IASL Diskussionsforum online
Bewertungskriterien für elektronische Editionen

Leitung: Fotis Jannidis


Anja Gild

Bewertungskriterien
für die Lesbarkeit von elektronischen Texten.
Ein Beitrag aus der Praxis



Einleitende Bemerkungen

Als das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" online ging, unterschied er sich in Inhalt und Textlänge kaum von dem Print-Medium. Das Lesen der langen, komplexen Artikel war mühsam und es erschien angenehmer, die Texte in ausgedruckter Form zu lesen. Anders verhielt es sich bei FOCUS Online: Von Anfang an mit einer großen eigenständigen Redaktion ausgestattet, emanzipierte sich das Online- schnell vom Print-Magazin. Kurze Teasertexte, kurze Artikel, klar verständliche Linkstrukturen und, im Verhältnis zum Print-Medium, wenig Bild- oder Grafikmaterial – Downloadzeit sollte gespart werden. Der Vorsprung macht sich bis heute bemerkbar. Während Spiegel online im Dezember vergangenen Jahres 3.816.348 mal angeklickt wurde, verzeichnete FOCUS Online im gleichen Zeitraum 17.935.201 Besuche. (1)

Ein Teil des Erfolgs von Focus Online ist mit Sicherheit darauf zurückzuführen, daß man das Erscheinungsbild und die Präsentation des Inhalts an die spezifischen Eigenschaften des Medium Internet und damit des Medium Computer angepaßt hat.

Fotis Jannidis bemerkt in seinem Einführungsbeitrag zu dieser Diskussion:
Es gibt wohl keinen Grund, von den Eigenschaften des Mediums auf notwendige Eigenschaften der Edition zu schließen, vielmehr sind diese vom Verwendungszweck abhängig. (2)
Diese Aussage scheint diskutierenswert!

Das Beispiel FOCUS Online zeigt, daß eine Symbiose zwischen Text, Textedition und Medium erfolgversprechend ist. Die zentrale Frage dabei bleibt: Wird ein Text verfaßt und editiert, um ihn ausschließlich auf dem Bildschirm zu lesen? Oder entsteht ein Text unter der Maßgabe, über das Internet und den Computer editiert und in ausgedruckter Form rezipiert zu werden? Einen Text am Bildschirm zu lesen ist u.a. aus physiologischen Gründen mit mehr Anstrengungen verbunden, als ihn auf dem Papier ausgedruckt vor sich zu sehen. Muß sich nicht der Text und die Textedition an das Rezeptionsverhalten der Leser anpassen. Und stehen damit nicht zwangsläufig die Eigenschaften eines Mediums im Dienst der Lesbarkeit?

Aufgrund der technischen und visuellen Bedingungen des Computerbildschirms und bedingt durch die drei zentralen, auf die neuen Medien zutreffenden "Konvergenz-Thesen" (3), die
  • nicht-lineare Organisationsform neuer Medien
  • neue Rolle des Autors als Schnittstelle innerhalb eines Netzwerks
  • neue Macht des Lesers als Mitgestalter und aktiv Beteiligter
verändert sich das Rezeptionsverhalten – und damit der Anspruch an die Textedition im Internet gegenüber den klassischen Medien.

Ziel jeder Internetproduktion, jedes Online-Textes ist es, die Aufmerksamkeit des Leser zu gewinnen – eine Aufgabe, die im Internet schwieriger zu bewerkstelligen ist als bei allen anderen Medien. "Das ständige Klicken provoziert einen "nervösen Finger" beim Nutzer: Oft mag es nur eine Zehntelsekunde sein, die entscheidet, ob der Leser in der Präsentation bleibt oder auf eine andere Website springt." (4)

Aufgrund der besonderen Anforderungen des Bildschirmlesens und der damit verbundenen Fragestellung, wie ein elektronisch editierter Text aussehen muß, um am Bildschirm lesbar zu sein, verlangen die neuen Medien bestimmte Regeln, die von Herausgeber und Autor unbedingt eingehalten werden sollten. Nicht zuletzt stellen die zunehmend internet-geschulten User eine hohe Erwartungshaltung an den elektronischen Text.

Betrachtet man wissenschaftliche und journalistische Online-Texte unter dem Aspekt ihrer Lesbarkeit am Bildschirm, fällt auf, daß sich viele Beiträge und Artikel aufgrund von Länge, komplexen Satzkonstruktionen und verwirrenden Linkstrukturen kaum dazu eigenen, ausschließlich über den Bildschirm wahrgenommen zu werden. Wenige Ausnahmen, wie beispielsweise die erwähnten Beiträge in FOCUS Online, orientieren sich vorwiegend an empirischen Erfahrungswerten, aus denen sich allgemeingültige Regeln für einen Internet-Schreibstil ableiten lassen.

Der folgende Beitrag bietet eine Reihe praktischer Erkenntnisse, Fragestellungen und Stilregeln, die für den Autor einer Online-Textproduktion obligat sein sollten. Da es sich nur um eine Auswahl der wichtigsten Aspekte handelt, können diese gerne erweitert und diskutiert werden.

 

Inhalt

  1. Einstieg – grundsätzliche Fragestellungen
  2. Online-Text – stilistische Merkmale zur besseren Lesbarkeit
  3. Design – das Auge liest mit
  4. Hyperstruktur und Navigation
    – Übersicht versus Überangebot
  5. Linkverweise – Lesbarkeit und Logik
  6. Hypermedia –Mehrwert versus Ladezeiten
  7. Interaktivität – die neue Macht des Lesers

1. Einstieg – grundsätzliche Fragestellungen

Folgende Fragen / Problemstellungen stehen am Anfang jeder Online-Textproduktion im Vordergrund
  • Wie kann der User möglichst lang auf einer Site (5) gehalten werden?
  • Wie bringt man den User möglichst oft auf eine Site?
  • Welche Inhalte eignen sich dazu, eine virtuelle Gemeinschaft auf einer Site zu erzeugen?

Neben dem Design und einer benutzerfreundlichen Bedienung der Gesamtstruktur kommt dem Text bei der Lösung der o.g. Fragestellungen eine wesentliche Funktion zu. Im Folgenden werden für die Erstellung von Online-Texten eine Auswahl praxisrelevanter Kategorien unter dem Aspekt der Lesbarkeit definiert.

2. Online-Text – Stilelemente und Lesbarkeit (6)

  • Themeneinführung über kurze, prägnante Teasertexte à Einführende Textabschnitte (max. zwei Sätze), vergleichbar mit den halbfett-gedruckten Unterüberschriften in den Printmedien, "reißen" ein Thema an. Der Volltext erscheint nach einem weiterführenden site-internen Link.
  • Kurze Sätze à Allgemein wird eine Orientierung an der Nachrichtensprache im Radio oder am Satzbau in den Boulevardzeitungen empfohlen.
  • Kurze Absätze à Der Leser muß die Möglichkeit bekommen, schnell zwischen den Absätzen zu "springen" und unmittelbar auf den Kern der für ihn notwendigen Information zu gelangen.
  • Sichtbare, leicht verständliche Untergliederung des Textes à Absatzüberschriften, farblich hervorgehoben, helfen bei der Orientierung innerhalb des Textes.
  • Kurze Texte à Ein Artikel sollte nicht länger als eine "Bildschirmseite" sein; Scrollbalken sollten vermieden werden. Lösungsvorschläge für die Textkürzung:
    • Verlagerung eines Absatzes aus dem Hauptartikel in einen Linktext
    • Unterteilung des Textes in kleine Abschnitte, die mit Hilfe eines "Weiterbuttons" (Pfeil) innerhalb des Textfenster aufeinanderfolgen

3. Design – das Auge liest mit (7)

Beim Lesen von Bildschirmtexten treten folgende Grundprobleme auf:
  • Schnelle Augenermüdung durch grobe Pixelauflösung
  • Statische, unkomfortable Lesehaltung
  • Längere Lesedauer pro Texteinheit (25 % im Vergleich zu Printmedien)

Für ein benutzer- und lesefreundliches Design sind u.a. folgenden Aspekte zu beachten:

  • Einheitlichkeit von Typographie, Bildplazierung etc. innerhalb der Site
  • Kontrastierung von Schrift und Hintergrund (Schwarz auf Weiß)
  • Aufgelockerte, nicht gedrängte Text- und Bildplazierung
  • Beschränkung der Spaltenbreite zur besseren Lesbarkeit des Textes
  • Beschränkung auf wenige Farben
  • Sparsame Verwendung von "Eyecatchern" (Hervorhebungen durch animierte Anzeigen, alternative Schriftarten etc.)

à Vor Produktionsbeginn sollte ein sogenannter "screen scribble" erstellt werden: Eine Skizze zur geplanten Anordnung von Texten, Fotos oder Grafiken innerhalb der Site dient dem Redakteur als Vorgabe für die Länge seiner Texte.

4. Hyperstruktur und Navigation
– Übersicht versus Überangebot

  • Schaffung einer überschaubaren Grundstruktur à Versteht der Benutzer, wie die inhaltlichen Strukturen einer Site angelegt sind, erhöht sich die Bereitschaft, längerfristig auf der Site zu bleiben. Zur Orientierung empfiehlt sich das Anlegen eines grafischen Strukturbaums (Sitemap), der den Aufbau des Gesamtangebots übersichtlich darstellt
  • Benutzerorientierte Führung durch die Inhalte à Erfolgreiche Webmagazine teilen häufig die Seiten in 3 Spalten: Die Leserführung läuft von links [Navigationsleiste] über mitte [Themen / Inhalte] nach rechts [Specials]
  • Wahrung eines ausgewogenen Verhältnisses von Haupttext und Hypertextangeboten (Stichwort "readability") (8). Grundsätzlich sind zwei Linkstruktur-Prinzipien zu unterscheiden:
    • die vertikale Linkstruktur: Der Hauptartikel steht im Vordergrund, die Linkangeboten sind hierarchisch untergeordnet.
    • die horizontale Linkstruktur: Texte und zugehörige Linkangebote sind hierarchisch gleichwertig. Nachteil: Der User wird dazu verführt, den Haupttext frühzeitig zu verlassen und sich im Überangebot der anderen Texte zu verlieren.
  • Erreichbarkeit des gesamten Inhalts von jedem Punkt innerhalb der Navigationsstruktur (Stichwort "intuitives Navigieren") (9) à Mittels einer übergeordenten, auf allen Seiten präsenten Navigationsleiste mit den wichtigsten Inhalten vermag der Leser intuitiv zwischen den verschiedenen Inhalten zu wechseln.
  • Logische Rückführung auf Textausgangspunkte à Damit der Leser jederzeit auf eine vorhergehende Seite zurück navigieren kann, sollten innerhalb jeder Seite logisch angeordnete Backbuttons vorgesehen sein. Die Erfahrung zeigt, daß vor allem internet-unerfahrene User selten den in der Browser-Navigationsleiste implementierten Rück-Pfeil nutzen.
  • Vermeidung komplexer Vernetzungsstrukturen zugunsten einer "flachen" Informationshierarchie à Der User sollte mit möglichst wenig Klicks möglichst schnell auf den Kern der Information stoßen. Je häufiger er die Informationsebenen wechseln muß, desto eher verläßt er die Site.
  • Einrichtung gezielter Navigationshilfen à Zur Orientierung eignet sich eine auf allen Seiten installierte, inhaltlich und grafisch stets gleichbleibende Navigationleiste; weitere Hilfen: Sitemaps, site-interne Suchmaschinen oder geführte Touren (Guided Tours).

à Vor Beginn der Produktion sollte der Redakteur ein Storyboard anfertigen: Anhand eines skizzenhaften Aufrisses der Site wird die geplante Kombination verschiedener Hyper-Elemente dargestellt und erleichtert – dank des Drehbuch-Effekts – Programmierern und Designern die Fertigstellung der Webpage.

5. Linkverweise – Lesbarkeit und Logik

  • Beachtung benutzerfreundlicher Gestaltungsprinzipien. Linkverweise sollten
    • lesbar sein à Der User sollte die Linkangebote in das Gesamtkonzept der Site einordnen und sie logisch dem Inhalt zuordnen können.
    • erkennbar sein à Ein Link sollte optisch hervorgehoben werden, um als solcher identifiziert zu werden.
    • optisch unaufdringlich sein à In einer hierarchischen Linkstruktur sollten Linkverweise nicht vom Haupttext ablenken. Üblich sind Highlighting, Unterstreichungen, farbige Kennzeichnung. (Stichwort "legibility") (10)
  • Vermeidung eines Überangebots von Linkverweisen zugunsten des gezielten Einsatzes bei notwendigem Klärungsbedarf à Zu viele Links erhöhen nicht den Informationswert, sondern verwirren den User. Links sollten nur dann angeboten werden, wenn eine Information vertieft werden muß oder sich der Haupttext durch die Verlagerung eines Absatzes in einen Link sinnvoll verkürzen läßt.
  • Entscheidung zugunsten einer Linkverweis-Technik. Zu unterscheiden sind:
    • die "eingebettete" Linkanzeige: Auf der Seite mit dem Haupttext öffnet sich bei Klick auf den Link ein kleines Fenster (Frame) mit dem Linktext à der User bleibt auf der Seite.
    • die "ersetzende" Linkanzeige: Mit dem Link verläßt der Nutzer die bisher besuchte Webpage und befindet sich im Angebot einer anderen Site. Problem: Will der User wieder auf die Ausgangs-Homepage zurück, muß er häufig die URL neu eingeben
    • die "site-interne" Linkanzeige: Der Link führt auf eine andere Seite innerhalb der Webpage.
    • die "seiten-interne" Linkanzeige (Anker-Link): Der Leser bleibt auf der Seite, bewegt sich aber über den Link zu einer neuen Text- oder Informationseinheit

6. Hypermedia – Mehrwert versus Ladezeiten

Hinsichtlich des Angebots von Multimedia-Links sollte der Redakteur abwägen, an welcher Stelle deren Einsatz dem Leser einen informativen oder unterhaltenden Mehrwert verschafft. Der Redakteur hat die Wahl zwischen Ton, Video, animierten Fotos und Graphiken etc. Zu Berücksichtigen sind bei der Entscheidung die Länge der Downloadzeiten.

Im Vorfeld der Produktion sollte unbedingt geklärt werden, über welche technische Grundausstattung (Browsergeneration) und über welches technische Vermögen die Zielgruppe im Durchschnitt verfügt.

7. Interaktivität – die neue Macht des Lesers

Der Medientheoretiker Florian Rötzer (11) definiert Interaktion als
  1. Bereitstellung einer umfangreichen Palette an Informationen durch Schnittstellen
  2. Integration des Benutzers durch Rückkoppelung in das System, das möglichst individuell auf ihn reagiert

Tim Guay (12) führt in diesem Zusammenhang den Begriff der adaptiven Interaktion ein. Sie erlaubt es dem Leser, zugunsten der eigenen Bedürfnisse in den dargebotenen Inhalt einzugreifen und selbst Inhalte zu erzeugen. Der Leser wird bei dieser Form der Interaktion zum Mitgestalter und Autor. Aus Sicht Guays wird das Web-Potential erst dann maximal ausgeschöpft, wenn Hypertext, Multimedia und adaptive Interaktion zur "Hyperadaptivity" konvergieren.

In den klassischen Medien haben Autor und Redakteur die uneingeschränkte Kontrolle über die von ihnen zur Verfügung gestellten Inhalte. Im Internet vermischt sich durch die Bereitstellung interaktiver Funktionen die Autor-Leser-Rolle. Das hat unmittelbare Folgen für die Edition eines Textes. Der Autor sollte sich folgende Fragen stellen:
  • Wieviel Kontrolle über den Inhalt gibt er an den Leser ab?
  • Wie individuell reagiert der Inhalt auf den User?
  • Welche Feedback-Funktionen auf den Inhalt erhält (fordert) der Leser?
  • Welche funktionalen Interaktions-Plattformen (z.B. Text / Bild-Download, Newsgroups, Chats, Gästebücher etc.) stehen dem Leser zur Verfügung?

Anmerkungen
  1. entnommen PZ-online (Publikumszeitschriften im Verband Deutscher Zeitschriftenverleger). URL: http://www.pz-online.de/index.html (02.02.00)
  2. Fotis Jannidis: Bewertungskriterien für elektronische Editionen. Kap.2. In: IASL online. URL: http://iasl.uni-muenchen.de/ (22.01.00)
  3. Vgl. Jürgen Daiber: Literatur und Nichtlinearität: Ein Widerspruch in sich? In: Volker Deubel, Karl Eibl, Fotis Jannidis (Hrsg.): Jahrbuch für Computerphilologie. Paderborn 1999. S. 23.
  4. Klaus Meier (Hrsg.): Internet-Journalismus. Ein Leitfaden für ein neues Medium. Konstanz 1998. S. 29. (Reihe: Praktischer Journalismus, UVK Medien)
  5. Die Autorin definiert den Begriff "Site" als gesamte Webpräsentation und den Begriff "Seite" als einzelne Seite innerhalb der Webpräsentation
  6. Zum Thema "Lesbarkeit und Hypertext" vgl. Bernd Wingert: Die neue Lust am Lesen? Erfahrungen und Überlegungen zur Lesbarkeit von Hypertexten. In: Stefan Bollmann (Hrsg.): Kursbuch Neue Medien. Mannheim 1996. S. 112-118.
  7. Vgl. hierzu: Klaus Meier (Hrsg.): Internet-Journalismus, S. 66-73.
  8. Vgl. hierzu: Bernd Wingert: Die neue Lust am Lesen?, S.123.
  9. Zu den verschiedenen Navigationsformen vgl. u.a. Rainer Kuhlen: Hypertext: ein nicht-lineares Medium zwischen Buch und Wissensbank. Berlin 1991. S. 19-20.
  10. Vgl. hierzu: Bernd Wingert: Die neue Lust am Lesen?, S. 123.
  11. Vgl. hierzu: Florian Rötzer: Interaktion – das Ende herkömmlicher Massenmedien. In: Stefan Bollmann (Hrsg.): Kursbuch Neue Medien, S. 57-78.
  12. Vgl. Tim Guay: WEB Publishing Paradigms (April 1995). In: CPRost.Simon Fraser University. URL: http://hoshi.cic.sfu.ca/~guay/Paradigm/ (22.01.00).

Anja Gild (gild.mpm@t-online.de)
MPM - Medien Prisma München
Lohweg 11
85778 Haimhausen

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