems die unaufhebbare Gleichzeitigkeit von System und Umwelt. Anders als der Begriff des Diskurses ist der Begriff des Systems damit von vornherein auf Differenz angelegt. So bietet die Systemtheorie dem Beobachter ein bestimmtes Schema an, mit dessen Hilfe er andere und sich selbst beobachten kann, nämlich die Unterscheidung von System und Umwelt. Die Position des Beobachtungsstandorts in Luhmanns Sinne ("Beobachtung ist (...) Differenzgebrauch mit Bezeichnungsposition") (Luhmann/Fuchs 1989, S.46.) ist unweigerlich gekoppelt mit dem Phänomen des blinden Flecks:

[Der] Beobachter [ist] notwendig mit bestimmter Blindheit geschlagen (...). Er benützt eine Unterscheidung, die er mit Hilfe dieser Unterscheidung nicht bezeichnen, sondern nur benutzen kann (ebd., S.178)

und

jede Bezeichnung [setzt] voraus, daß das Bezeichnete unterschieden werden kann, sei es von allen anderen, sei es von etwas bestimmten anderen. Die Unterscheidung selbst muß jedoch blind operieren. (ebd.)

Fazit ist,

daß jede Beobachterposition eine eigentümliche Kombination von Blindheit und Sicht ist (...) und daß es die Blindheit für Bestimmtes ist, die die Sicht auf Bestimmtes eröffnet. (ebd.)

Getragen von dem Bewußtsein der durch Sprache verengten Perspektive ist die Idee, wie sie in der Paradoxen Kommunikation prozessiert wird, sich von den Implikationen sprachperspektivischer Betrachtungsweise zu lösen. Intendiert ist ein "Zustand der Abwesenheit aller Differenz", der "den Bezug alles Bezüglichen auf nicht wieder Beziehbares nicht nur denkbar, sondern erfahrbar" (ebd., S.49) macht – systemtheoretisch gewendet der Zustand des unmarked space.

Die Entortung der Perspektive, die Externalisierung der Beobachterposition, ist gekoppelt mit der Aufhebung des blinden Flecks in einer 'totalen' Schau. Hier

ist das wahrhafte Endziel für die Seele: Jenes Licht anzurühren und es kraft dieses Lichtes zu erschauen, nicht in einem fremden Licht, sondern in eben dem, durch welches es überhaupt sieht. (Plotin 1983, S.248.)

Doch "die immanente Erfahrung der primordialen Zweitlosigkeit, das Erleben der Nichtzweiheit" (Luhmann/Fuchs 1989, S.51). ist weder durch Referenz noch durch Beobachtung und nicht einmal durch Erkennen erreichbar. Denn die "Idee des Zustandes der Abwesenheit aller Differenz schließt Unbeobachtbarkeit ein" (ebd., S.49): Jeder Differenzgebrauch, der der Beobachterperspektive immanent ist, verfehlt den "Direktkontakt mit dem Zweitlosen" (ebd., S.51), der in dem "Zuvor jeder differenzbenutzenden Operation" (ebd., S.50) besteht. Das heißt, "keine Operation findet den Weg zurück zu dem, was vor ihr war - zu dem unmarked space (Spencer Brown)". (ebd., S.57) Dem differentiell abtastenden Realitätskontakt entgeht man infolge dessen nur durch einen Sprung:

Man kann sie [die Unbeobachtbarkeit] mit dem Unbegriff Nichts auszeichnen und seinen Verstand aufs Spiel setzen durch Reflexion über die Positivität absoluter Negativität, auf die Existenz von Negativitäten, oder - springen. (ebd., S.49)

Initiiert werden kann der Sprung durch das Ereignis: "Das Ereignis ist weder noch gibt es das Ereignis (...). Das Ereignis ereignet" (Heidegger S.11) und zerreißt damit den Vorhang zwischen Erleben und Gewahrwerden, zwischen psychophysiologischen Vorgängen und deren Beobachtung. Das Ereignis unterläuft in seiner reinen Präsenz den Modus des Nachhinein, der jeder Beobachtung zugrunde liegt: Jedes Beobachten, jedes Gewahrwerden ist immer nachträglich, da nur bereits Vorstelliges beobachtet werden kann. Es gibt kein Ereignis, das in seiner Qualifikation als solches nicht schon aus seiner Aktualität herausgelöst wäre:

Jedes Ereignis, das eine Unterscheidung durch Bezeichnen einer Seite der Unterscheidung zur zweckweiteren Informationsverarbeitung aktualisiert, ist schon Beobachtung. (Fuchs 1933, S.23.)

Das heißt,

die 'aktuelle' Darstellung ist nicht darstellbar, das Ereignis als solches vergißt sich (Lyotard 1987, S.133.),

denn

das Jetzt ist nicht jetzt, sondern noch nicht oder schon nicht mehr, man kann nicht jetzt sagen, dafür ist es zu früh (vorher) oder zu spät (nachher). (ebd., S.131)

Angesichts dieser Umstände wäre es die logische Folgerung zu schweigen, nicht nur gemäß des Mottos Wittgensteins "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen", sondern auch, da das Schweigen die angemessene Form des Umgangs mit der Zweitlosigkeit wäre, denn Schweigen "schlägt gleich dort zu, wo und womit sich soziale Systeme konstituieren" (Luhmann/Fuchs 1989, S.37.).

4. Paradoxe Kommunikation - Kommunikative Bewegung des Inkommunikablen

Die Initiierung des Ereignisses der Abwesenheit aller Differenz sehen Luhmann und Fuchs jedoch nicht nur in dem Modus des Schweigens realisiert, sondern auch in bestimmten kommunikativen Formen, denen es gelingt, den Sprung durch ein Ereignis im Rezipienten zu initiieren - wie denen den Zen-Buddhismus und der Mystik: Diese haben sprachliche "Techniken entwickelt, mit deren Hilfe es sich kommunizieren läßt, daß man einen Schritt hinter die Welt zurücktreten kann". (ebd., S.99) Es handelt sich um eine

Kommunikationstechnik, die Kommunikation auf der Basis ihrer eigenen Funktionsgrundlagen ad absurdum führt. Dermaßen irritierte und irritierende Kommunikation wird eingesetzt, um Initialzündungen für psychische Erleuchtungszustände auszulösen. (ebd., S.47)

Diese Kommunikationstechnik führt Kommunikation auf der Basis ihrer eigenen Funktionsgrundlagen via der Paradoxie ad absurdum. Und das Paradoxon hat die Qualität eines Ereignisses, das den "Sprung" des Rezipienten initiieren kann. Da die Formuliereung eines Paradoxon Kern dieser Kommunikationtechnik ist, wurde sie mit dem Begriff "Paradoxe Kommunikation" von Luhmann und Fuchs in bezug auf die Form der "logik-brechenden Kommunikationspraxis"(ebd., S.61 u. 66 ff.) ausgezeichnet.

Sie hat ihre Tradition vor allem in den Koans, den buddhistischen Meister-Schüler-Gesprächen. Die Koans dienen als künstlerisches Mittel, das in dem Schüler einen psychischen Schock auslöst, indem durch diese Gespräche blitzartig die Differenz von Denken und Gegenstand des Denkens, von Sprache und Außersprachlichen gelöscht wird. Sie sind explizit auf das Durchschlagen des dualistischen Knotens angelegt. In dem intendierten Schock wird der Rezipient in den vordifferentiellen Raum (unmarked space) hineinkatapultiert. Der Sprung selbst wird jedoch kommunikativ in der Paradoxie evoziert. Denn: entweder setzt er seinen Verstand auf's Spiel – ich möchte hier an den alten Scherz mit dem Krokodil erinnern – oder er springt. Das heißt, die Texte der Paradoxen Kommunikation präsentieren sich als die Einheit der Differenz von Sprache und Nichtsprachlichem, wie sie das folgende, berühmte Beispiel ausführt:

Einst besuchte Te Shan den Meister Lung T'an, um dessen Belehrung einzuholen und blieb bis zum Abend. T'an sagte: 'Die Nacht ist hereingebrochen. Warum ziehst du dich nicht zurück und ruhst dich aus?' Shan verbeugte sich, hob den Vorhang hoch und trat hinaus. Draußen war es sehr dunkel. Er kam zurück und sagte dem Meister, es sei sehr dunkel draußen. T'an zündete eine Kerze an und gab sie ihm. Als Shan sie ergreifen wollte, blies der Meister sie aus. An dieser Stelle erreichte Shan die Erleuchtung. (nach Suzuki)

Dermaßen irritierte und irritierende Kommunikation wird noch heute eingesetzt, um Initialzündungen für psychische Erleuchtungszustände auszulösen. Luhmann und Fuchs prägten für diese Form der Kommunikation deswegen den Begriff der "Paradoxen Kommunikation", da sie denjenigen, "der mit ihr konfrontiert wird, in Unentscheidbarkeiten katapultiert. Es ist die Form der Paradoxie. Position und Negation sind so gesetzt, daß sie einander nicht zufrieden lassen, sich nicht bescheiden damit, beim Setzen auf je eine Seite die andere als nur aktuell ausgeschlossene mitzuführen. Vielmehr negiert die Negation die Möglichkeit der Position, negiert die Position die Möglichkeit der Negation." (ebd., S.93)

Damit wird in den Texten der Paradoxen Kommunikation ein Kunstgriff angewendet, der es möglich macht, daß der Rezipient angeregt wird, in den Texten eine Form zu sehen, die das Formlose (Spencer-Brown) sichtbar macht. Die Paradoxie "zerstört für einen Augenblick die Gesamtpräsentation des Systems: geordnete, reduzierte Komplexität zu sein. Für einen Augenblick ist dann unbestimmte Komplexität wiederhergestellt, ist alles möglich." Insofern eröffnet die Paradoxie den prädifferentiellen Raum, denn "Widersprüche sind nur (...) als Ereignisse möglich". (Luhmann 1984, S.508)

Das Konzept des prädifferentiellen Urgrundes, des unmarked space, bringt diese irritierende Kommunikation hervor, die die adäquate Antwort auf die "Idee des Zustandes der Abwesenheit aller Differenz" (Luhmann/Fuchs 1989, S. 49) ist.

Dabei wird genau jene Zeiterfahrung des Modus des Nachhinein, der jeder Beobachtung immanent ist, auf den Punkt gebracht:

Die Kommunikation wird aktuell vollzogen, aber so, daß ihre Aktualisierung den Übergang zur gegenteiligen Kommunikation erzwingt. Wenn sie etwas sagt, kann sie nur verstanden werden als ein Hinweis auf das Gegenteil. Im Aktualitätsraum der Kommunikation kollabiert also die Zeit. Die Gegenwart wird benutzt, um die Zeit in sich selbst aufzuheben. (ebd., S.133)

Von dem Rezipienten wird erwartet, daß er in dem schwindenden Moment des Oszillierens das Ereignis erfaßt, das in dem Umschlagspunkt aufblitzt: "Ihm bleibt dann nur der Sprung (...), und zwar so, daß er des Prä-Differentiellen ansichtig wird, des Urgrundes, der sich nicht beobachten läßt." (ebd., S.61)

Die Paradoxe Kommunikation läßt die Sprache "jenseits ihrer eigenen Grenzen explodieren, ihre eigene Logik (...) sprengen, aber nicht in der reinen Tautologie, sondern in einer phantasievollen Potenzierung, wo sie natürlich mit ihrem eigenen Untergang spielt." (Baudrillard)

Die Kommunikation beginnt zu oszillieren, "weil jede eingenommene Position zwingt, das Gegenteil zu behaupten, wofür dann dasselbe gilt." (Luhmann/Fuchs 1989, S.8)

5. Die Leistung der Paradoxen Kommunikation

Hier ist die Frage zu stellen: Warum haben ausgerechnet die Texte der Paradoxen Kommunikation das Potential – wenn man so will - , die Erfahrung des Inkommunikablen zu initiieren?

Das läßt sich zum Teil daraus erklären, daß das Phänomen der Paradoxen Kommunikation auf eine ursprüngliche Struktur des Bewußtseins rekurriert – die paradox ist: Wie dargestellt, kann jeder Beobachter nur beobachten mit Hilfe einer Operation, die eine Unterscheidung macht, um die eine, aber nicht die andere Seite der Unterscheidung zu bezeichnen und sie damit als Ausgangspunkt für weitere Operationen zu wählen. Keine Beobachtung ohne Unterscheidung. Aber diese Begriffsfestlegung ist ihrerseits auf der Unterscheidung von Unterscheidung und Bezeichnung aufgebaut. Sie ist damit autologisch, das heißt auf sich selbst anwendbar. Und sie ist paradox, weil sie es sich verbieten muß, die Frage nach der Einheit der Unterscheidung von Unterscheidung und Bezeichnung zu stellen. Der Beobachter setzt also eine Asymmetrie voraus, die operativ benutzt wird, ohne daß die ursprüngliche Asymmetrie beobachtet werden kann. Oder, in semiologischer Terminologie, man kann sich immer nur im Bereich der bezeichnenden Zeichen bewegen, aber nie bekommt man dabei das vorausgesetzte Bezeichnete zu fassen.

Der infinite Regress, die Rückfrage nach der ersten Unterscheidung, die nie beantwortet werden kann, weil man eben dazu anfangen müßte zu unterscheiden, findet in der Figur der Paradoxie Eingang und Ausdruck. Die Paradoxie kann wiederum in Folgeprobleme aufgelöst werden und mit einer Ursprungsmystifikation versehen werden - Spencer Brown zum Beispiel hilft sich mit dem Ignorieren des Ausgangsparadoxes und führt sein Kalkül auf Grund einer Anweisung ("draw a distinction") durch bis zu dem Punkt, an dem die Möglichkeit eines imaginären re-entry der Form in die Form auftaucht.

Geht man davon aus, daß die Einheit von Unterscheidungen, die man benötigt, um etwas zu bezeichnen, nur paradox bezeichnet werden kann, so ist die Welt kein möglicher Gegenstand des Wissens. Sie bleibt allen Bemühungen zum Trotz unbekannt, sie bleibt der unmarked space, der mit jeder Beobachtungsoperation reproduziert wird. Die Welt tritt für den Beobachter im Formenspiel nur als Paradox der Ununterschiedenheit des Unterscheidens ein, sie läßt sich gleichermaßen in der Figur der Paradoxie vertreten und als Unbeobachtbarkeit repräsentieren.

Damit kann die Figur der Paradoxie als Substitution für das fungieren, was als Einheit (= die Welt) nicht beobachtet werden kann. Paradoxien sind also unter anderem Darstellungen der Welt in der Form der Selbstblockierung des Beobachters, denn jede Paradoxie ist nur paradox für einen Beobachter, der seine Beobachtungen bereits systematisiert hat – und welcher Beobachter könnte frei davon sein? Denn die Paradoxie findet sich erst im Beobachten, aber immer nur auf Grund einer Unterscheidung.

Die Paradoxe Kommunikation thematisiert die nur als Paradox faßbare, operativ funktionalisierende, aber nicht beobachtbare Einheit des Unterschiedenen und somit die vorausliegende Ausgangs-Paradoxie. Damit gehört die Figur der Paradoxie wohl zu den bedeutendsten Auffangerrungenschaften, die insofern geheim und nicht mehr geheim sind, als sie blockiert und nicht verrät, was man mit ihr anfangen kann.

Entscheidend ist, daß die "Kommunikation von Paradoxien Folgen hat" (Luhmann/Fuchs 1989, S. 94). Sie rührt an dem blinden Fleck (und wunden Punkt) des Beobachters und fordert ihn auf, seine Beobachterposition zu verlassen – "cross the border!" - und initiiert damit das Erlebnis des Inkommunikablen. Die Fichtesche Augenmetapher (Wissenschaftslehre 1798) bezeichnet sehr schön, was geleistet werden müßte: das sich selbst sehende Auge. Und genau darin liegt die Leistung der Paradoxen Kommunikation. Sie zielt nicht auf stillgelegte Komplementarität oder den infiniten Regreß, sondern konfrontiert den Beobachter in seiner zutiefst ursprünglich paradoxen Beobachterposition via der Paradoxie mit der Welt.

Verwendete Literatur

Artaud, Antonin: Frühe Schriften. München 1983.

Barthes, Roland: Die Lust am Text. Frankfurt 1976.

Bayer, Konrad: der sechste sinn. In: Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Rühm. Bd.2. Stuttgart 1985.

Fischer, Ernst / Jäger, Georg: Von der Wiener Gruppe zum Wiener Aktionismus - Problemfelder zur Erforschung der Wiener Avantgarde zwischen 1950 und 1970. In: Herbert Zeman (Hg.): Die österreichischen Literaturen. Ihr Profil im 20. Jahrhundert. Graz 1990, S.617-683.

Frank, Manfred: 'Unendliche Annäherung'. Die Anfänge philosophischer Frühromantik. Frankfurt 1997.

Fuchs, Peter: Moderne Kommunikation. Zur Theorie des operativen Displacement. Frankfurt 1993.

Heidegger, Martin: Sein und Zeit. 14.Aufl., Tübingen 1977.

Lyotard, François: Der Widerstreit. München 1987.

Luhmann, Niklas / Fuchs, Peter: Reden und Schweigen. Frankfurt a.M. 1989.

Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Frankfurt 1984.

Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt 1997.

Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Frankfurt 1999.

Plotin: Die erkennenden Weisheiten und das Jenseitige. In: Hans-Dieter Zimmermann: Rationalität und Mystik. Frankfurt 1983, S.235-250.

Rühm, Gerhard (Hg.): Die Wiener Gruppe. Reinbek 1967.


Michaela Kenklies
Jakob-Klar-Strasse 5
D-80796 München

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